Kapitel 2
Sonnenlicht
Es war kühl, als sie langsam wieder erwachte. Die Schmerzen in ihrem Bein waren zu einem dumpfen Pochen abgeebbt und der Nebel in ihrem Kopf beinahe gewichen. Nur noch etwas Schwindel und das Gefühl hundert Kilo, zu wiegen, ließen sie kurz innehalten. 888 gab sich einen Ruck, sie musste fort aus dem Gang. Der Wärter würde sie hier finden und aufs Übelste bestrafen. Isolation und Schläge drohten ihr dann 24 Stunden lang.
Die Kühle des Betonbodens weckte langsam ihre Kampfgeister. Die Augen weit geöffnet schob sie sich durch die Kälte des Schachtes. Immer weiter geradeaus. Es kam ihr vor, als wären es mehrere Kilometer die sie zurücklegte, doch irgendwann drang Licht in ihre Dunkelheit. Zuerst nur wenig, dann wurde es langsam mehr.
Ein einziger Lichtfinger zeigte ihr den Weg und sie folgte ihm, bis sie an ein weiteres Gitter gelangte.
Ein Kinderlied huschte durch ihre zerstückelten Erinnerungen und 888 begann leise zu summen.
Das Gitter saß fest und nur mit viel Geduld und Mühe schaffte sie es die Schrauben zu lösen, die die Absperrung hielten.
Mit einem Scheppern fiel das Metall nach vorne und mehr Licht flutete in den engen Gang. 888 musste mehrfach blinzeln. Das Licht war grell, schmerzte in ihren empfindlichen Augen.
Sie streckte den Arm nach draußen, um zu prüfen, ob ihr dort eine Gefahr drohte. Warmes Licht tanzte in weichen Wellen über ihren Arm. Ihr weißer Anzug, der ihr eng am Körper lag, war schmutzig und teilweise zerrissen. Sie schüttelte den Kopf. Es war egal. Es schien, als wäre sie dem Monster entkommen, obwohl sie glaubte es in der Nahe schnaufen und stöhnen zu hören. Doch als sie sich ängstlich umsah, gab es nichts als Dunkelheit und Stille. Wieder glitt ihr Arm durch die schmale Öffnung in das Licht auf der anderen Seite. Es lockte sie, schien sie zu rufen und umhüllen zu wollen.
888 rutschte näher an die Öffnung. Ein sanfter Wind fuhr in den Gang und brachte den Geruch nach etwas blumigen mit sich. Sie erinnerte sich an diesen Geruch. Veilchen. Die Lieblingsblumen ihrer Großmutter.
Durch den Geruch ermutigt rutschte sie noch weiter vor. Das Licht war hell auf ihrer Haut und sie spähte neugierig nach oben. Geblendet zog sie den Kopf zurück. War das die Sonne? Dieser grelle, blendende Fleck? Rund und wie ein flammender Kranz oder war das eine Illusion? Ein Traum, weil sie sich so sehr wünschte, wieder in der Sonne zu sein?
Ihr Herz schlug schneller, ein aufgeregtes Summen umgab sie plötzlich. Winzige Stimmchen schienen auf sie einzureden. 888 wagte einen zweiten Versuch und schob sich zur Hälfte aus dem Gang.
»Was ist das?«
Ihre Hand lag auf etwas Weichem, ihr Blick streifte, die Finger zwischen denen es grün leuchtete. »Gras?«, sie erinnerte sich an die Pflanze. Ihr Vater mähte im Sommer immer den Rasen vorm Haus und sie durfte manchmal helfen. Sie war wirklich draußen. Ein kleiner Freudenschrei entwischte ihr. In der Stille klang er laut und zu schrill, doch sie konnte im Moment ihr Glück kaum fassen und jubelte erneut laut vor Freude.
»Gras. Gras. Gras. Wundervolles, saftiges Gras.
888 schloss die Augen und atmete den Geruch tief ein. Erst jetzt als sie still und mit einem kribbeligen Gefühl im Bauch so da lag hörte sie die sanften Geräusche ihrer Umgebung. Summen. Rauschen und leises Rascheln. Da war etwas in ihrer Nähe, dass sich langsam näherte. Mit leichten Schwung rollte sie sich auf den Bauch und blinzelte durch die verschlossenen Augenlider. Bunte Blumen unter Beeren behangenen Büschen lagen direkt vor ihr. In mitten dieser Verschwenderischen Fülle entdeckte sie ein paar tiefblauer Augen, die sie neugierig musterten.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Wer wusste schon ob das Leben hinter den weißen Mauern friedvoll war oder ob sich hier bissige Mutanten versteckten. 887 hatte ihr oft genug von den Monstern erzählt, die sie Nachts verfolgten, als sie noch in der Außenwelt lebte. 888, selbst erinnerte sich noch immer nicht an ihr altes Leben, doch hier im Gras umgeben von der üppigen Natur begann sie verschwommene Bilder zu empfangen.
Ihre Großmutter und ihr Vater, beide lachten und saßen auf einer Bank im Garten. Bunte Sommerblumen und leise Musik aus einem alten Transistorradio. »All you need is love«, das Lieblingslied ihres Vaters spielte. 888 stand hinter einem Baum, beobachtete und konnte sich nicht dazu überwinden zu ihnen zu gehen. Sie würde gleich aus dem Haus kommen, ihre Stiefmutter, und dann würde die ewige Litaneien wieder anfangen. Warum kommst du erst jetzt nach Hause? Das Essen ist kalt, deine häuslichen Pflichten warten. Sieh mich nicht so an. Geh duschen, dann machst du die Hunderunde und fütterst die anderen Tiere. Wer Haustiere haben will muss auch Verantwortung übernehmen, Mädchen.
So ging es immer zu, wenn Beatrice anwesend war. Ihr Vater lächelte sie dann immer an und scheuchte sie fort. »Erledige deine Pflichten, Sternchen, dann gehen wir noch joggen.«
Mit ihrem Vater zu joggen war stets das Beste am Tag. Keine Verpflichtung, keine Stiefmutter, keine Kollegen, die sie herum hetzten.
Diese Stunde war ihr immer die Liebste des Tages gewesen, bis zu diesem grauenhaften Tag, der ihrer aller Leben veränderte.
Leises Kichern riss sie aus ihrer Lethargie.
»Du siehst komisch aus? Bist du ein Wurm?«
888 schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin eine Frau. Wieso denkst du ich bin ein Wurm. Ich bin nicht schleimig und ringel mich auch nicht am Boden herum.«
Die Stimme hinter den Büschen kicherte wieder. »Aber du kamst aus diesem Loch am Boden. Hast dich gerollt wie ein Wurm, also bist du ein Wurm?«
888 schüttelte den Kopf. »Nein. Komm aus den Büschen damit ich dich sehen kann vielleicht bist du ein Wurm oder ein gefährliches Irgendwas.«
Es raschelte leise, die Augen verschwanden, dann schob sich eine kleine Hand durch die Hecke, teilte die Blätter und stand dann vor ihr. Ein Kind. Ein Mädchen um genau zu sein. Vielleicht fünf Jahre und vom Spielen in den Büschen verschmutzt und zerzaust.
»Hallo, ich bin 888 und wer bist du?«
Die Kleine blickte vorsichtig umher, trat einen Schritt näher und streckte langsam den Arm aus. »Tick du bist es!« Sie kicherte wieder, als sie davon stob und über die Blumenwiese flitzte als wäre sie ein Wirbelwind.
888, holte überrascht Luft. Das Kind wollte Fangen spielen? Ein Spiel, das sie selbst in diesem Alter über alles liebte. Doch heute war sie erwachsen. Zwanzig, wenn sie sich richtig erinnerte. Vielleicht mehr? Sie wusste es nicht mehr.