Je näher wir der großen Tür kamen, hinter der uns Tokalahs Clanoberhaupt erwartete, desto sehnlichster wünschte ich mich weit fort von hier. Es weckte üble Erinnerungen an einen furchtbaren Abend. Vor etwa einem Jahr hatte ich meine Eltern auf ein Geschäftsessen von Papa begleitet. Die strenge Miene seines Geschäftspartners, die abwertenden Blicke, wenn ich mich nicht nach den Regeln der Netiquette verhielt. Was auch immer er da erwartet hatte. Ein Mann, der es gewöhnt war, dass ihm alle gehorchten. Laut Mama ein Unternehmer mit zehntausend Angestellten. Ich seufzte leise. Klein und unnütz hatte ich mich in seiner Gegenwart gefühlt und später, als Vater mich obendrein für mein Verhalten zur Schnecke machte, ebenfalls. Seit dem Abend hatte er jede Gelegenheit genutzt, auf Schwachpunkte hinzuweisen und mir zu erzählen, dass ich ohne einen Ehemann niemals bestehen würde. Instinktiv zog ich den Kopf ein.
Was, wenn das Oberhaupt ebenso streng war? Ich stellte mir vor, wie hundert Wachen Spalier standen, den Pfad zu ihrem Anführer bewachten. Ein prunkvoller Thron, Waffen. Wie in einem Ritterfilm. Ich atmete scharf ein. Nein, ich wollte nicht hineingehen, mich einem Urteil unterwerfen.
„Du brauchst keine Angst zu haben.“ Tokalah blieb stehen, hielt mich an der Schulter fest. War Angst der richtige Begriff? Meine Unterlippe zitterte, mein Blick glitt ruhelos zu unserem Ziel und wieder zurück zu dem Mann vor mir. „Darf ich?“ Er hob einen Arm, streifte mit den Fingern fast meine Haare. Verhalten nickte ich. Sanft berührte er meinen Nacken. Mit der anderen Hand fasste er meine Hüfte fest. Stocksteif hielt ich still, wagte es kaum, zu atmen. Was hatte er vor?
„Entspanne dich, niemand tut dir hier etwas.“ Mit den Fingerspitzen massierte er so vorsichtig, als ob ich durch zu viel Druck zerbrechen würde, vom Haaransatz hinunter zu den Schultern, dann wieder hinauf. „Atme tief ein, lass alle störenden Gefühle aus deinem Körper abfließen.“ Ich überbrückte mit einem Schritt den letzten Abstand zwischen uns, lehnte meine Stirn an seiner Brust an. Wieso vertraute ich ihm so, obwohl ich ihn nicht kannte? Bei Samuel hatte ich vorsichtig reagiert. Tokalah hatte ich dagegen gern in meiner Nähe. Dabei war er es, der mich gefesselt und verschleppt hatte.
„Geht es wieder?“ Was hatte der Kerl doch für eine angenehme Stimme. Statt ihm zu antworten, verharrte ich in dieser Position. „Wenn meine Mutter uns so sieht, bekomme ich Ärger“, murmelte er in meine Haare. Verwirrt schaute ich hoch, wartete darauf, dass er weitersprach. Er zuckte mit den Schultern. „Es gehört sich für einen Mann nicht, sich einer Frau so zu nähern, wenn er nicht um sie wirbt. Und selbst dann darf man einander kaum berühren.“
„Wieso tust du es dann bei mir?“
„Ich fühle mich schuldig, weil ich dich einfach so mitgenommen habe. Du wurdest zuvor bereits aus deiner Welt gerissen, von allem, was du kanntest. Von den Personen, die du liebst. Da war mein Vorgehen nicht unbedingt sensibel.“ Er seufzte tief, wandte den Blick ab. „Ich möchte es daher für dich auf dem Raumschiff so angenehm wie möglich gestalten. Wenn dich etwas stört, dann sage es mir bitte.“
„Ist schon in Ordnung.“ Ich schielte zur Tür, die sich just in dem Moment leise zischend öffnete. Tokalah ließ mich abrupt los, drehte sich um.
„Komm, wir sollten sie nicht länger warten lassen.“ Er lief los, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich presste die Lippen aufeinander und folgte ihm, unterdrückte die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten. Wieso hatte ich auch gehofft, dass er mich hineinführt? Nach dem ersten Schritt in den Raum hinein, bleib Tokalah stehen und schaute erwartungsvoll zu mir. Ich heftete den Blick auf ihn, nicht auf den Innenraum und was uns dort erwartete. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Seine sanften dunklen Augen gaben mir Mut. Bei ihm angekommen, ergriff ich seine Hand, verschränkte meine Finger mit seinen. Der leichte Druck und die Wärme spendeten mir Kraft. Ich atmete tief durch, wagte einen Blick auf die Einrichtung. Keine prunkvollen Möbel, kein Thron und keine Wachen erwarteten uns. Nur eine ältere Frau, die inmitten einiger bunter Kissen auf dem tiefschwarzen Boden saß. Tokalah führte mich zu ihr.
„Großmutter.“ Er neigte zur Begrüßung den Kopf. Ich ahmte es nach. War dies seine Oma oder war es die Anrede, die alle auf dem Schiff für sie verwendeten? Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, sprach keinen Ton.
„Enkel,“ begann sie in einem strengen Tonfall, „dein Verhalten enttäuscht mich.“ Ruckartig ließ er meine Hand los, trat schnell einen Schritt zur Seite. Ich schluckte schwer, warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sein Gesicht war wie erstarrt, nicht das leiseste Muskelzucken verriet, was er in diesem Moment dachte oder fühlte. Meinetwegen bekam er Ärger. Nur weil ich mich an ihm festgehalten hatte. Wieso machte ich nur immer alles falsch?
„Es tut mir leid, Großmutter. Ich wollte Chumani damit nur zeigen, dass sie hier sicher ist.“ Tokalah senkte das Kinn unter dem prüfenden Blick der alten Frau, die nun von ihm zu mir sah.
„Das meinte ich nicht“, wischte sie seine Entschuldigung wirsch weg. „Sieh dir das arme Mädchen doch an. Du hast ihr nicht einmal die Zeit gegeben, sich aufzufrischen und umzuziehen. Hast sie stattdessen durch das Raumschiff gezerrt. Wo hast du dich überhaupt herumgetrieben?“ Ich atmete tief durch, fasste allen Mut zusammen, wie in den Momenten, in denen Papa mit den drei kleinen Teufeln geschimpft hatte und ich den Ärger auf mich nahm, um sie zu beschützen.
„Es ist meine Schuld.“ Meine Stimme kaum mehr als ein Hauch. Ich schloss kurz die Augen, bevor ich mutiger, lauter weitersprach. „Ich wollte gern etwas über die Erde erfahren. Deshalb hat Tokalah mich mit zur Bibliothek genommen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er Blickkontakt zu mir aufzunehmen versuchte.
„Es ist lobenswert von dir, mein Kind, dass du meinen Enkel schützen willst.“ Ihre Miene entspannte, ihre Züge wurden weicher. „Doch ich kenne ihn zu genau, um zu wissen, dass es einzig seine Idee war. Dennoch schätze ich es, dass du dich an unserer Geschichte interessiert zeigst. Meine Tochter hat mir von dem Ergebnis des Bluttests berichtet.“ Sie verstummte, sah hoch an die metallene Decke, als ob sie Rat oder eine Antwort auf eine stumme Frage suchte. „Ich glaube, es ist besser, wenn du mit ihr über das Resultat sprichst. Doch erst möchte ich mich mit dir unterhalten. Setze dich bitte.“ Sie wies auf den kissenbedeckten Boden. Hilfesuchend schaute ich zu Tokalah, auf dessen Lippen sich ein Lächeln schlich. „Mein Enkel, du kannst jetzt gehen. Lass bitte das Quartier neben deinem herrichten.“ Er riss die Augen weit auf, runzelte die Stirn. Dann nickte er mit noch immer leicht geöffnetem Mund und ließ mich mit seiner Großmutter allein. Ich wischte die feuchten Handflächen an meiner Kleidung ab.
„Nun setze dich schon, Mädchen.“ Sie wies abermals auf die Kissen. „Oder hast du etwa Angst vor einer alten Frau wie mir?“ Ich schüttelte den Kopf, setzte mich ihr still gegenüber. „Nun erzähle mir, wie es dich hierher verschlagen hat.“
„Das glaubt mir eh keiner“, murmelte ich. Statt mit dem Bericht anzufangen, betrachtete ich Tokalahs Großmutter seelenruhig. Papa hätte mich dafür wieder gescholten, doch er war weit weg. So wie der Rest meiner Familie. Ich würde sie nie wiedersehen. Ein Kloß schnürte mir schmerzhaft die Kehle zu. Schnell verscheuchte ich jeglichen Gedanken an sie, konzentrierte mich wieder auf die Frau vor mir. Unzählige Fältchen um die sanften dunklen Augen zeugten von ihrer freundlichen Art. kein verbissener Gesichtsausdruck wie bei den Geschäftspartnern meines Vaters, wie bei ihm. Das Lächeln, mit dem sie mich bedachte, rief in mir die Erinnerung an ihren Enkel wach. Wie gern hätte ich ihn jetzt bei mir. Ich reckte den Kopf zum Ausgang, schaute sehnsüchtig in die Richtung, in die er verschwunden war. Kein Tadel folgte auf mein Schweigen, nur Stille, die mir nicht unangenehm war. Sie beruhigte eher die Unruhe, die meinen Körper zum Zittern brachte. Das Clanoberhaupt der Lakota hetzte mich nicht zu einer Antwort, gab mir stattdessen alle Zeit, die ich benötigte. Hier war ich sicher, so wie Tokalah es versprach.
Ich gab mir einen Ruck, fing an zu erzählen. Vom geplanten Umzug, dem Leerräumen meines Zuhauses, dem Spiegel auf dem Dachboden. Aus der Erinnerung heraus beschrieb ich jedes Detail, das mir zu ihm einfiel. Er hatte mir alles eingebrockt, davon war ich tief im Innern überzeugt. Die Frau hörte still zu. Fast regungslos saß sie da, lauschte der Erzählung. Bei der Beschreibung des Standspiegels zuckte sie kurz zusammen, ihre Augenlider flatterten. Sie glaubte mir nicht, doch ich erzählte weiter. Einmal alles loswerden, ohne unterbrochen zu werden. Die Last wich von meinen Schultern, ich holte tiefer Atem als zuvor.
„Interessant.“ Tokalahs Großmutter strich sich über das Kinn, nachdem ich meine Geschichte beendet hatte. „Ich danke dir vielmals für dein Vertrauen. Diese Informationen helfen uns bei einer schwierigen Angelegenheit weiter. Doch damit möchte ich dich nicht belasten.“ Sie wies zur Tür. „Gehe dich erst einmal frischmachen, mein Kind. Ich werde überlegen, wie wir dir helfen können.“ Ich stand ungelenk auf, mein Herz pochte schnell in meiner Brust. Das Clanoberhaupt glaubte mir, zweifelte die Erzählung nicht an?
„Danke“, stammelte ich, wankte zum Ausgang. Wie Wackelpudding zitterten meine Beine. Wo steckte Tokalah, wenn ich seine Hilfe benötigte? Papas Worte, wie schwach und hilflos ich ohne einen Ehemann wäre, kamen mir in den Sinn. Ich presste die Kiefer aufeinander, streckte meinen Rücken. Er war nicht hier, um mich zu bevormunden, mich kleinzuhalten. Ich war weder auf ihn noch auf einen Ehepartner angewiesen. Das würde ich ihm beweisen, falls ich je dazu die Gelegenheit bekäme. Mutiger, selbstsicherer trat ich hinaus auf den Gang. Die Ärztin, Tokalahs Mutter näherte sich mit eiligen Schritten. Sie nickte mir kurz zu, wechselte dann einige Worte in ihrer Muttersprache mit der alten Frau. Andächtig hörte ich zu. Wie aufwendig es wohl war, die Sprache zu lernen? Verwirrt über die Idee schüttelte ich den Kopf. Wozu sollte jemand sie mir beibringen? Womöglich gab es einen Weg zurück. Ich ließ das Gespräch in Gedanken Revue passieren. Der Spiegel hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit des Clanoberhaupts auf sich gezogen. Die Großmutter ahnte etwas, aber teilte es mir nicht mit. Ich lächelte versonnen. Sie verschwieg es bestimmt, um keine Hoffnungen zu wecken, solange sie nicht mit Sicherheit wusste, wie sie mir half. Die Hilfsbereitschaft war unter diesen Menschen enorm. Zum Glück hatte Tokalah mich mitgenommen, nicht bei Samuel und dessen Familie zurückgelassen. Hier waren meine Chancen auf Hilfe größer. Wenn mir jetzt noch jemand den Weg zu einer Dusche zeigte, war ich vollends zufrieden.