Zugegeben, er hatte noch nie etwas anderes gesehen als die mit Trauben und Kräutern dekorierte Auslage hinter der Plexiglasscheibe. Es war im Grunde auch nicht besonders beruhigend, den ganzen Tag da zu liegen und zu beobachten, wie einer nach dem anderen in Scheiben geschnitten wurde von dieser grässlichen Maschine, die meistens von eher korpulenten Frauen bedient wurde, oder aber von grummelnden Männern, die dann mit Plastik ihren Schnurrbart bedeckten.
Es gab auch fast nie einen Tag, an dem keiner seiner Freunde weinte angesichts der Ängste und Qualen, die von den Wesen hinter der Plexiglasscheibe ausgingen. Jeder von ihnen konnte der Nächste sein.
An diesem Tag hatte es bereits den freundlichen Herrn aus Edam erwischt, und die viel zu schnell gealterte Dame aus Gouda konnte ihrem Schicksal so gerade noch entgehen, indem sie begann, herzzerreißend zu weinen und das Wesen hinter der Plexiglasscheibe sich dann doch gegen die ehrwürdige Dame entschied, da eindeutig zu viel Schwitzwasser (ja, so nannten diese Wesen die Absonderungen ihrer Todesangst) auf ihr schwömme.
Doch der freudlose Blauschimmelkäse konnte all die Sorgen und Ängste seiner Freunde nicht verstehen. Wie froh wäre er, wenn eines der Wesen hinter der Plexiglasscheibe ihn endlich beachten würde! Er konnte doch nichts für sein Äußeres! Auf die inneren Werte achteten sie nie, diese oberflächlichen, martialischen Wesen, nach deren Aufmerksamkeit er sich so sehr sehnte. Einmal (das würde er nie vergessen) hatte eines dieser Wesen im Miniaturformat mit einem dreckigen Stummelfinger auf ihn gezeigt und laut geschrien: „Mama, Mama! Der Käse da sieht aus wie die Kotze vom Baby!“ Das große Wesen hatte das kleine Wesen zwar für seine Aussage gerügt, doch der freudlose Blauschimmelkäse vergaß seine Worte nie. Man hatte ihn schon oft beschimpft. Schimmelig, alt, runzlig und auch ekelerregend wurde er schon genannt. Aber noch nie hatte ihn jemand mit Kotze verglichen. An diesem Tag beschloss er schweren Herzens, sich aus dem aktiven Plexiglasscheibenleben zurückzuziehen. Sein Leben hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Nie wieder würde er sich in den Vordergrund drängeln, in der trügerischen Hoffnung, jemand würde ihn, den verschmähten Blauschimmelkäse, vielleicht doch beachten.
Und so hockte er ganz hinten, in der letzten Reihe, als sich erneut eines dieser Wesen, diesmal ein großes, bärtiges, der Plexiglasscheibe näherte und milde interessiert den freudlosen Blauschimmelkäse und seine Freunde begutachtete.
„Was darf es denn sein?“
„Den da hinten bitte.“
„Geschnitten oder am Stück?“
„Am Stück.“
Der Glückliche, dachte der freudlose Blauschimmelkäse. Dann wurde er plötzlich von dicken Fingern emporgehoben und er staunte, als seine Freunde ihm zujubelten, weil er es endlich geschafft hatte. Ungläubig blickte er zu ihnen hinunter und hätte er grinsen können, hätten seine Mundwinkel vom linken bis zum rechten Rand gereicht.
„Du hast es endlich geschafft!“
„Viel Spaß auf der anderen Seite!“
„Und sogar die Monstermaschine hast du umgangen!“
„Herzlichen Glückwunsch!“
Er konnte es noch immer nicht glauben, als die Thekenfrau ihn etwas unsanft in eine Tüte stopfte und dem großen, bärtigen Wesen reichte.
„Vielen Dank, meine Freunde“, rief der nun gar nicht mehr freudlose Blauschimmelkäse und wünschte sich, er hätte einen Arm, mit dem er seinen Freunden zuwinken könnte. „Es war mir eine große Ehre, euch kennen zu lernen. Ich bin mir sicher, eines Tages sehen wir uns in irgendeinem fernen Abflussrohr wieder!“
Er warf einen letzten, seligen Blick zurück (schließlich befand er sich nun auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe, ein ergreifender Moment), und sah noch, wie das große, bärtige Wesen ihn mit einem Leuchten in den Augen betrachtete, dann landete er neben einer Packung schwarz-rot-goldener Tortellini in einem großen, metallischen Gefährt und freute sich auf sein neues Leben in Freiheit.