Die Erde unter mir bebte. Ich schrak hoch. Es war stockduster um mich herum. Man sah nicht einmal die sprichwörtliche Hand vor Augen. Ich lauschte in die Dunkelheit. Nur die Atemgeräusche der Familie, sonst nichts. Sie schienen friedlich zu schlafen. Hatten sie das Beben nicht bemerkt? War ich die Einzige? Die Härchen auf meinen Armen standen wie Zinnsoldaten in Reih und Glied. Warnten vor einer drohenden Gefahr. Stirnrunzelnd drückte ich beide Handflächen auf den Boden. Nichts. Keine Erschütterung, kein Zittern. Hatte ich es mir nur eingebildet? Ein lausiger Traum? Eine Einbildung in einer fremden Umgebung? Auf allen vieren kroch ich zum Ausgang, schlug die Lederhaut zur Seite. Ich atmete die klare Luft tief ein, betrachtete dabei die Fläche vor unserer Behausung. Kühle Nachtluft strich mir zur Begrüßung über das Gesicht. Es wirkte alles so, wie wir es am Abend zurückgelassen hatten. Hinter mir ertönte ein leises Schnarchen; Samuel oder sein Vater. Ich grinste, dann kletterte ich nach draußen.
Das Mondlicht tauchte die Umgebung in ein silbriges Licht. Ein Rascheln drang an mein Ohr. Ich wagte es kaum, zu atmen. War da jemand? Oder nur eine weitere Einbildung? Ich holte tief Luft, drehte mich im Kreis und suchte die Ursache des Geräuschs. Eine Windböe wirbelte meine Haare durcheinander, fegte über das Gras. Es knisterte, es raschelte, wie von einem Lebewesen, das dicht am Boden zwischen den Halmen hindurch flitzte. Eine Maus? Ein Präriehund? Zumindest kein Bison. Die Herde hatte ich erfolgreich verscheucht, der Familie Arbeit erspart. Laut Samuel war es die Jahreszeit, in der die Fremden aufkreuzten, um die Büffel zu jagen. Seine anderen Worte kamen mir in den Sinn. Wieso war es notwendig, Mariella und mich vor ihnen zu verstecken? Waren sie so gefährlich? Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Ich rieb über sie, versuchte, sie zu wärmen.
Daheim war ich nie nachts nach draußen gegangen. Vater hatte es nicht erlaubt, denn es gehörte sich nicht für ein Mädchen, sich in der Dunkelheit herumzutreiben, und Mama hatte sich davor gefürchtet, dass mir etwas passierte. Dass die Gefahr auf dem Dachboden lauerte, damit hatte niemand gerechnet. Ich am allerwenigsten. Verflixter Spiegel. Wie viele Jahre lagen zwischen dem Tag, an dem ich verschwand, und der Zeit, in der ich mich jetzt aufhielt? Samuel und seine Familie verfügten kaum über Kenntnisse in Bezug auf die Erde und ihre Geschichte. Nur das Wenige von dieser seltsamen Scheibe und dem, was andere Menschen ihnen berichtet hatten. Einige Tagesritte entfernt lag eine größere Siedlung, zu der Mariella mit mir zu reisen gedachte.
Du wärst da eine Sensation!
Ich schnaubte leise. Auf diesem Planeten war ich den Aussagen nach die einzige Brünette. Wenn das stimmte, dann spielte die Genetik hier komplett verrückt. War die Haarfarbe blond nicht am Aussterben, weil die anderen Haartöne dominanter waren? Oder was hatte der Lehrer beim Biologieunterricht erzählt? Mein Blick wanderte wieder zurück zur Prärie. Ich richtete ihn auf den Hügel, über den ich zu dieser Familie gestolpert war. Obwohl der Mond hinter mir am Himmel stand, schien es dort heller zu werden, doch für den Sonnenaufgang war es zu früh. Ich runzelte die Stirn. In dieser Richtung vermutete ich den Spiegel. Womöglich hatten Mariella und Samuel nur gelogen und kannten sie den genauen Standort. Sollte ich vielleicht loslaufen, ihn suchen? Was, wenn das Licht von ihm stammte, er mich rief? War es meine Bestimmung, den Weg zurück nach Hause zu finden und einen Atomkrieg mit dem neuen Wissen zu verhindern? Ich war überzeugt davon, dass solch einer die Menschen von der Erde verscheucht hatte. Tief durchatmend schloss ich für einen Moment die Lider.
„Chumani! Was machst du mitten in der Nacht hier draußen?“ Samuel schlang beide Arme um meinen Körper, zog mich an seine Brust. „Es ist gefährlich, sich hier herumzutreiben. Lass uns reingehen. Du solltest noch ein wenig schlafen.“
Ich öffnete die Augen. Das seltsame Licht war verschwunden. Wieder nur eine Einbildung? Wieso gaukelte mir mein Gehirn etwas vor, das nicht existierte? War es der Wunsch, nach Hause zurückzukehren? Oder war ich zu verträumt für das Leben, wie Papa immer behauptete? Ich atmete tief durch. Ein Traum war dies hier nicht, obwohl es sich zwischendurch so anfühlte. Ich blinzelte einige Male, ein Gähnen entwich mir. Meine Beine zitterten vor Müdigkeit. Widerstandslos ließ ich mich von dem Mann zum Eingang der Hütte führen.
„Du kannst gerne neben mir liegen, wenn du dich dann sicherer fühlst“, bot er mit seiner dunklen Stimme an. Ich zuckte zusammen. Erwartete er von einer Siebzehnjährigen, dass sie ihm in die Arme sprang? Wir waren hier nicht im Wilden Westen, wo es für Mädchen in meinem Alter normal war, zu heiraten. Doch das sagte ich ihm nicht.
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“ Mit zitternden Händen zog ich das Leder zur Seite, trat gebückt ins Innere. Samuel verharrte draußen einen Augenblick, starrte hinaus auf die Prärie. Seine Körperhaltung wirkte im Mondlicht steif, dann schüttelte er den Kopf und folgte mir nach drinnen.
Am nächsten Morgen durchstöberte ich zusammen mit Mariella das Tal, in dem tags zuvor die Bisons gegrast hatten; Büffeldung sammeln. Schöne Scheiße. Doch getrocknet war sie laut der Aussage meiner Begleiterin ein ausgezeichnetes Brennmaterial.
„Mist.“ Mariella duckte sich ins hohe Präriegras, zog mich in einer geschmeidigen Bewegung mit sich. Ich dagegen taumelte, fing meinen Fall mit den Händen ab.
„Verflixt“, zischte ich, handelte mir einen mahnenden Blick ein. Das Blut, das langsam aus der neuen Schnittwunde hervorquoll, wischte ich geistesabwesend an der Kleidung ab. Die Wunde brannte und ich unterdrückte einen Schmerzenslaut. Etwas hatte das Misstrauen des blonden Mädchens geweckt. Nur was? Ich lauschte angestrengt, spähte durch die Grashalme in die Richtung, in die es starrte. Der Wind wehte tiefe Stimmen zu uns. Männer, die sich in einer unbekannten Sprache unterhielten. Fremd, doch gleichzeitig vertraut klingend. Waren das die Jäger? Hatten sie in der Nacht das Leuchten über der Prärie verursacht? Wieso hatte ich den Mund gehalten, niemandem davon erzählt?
Weil Papa in so einem Fall gesagt hätte, dass ich es mir nur einbilde.
Ich schloss für einen Augenblick die Lider. Die Geräusche näherten sich. Die Männer liefen durch das Gras. Schweiß brach mir aus, rann in kleinen Bächlein meinen Nacken hinab. Was, wenn sie uns entdeckten? Grundlos hatte Samuel nicht vor ihnen gewarnt. Ich riss die Augen auf, schaute zu Mariella, die trotz der Hitze leicht zitterte. Jäger waren Fährtensucher. Das bedeutete doch nicht etwa? Ich knabberte auf meiner Unterlippe. Die Bisons hatten einen Großteil der Fläche abgegrast und plattgetrampelt. Spuren waren dort kaum sichtbar, so hoffte ich. Das höhere Gras an den Seiten, durch das wir unvorsichtigerweise gestromert waren, gab dagegen den Weg und damit unser Versteck preis. Blieben wir hier hocken, fanden die Fremden uns bald.
Die Sonne brannte auf uns nieder, während ich mir das Gehirn zermarterte. Lenkte ich die Männer ab, hatte Mariella eine Chance, unentdeckt zu bleiben. Wäre es nicht viel grausamer, risse man sie aus ihrer Familie, als wenn sie nur mich mitnahmen? Sie kannte das Leben auf diesem Planeten, war hier aufgewachsen und wurde von Menschen geliebt. Ich schluckte den Kloß im Hals runter, dachte über weitere Möglichkeiten nach. Die Jäger kamen unaufhaltsam näher. Hatte ich eine Wahl? Wäre das Mädchen meine Schwester, würde ich sie beschützen, selbst wenn ich mein Leben in Gefahr brachte. Ich atmete tief durch, streckte den Arm aus und drückte ihre Schulter. Aufmunternd, mit einem erzwungenen Lächeln schaute ich zu ihr. Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, nickte dann verstehend.
Ich sprang auf, rannte ohne zu zögern in einem großen Bogen weg. Hoffentlich folgten sie mir, statt unser vorheriges Versteck unter die Lupe zu nehmen. Aufgeregte Rufe erklangen hinter mir. Ein schneller Blick über die Schulter bestätigte meine Vermutung, dass sie die Verfolgung aufnahmen. Es waren drei hochgewachsene Männer in einer Montur, die mich an Motorradkleidung erinnerte. Welcher vernünftige Mensch lief in dieser Hitze in dunklen Klamotten mit einem Helm auf dem Kopf herum? Bekamen die darunter keinen Sonnenstich? Ich sprintete weiter, froh über die herausragende Ausdauer vom Leichtathletiktraining. Unter anderen Umständen gefiele mir die Möglichkeit, auf unebenem Terrain zu laufen statt im Kreis auf einer Tartanbahn. Der Weg, eine unendliche Laufbahn zwischen den Erhebungen zu jeder Seite, zog sich wie ein altes Flussbett dahin. War dies das Bett eines ausgetrockneten, zugewachsenen Flusses? Mein Herz hämmerte unter den Rippen, verärgert über das Tempo, auf das es nicht vorbereitet war. Ich schnappte nach Atem, legte eine Hand auf die Stelle, die sich schmerzhaft zusammenzog. Seitenstiche. Wie lange hielt ich diese Geschwindigkeit aus? Die Verfolger ließen nicht von mir ab. Zwei waren etwas zurückgefallen, doch der Vorderste holte stetig auf. Wohin? Ich bemerkte in einiger Entfernung eine Ansammlung größerer Felsbrocken. Aufeinander und aneinander gestapelt wie riesige Würfel bei einem Spiel mit dem Würfelbecher. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. War dort eine Lücke? Geräumig genug für ein Versteck? Ich änderte den Kurs, hechtete auf die Stelle zu. Nur noch ein kleines Stück, dann war ich in Sicherheit.
Etwas surrte durch die Luft, wickelte sich im vollen Lauf um meine Fußgelenke. Ein Ruck, ich strauchelte, landete flach auf dem Bauch. Mit der Stirn schlug ich auf dem Gras auf. Staub wirbelte auf. Der Fall presste sämtliche Atemluft aus meinen Lungen, die sich vom Sprint schmerzhaft zusammenzogen. Kleine Sterne tanzten vor mir herum, bedroht von einer Schwärze, die ihren Kreis verengte. Benommen blieb ich liegen. Ein Schatten fiel auf mich. Jemand setzte sich auf meinen Hintern, packte meine Arme und fesselte sie hinter meinem Rücken. Ein kurzer stechender Schmerz im Nacken. Das Gewicht verschwand. Undeutliches Gemurmel. Ein Zischen, wie von unter Druck gehaltener Luft, die entwich. Etwas plumpste ins Gras. Ich wandte den Kopf, meine Sicht klärte sich quälend langsam. Ein schwarzer Helm. Ich quälte mich auf die Seite. Die Sonne blendete, erschwerte es mir, den Mann anzusehen. Ein penetrantes Piepen drang an mein Ohr, wie von einem Computer, der mit einem Test fertig war. Der Fremde atmete scharf ein.
„Du kommst mal besser mit uns mit“, brummte er, als er sich zu mir beugte. Mühelos hob er mich hoch, warf mich wie einen Mehlsack auf seine Schulter. Ich keuchte auf, als sie sich in meinen Bauch bohrte. Der Mann stapfte unbeeindruckt weiter, den Weg zurück, den wir gerannt waren. Ich neigte den Kopf, sah seinen langen geflochtenen Zopf, der sich wie eine schwarze Schlange auf seinem Rücken schlängelte. Tränen rannen mir über das Gesicht. Was hatte ich nur getan? Ein Zittern lief unaufhaltsam durch meinen Körper, ich schluchzte auf.
„Keine Angst, ich tue dir nichts.“ Der Fremde verstärkte den Griff, damit ich nicht von seiner Schulter rutschte. „Wir werden schon herausfinden, woher du stammst“, versicherte er mir mit einer angenehm tiefen Stimme. „Von diesem Planeten jedenfalls nicht, daher werde ich dich nicht bei diesen Tölpeln zurücklassen.“ Mein Atem stockte abermals. Woher wusste er, dass ich nicht hierhergehörte?