Zögernd trat Gwenfrewi aus der Tür auf den Burghof und sah ihrem Vater entgegen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, ihr persönlich das Pferd zu bringen. Ihre Begleiter - zwei Ritter und zehn berittene Soldaten, die König Konrad ihr geschickt hatte - waren bereits aufgesessen. Gwen konnte es ihrem Vater ansehen, dass er seine Überraschung über diese unerwartete Geste des Königs noch immer nicht vollständig überwunden hatte. Die Ritter waren am Vorabend eingetroffen, mit einem vom Konrad gesiegelten Empfehlungsschreiben, das ihren Auftrag bestätigte. Sie hätten, so erklärten sie, mit Leib und Leben dafür zu bürgen, dass die Braut unversehrt auf der Burg ihres zukünftigen Gemahls ankam.
Gwenfrewi war aus allen Wolken gefallen, beim Anblick der offensichtlich kampferprobten Krieger. Doch an der Abendtafel hatten sich Enzio Chiaramonte und Carlo Filangieri als angenehme Gesellschafter erwiesen, die interessant zu plaudern wussten und ihre Wachsamkeit einlullten. Bis sie auf dem Boden ihres Weinbechers eine Münze mit dem Erkennungszeichen der Geheimorganisation des Königs gefunden hatte. Seitdem war alles anders.
Gwenfrewi warf einen schnellen Blick zu Berta hinüber, die neben dem Kutscher auf dem Gepäckwagen Platz genommen hatte. Ihre Zofe schien sich mit der neuen Situation arrangiert zu haben und nickte ihr aufmunternd zu. Doch Gwen fühlte sich alles andere als zuversichtlich. Die Botschaft, die Enzio ihr zugesteckt hatte, kam direkt aus der königlichen Kanzlei und beschrieb ihren neuen Auftrag, mit dem sie beginnen sollte, sobald sie in ihrer neuen Heimat eingetroffen war. Sie atmete einmal tief durch. Wie sehr sie darauf gehofft hatte, durch ihre Heirat die ungeliebte Verpflichtung endlich loszuwerden. Doch weit gefehlt. Jetzt wusste sie nicht mehr, was für das flaue Gefühl verantwortlich war, das sich so beharrlich in ihrem Magen eingenistet hatte: Der Abschied von ihrem Zuhause oder die undankbare Aufgabe, die ihr der König aufgebürdet hatte.
Gwen trat zu ihrem Vater und umarmte ihn. Für einem Moment gestattete sie sich, dem Schmerz über die Trennung von Brenneberg und ihrem Vater nachzugeben, kniff die Augen zusammen und presste ihr Gesicht an seine Brust.
»Lebt wohl, Herr Vater.«
Brenneberg musste sich räuspern. »Leb wohl, Kind. Denk an alles, was du von deiner Mutter gelernt hast, und mach mir Ehre.« Er legte die Hände auf ihre Wangen, hob ihr Gesicht und sah ihr in die Augen. »Achte vor allem darauf, deinem Gemahl nicht zu viele Niederlagen beim Schach beizubringen«, mahnte er mit einem Augenzwinkern. Dann küsste er ihr die Stirn, ließ sie beinahe abrupt los und wandte sich ihrem Pferd zu, um ihr in den Sattel zu helfen.
Konrads Ritter nahmen sie in die Mitte, setzen sich an die Spitze des Zuges und führten ihn aus dem Tor. Gwenfrewi gelang es eine Weile, sich zusammenzunehmen. Doch als sie die der Burg gegenüberliegende Hügelkuppe erklommen hatten, wurde die Versuchung, zurückzuschauen einfach zu gewaltig, um ihr zu widerstehen. Gwenfrewi wusste, dass es die letzte Gelegenheit war, die Burg zu sehen, bevor die Straße die Richtung änderte. Also wandte sie den Kopf und ließ einen langen Blick über Burg und Weinberge schweifen, ehe sie Richtung Rheinufer hügelabwärts ritten. Enzio schien zu spüren, dass sie ein wenig Ablenkung gebrauchen konnte, und verwickelte sie in ein Gespräch über die vor ihnen liegende Wegstrecke. Er würzte seine Erzählung mit Anekdoten über das Leben bei Hofe und brachte sie so das ein oder andere Mal zum Schmunzeln.
»Sagt, Herr Enzio, was könnt Ihr mir über den Mann erzählen, den der König mir zum Gemahl bestimmt hat?«
»Richard von Glouburg? Nicht sehr viel, fürchte ich. Er erscheint selten bei Hofe. Ich kenne ihn kaum.«
»Wie bedauerlich. Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir ein wenig mehr liefern, als die dürren Fakten, die mein Vater für mich hatte. Ich kenne nicht einmal das Alter des Mannes.«
»Um die fünfundzwanzig schätze ich«, sagte Enzio. »Was meinst du, Carlo?«
»Kann hinkommen. Ich bin ihm einmal bei einem Bankett begegnet. Sein Platz war direkt unterhalb der hohen Tafel. Mir schein, König Konrad hält große Stücke auf ihn.«
»Ja«, murmelte Gwenfrewi einsilbig. »Das ist wohl wahr.«
»Seine Tischmanieren sind höfisch und sein Geschmack in Kleiderfragen exquisit«, fuhr Carlo fort. »Obendrein sagt man ihm nach, ein ausgezeichneter Schwertkämpfer zu sein. Das sind allesamt löbliche Eigenschaften, möchte ich meinen.«
Gwenfrewi fand, dass diese Beschreibung genauso nichtssagend war, wie alles, was sie bisher über Richard von Glouburg gehört hatte. Aber das äußerte sie besser nicht laut.
Enzio drehte sich im Sattel halb zu ihr herum. »Nehmt es mir nicht übel, Fräulein«, sagte er, »aber Ihr macht mir keinen sehr glücklichen Eindruck.«
»Das täuscht«, antwortete Gwenfrewi hastig und mit einem dünnen Lächeln. »Es sind nur all die neuen ... Umstände. Ich muss mich erst darin zurechtfinden.«
»Gebt Euch keine Mühe«, bemerkte Enzio grinsend. »Im Moment scheint im ganzen Land keine Frau zu existieren, die nicht insgeheim von einem galanten Helden wie Gandar von Rodéna träumt. Dagegen kann ein gewöhnlicher Mann einfach nicht ankommen, hab ich recht?«
»Nun ja, für eine junge Braut wäre es sicherlich ein erfreulicher Gedanke, einen solchen Ehemann zu bekommen«, bekannte Gwen. »Kennt einer der Herren diesen Rodéna persönlich?«
»Ich kenne ihn«, bestätigte Carlo zu ihrer Verblüffung. »Gandar ist der Ziehsohn des verstorbenen Herzogs von Rodi. Ich hatte die Ehre, an seiner Seite in Federicos Heer zu dienen. Ein außergewöhnlicher Mann, dessen Führung man sich gerne anvertraut.«
»Ist es wahr, dass er einen Ungläubigen zum Freund und Waffenbruder hat?«, fragte Enzio.
Carlo nickte. »Ahmad ibn Asher Halewi. Mach besser nie den Fehler den Mann respektlos zu behandeln, Enzio. Sonst lernst du unversehens Gandars Stachelpelz kennen. Und das kann ziemlich ungemütlich werden, sage ich dir. Freunde sind ihm heilig.«
Enzio lachte in sich hinein. »Dann war es wohl der Stachelpelz, den dieser Vetter des Herzogs von Burgund zu spüren bekommen hat.«
»Oh ja. Es gibt zwei Arte von Menschen, die Gandar auf den Tod nicht ausstehen kann: Feiglinge und Verräter.«
Gwenfrewis Hände krampften sich um den Sattelknauf. Ihr Herz klopfte plötzlich so stark, dass es ihr fast den Atem nahm. War ihr Treffen im Wald gar nicht so zufällig gewesen, wie sie gedacht hatte? War er ihr bewusst gefolgt? Nein, korrigierte sie sich in Gedanken. Das war unmöglich, denn er kannte die Pfade nicht, die sie benutzt hatte. Es musste einfach ein Zufall gewesen sein.
»Herrin?«
Gwenfrewi schrak zusammen, als eine Stimme in ihre Gedanken drang. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass Enzio ihr eine Frage gestellt hatte. Mühsam riss sie ihre Gedanken von Gandar los und drehte Enzio das Gesicht zu.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Ritter besorgt. »Ihr seid auf einmal so blass geworden.«
»Mir geht es gut, danke. Es ist nur die Aufregung. Das legt sich sicher bald.«
Ihre Antwort schien Enzio zufriedenzustellen, denn er wandte seinen Blick wieder der Straße zu. Gwen dagegen konzentrierte all ihre Gedanken auf den Hufschlag ihres Pferdes, machte seinen Rhythmus zum Taktgeber einer langen Zahlenreihe, die sie tonlos aufsagte, damit sie nur ja nicht in Versuchung kam, an Gandars Küsse zu denken.