Vor sich hinfluchend strich er sich durch sein dichtes rabenschwarzes Haar und stöhnte dann leise auf, als ihm auffiel, dass er die Choreografie, wie immer, auswendig konnte, jedoch noch immer nervös war; wie vor jedem seiner einzelnen Auftritte in der Vergangenheit. Im Bereich Hip-Hop tanzte er bereits seit einigen Jahren und hatte eine Ausbildung in diesem Genre gemacht; so schnell machte ihm also niemand etwas vor. Doch das Lampenfieber war allgegenwärtig – vor jedem einzelnen Auftritt. In diesem Moment war es ein Kinderfest, auf dem die Erwartungen überhaupt nicht hoch waren, denn es handelte sich beim Publikum größtenteils um Kinder zwischen sechs und zehn Jahren, der restliche Anteil war wild gemischt. Trotzdem wollte er seinen eigenen Anforderungen gerecht werden und alles geben, was in ihm steckte – auch für kleine Kinder und dessen Freunde und Familien.
Tief durchatmend schüttelte er seine Hände aus und versuchte, seine Muskeln noch weiter zu lockern, bevor er da hinaus ging und sich auf der Bühne verausgabte, da er seine Choreographie lebte und nicht nur durchführte wie jeder andere den er bisher kennengelernt hatte. In New York hatte er seinen Bachelor of Arts in Dance & Theatre und den abschließenden Master Choreograph am Manhattanville College gemacht und innerhalb dieser sechs Jahre viel über Tanz und Musik gelernt. Da sein Bruder mit seiner damaligen Verlobten Elisa, bevor er sie schlussendlich zu seiner Frau machte, eine Lounge-Bar im Herzen von Braunschweig eröffnet hatte und er dort mit eingestiegen war, hatte er seinen Lebensmittelpunkt ungeplant wieder nach Deutschland verlagert und tanzte nur noch aus reinem Spaß an freien Tagen. Auch für den heutigen Einsatz nahm er keine Gage, sondern tanzte zur reinen Unterhaltung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, welche das Kinderfest heute besuchten.
Als sein Name aufgerufen wurde, fuhr er sich mit beiden Händen seufzend durch die Haare und sprang dann grinsend auf die Bühne, um direkt mit einem Slide Move die Show zu eröffnen, die er allein bestritt. Die Jungs und Mädchen kreischten und riefen begeistert seinen Namen, einige klatschten dabei euch und er wusste wieder, warum er eigentlich überhaupt nicht nervös sein musste. Die Kleinen liebten seine Auftritte und viele Gesichter erkannte er wieder, weil sie ihm jedes einzelne Mal zujubelten und ihn anfeuerten was das Zeug hielt. Schlagartig war er wieder die Ruhe selbst, fand zu seinem allgemein bekannten Selbstbewusstsein zurück und tanzte wie ein Hurricane über die Bühne mitten im Magniviertel von Braunschweig.
Sein älterer Bruder Ethan und dessen Verlobte Tiara, die nun seit einigen Monaten ein Paar waren, standen nicht weit vom Geschehen entfernt und verfolgten seine Tanzeinlage mit einem Lächeln in den Gesichtern, unterhielten sich dabei mit Gemma, dessen blonde Haare in der Sonne glänzten und die immer wieder Blicke zur Bühne und auf den in Hip-Hop Klamotten gekleideten Mann, der sich selbst alles abverlangte. Ihre blauen Augen verfolgten seine Bewegungen und sie wünschte sich, sie hätte auch einen solchen Rhythmus im Blut. Ihre Tanzbewegungen waren eher das, was man in den Discos beobachten konnte, wenn jemand mit seinem Drink abseits an der Wand stand und unbeholfen vor sich hinwippte und ab und zu einen Anfall von Mut hatte und seine Hüften ungelenk kreisen ließ, in der Annahme es sähe vielleicht doch ganz heiß aus. Ein wenig beneidete sie Zane schon, wenn sie ehrlich war.
Seit sie wusste, dass er ehrenamtlich Auftritte für Kinder jeden Alters durchführte, hatte er einiges an Pluspunkte wieder aufgeholt, die er verloren hatte, als er sich in ihre letzte Beziehung eingemischt hatte, die weniger schön geendet war. Dexter war ein feiges Arschloch, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass sie allein mit dieser Tatsache klargekommen wäre und Zanes Hilfe nicht gebraucht hätte. Allerdings sah er das, bis heute, komplett anders. Er sah sich in der Pflicht sie zu verteidigen und sie hatte keine Ahnung, warum das so war, denn auf den Mund war sie noch nie gefallen. Sie war kein naives und zurückhaltendes Blondchen, was sich nicht selbst zur Wehr setzen konnte. Vielleicht nicht unbedingt immer körperlich, aber durchaus verbal. Und lieber legte sie sich mit jemanden an, als sich die Zunge unnötig abzubeißen.
„Er dreht heute richtig auf“, bemerkte Tiara staunend und sah zu ihrer blonden Freundin hinüber, die ihren Blick von der Bühne löste und den Blick lächelnd erwiderte. „Findest du nicht auch, Gem?“
„Macht er das nicht immer?“
„Heute irgendwie besonders. Als wenn er sich selbst etwas beweisen möchte“, sinnierte die Brünette mit einem nachdenklichen Ton in der Stimme. „Aber ich weiß nicht wieso das so ist.“
„Gem ist wieder in Deutschland – da muss er auf den Putz hauen“, wirft Ethan amüsiert grinsend ein und die Frauen wenden ihm ihre Aufmerksamkeit zu.
„Wegen mir? Was ist so besonders daran, dass ich mich in diesem Moment hier aufhalte und Zane zusehe wie er die Kinder und Erwachsenen bespaßt?“
„Ihr habt euch ganz schön gestritten, bevor du nach Seattle geflogen bist, um das mit Dex ein für alle Mal zu klären – schon vergessen?“, erinnerte Ethan sie mit einem Seitenblick, da er diesen wieder auf die Bühne gerichtet hatte. „Ihn hat das ganz schön mitgenommen, auch wenn er das nie zugegeben hat. Ich kenne doch meinen kleinen Bruder.“
„Er ist selbst schuld daran. Warum hat er sich auch derart eingemischt? Ich bin erwachsen und alt genug um meine Angelegenheiten selbst zu regeln“, sagte Gemma und seufzte dann leise.
„Du kennst ihn doch.“
„Und er hat sich nur Sorgen um dich gemacht. Immerhin war das eine ganz linke Tour von Dex, dich, und auch Ethan, so zu belügen. Ich meine, eine tödlich endende Erbkrankheit…? Wie krank ist das bitte? So etwas dichtet man sich doch nicht freiwillig an, oder?“, mischte sich Tiara nun ein und rollte die Augen, noch immer genervt über diese Geschichte, die nun bereits einige Monate her war.
„Er ist feige und hatte nicht den Arsch in der Hose, mir zu sagen dass er sich neu verliebt hat und sich mit mir keine weitere gemeinsame Zukunft vorstellen kann. Aber du hast vollkommen Recht, Tia, er hätte so etwas nicht vorschieben dürfen“, stimmte Gemma ihr zu und stieß dann einen Pfiff zwischen den Fingern aus, als Zane seinen ersten Auftritt unter begeistertem Gekreische der Fangemeinde, bestehend aus Kindern im Alter von sechs Jahren aufwärts, bis hin zu Mädels unter achtzehn, die ihn lächelnd anhimmelten. Vermutlich tummelten sich auch ältere Frauen unter ihnen, die ihn und seinen gut durchtrainierten Körper anschmachteten und sich vorstellten, wie rhythmisch er sich vermutlich selbst im Bett bewegen konnte. „Jetzt aber ist er Geschichte und kann tun und lassen was er will. Soll er glücklich mit seiner Cheyenne werden.“
„Heißt sie nicht Catarina?“, wunderte sich Tiara irritiert und Ethan lachte leise.
„Tut sie. Aber Gem mag dieses Weibsbild nicht sonderlich und ist der Meinung, sie müsse sich ihren Namen weder merken noch ihn korrekt aussprechen“, informierte er seine Verlobte grinsend und diese schüttelte ergeben ihren Kopf. „Du kennst das doch mittlerweile, Baby.“
Tiara seufzte und grinste dann erst ihn und dann ihre Freundin an, ehe sie sich bei beiden unterhakte und sie in Richtung der Bühne zog, von der soeben Zane sprang, wo er sich vor einer Traube Kindern in die Hocke begab, damit diese sich mit ihm unterhalten konnten. Sein Oberkörper, der wohldefiniert unter dem weiten Muskelshirt hervorblitzte, war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt, da es allein ohne diesen anstrengenden Showeinlagen bereits warm genug war. Gemma zwang sich zu einem Lächeln, ehe sie sich die Wasserflasche griff, welche Tiara ihr auffordernd hinhielt und damit auf Zane zuging, der von ihr noch überhaupt keine Notiz nahm.
„Hey Zane“, begrüßte sie ihn und er sah überrascht zu ihr auf, während ihm eine Strähne seines dunklen Haars in die Stirn fiel, ehe er lächelte. „Ich dachte, du hast vielleicht Durst?“
Er richtete sich auf und nickte leicht, nahm die Flasche aus ihrer Hand entgegen und sie stellte mal wieder fest, dass er sie um einen ganzen Kopf überragte. Seit dem sie Hals über Kopf nach Seattle geflogen war, hatten sie keinerlei Kontakt mehr zueinander gehabt, weil sie Abstand gebraucht hatte. Und zwar zu allem, nicht explizit zu ihm, um eine klare Schlusslinie in den USA zu ziehen, bevor sie nun komplett hergezogen war. Durch ihre Eltern hatte sie die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten und konnte sich aussuchen, in welchem Land sie leben wollte. Eigentlich hatte sie sich ja vor Jahren für die USA entschieden, weil sie mit vierzehn im Sommerurlaub ihre vermeintlich große Liebe kennengelernt hatte, als sie bei ihrem Vater zu Besuch war. Ihre Eltern lebten einige Zeit getrennt, da Tamara, ihre Mutter, nur die deutsche Staatsbürgerschaft besaß und das Beantragen und Erhalten des Visums so ewig dauerte. Eine Ehe kam eingangs für ihren Vater nicht infrage.
„Danke“, sagte er und schraubte den Deckel geschickt ab, damit er einen großen Schluck des stillen Wassers trinken konnte. „Seit wann bist du wieder in Deutschland?“, fragte er verwundert, nachdem er die Flasche wieder abgesetzt hatte und sie verschloss.
„Erst seit zwei Tagen. Ich musste noch die Wohnung verkaufen und Dexter war… ein wenig widerspenstig“, sagte sie vage und sah ihn dann schulterzuckend an. „Schlussendlich hat er sie mir abgekauft, damit er mit seiner Catalaya darin leben kann.“
„Catalaya? Hat er schon wieder eine neue Flamme?“, runzelte Zane die Stirn und sie grinste amüsiert. „Oder hast du ihr einen neuen Namen verpasst?“
„Einen?“
„Gem, du wirst in dieser Hinsicht nie wirklich erwachsen, oder? Das hast du in unserer Jugend schon viel zu gern gemacht“, schüttelte er seinen Kopf und wischte sich dann mit dem Saum seines Muskelshirts über das Gesicht, da ihm der Schweiß über selbiges lief. „Aber Hauptsache du hast jetzt endlich Ruhe und kannst neu durchstarten, hm?“
„Exakt. Ich werde zunächst bei euch in der Lounge aushelfen, wenn ihr nichts dagegen habt und mich in Ruhe nach einem neuen Job umhören.“
„Ich habe nichts dagegen, sofern es Ethan auch so sieht“, sagte Zane und sah seinen Bruder fragend an, welcher grinsend den Kopf schüttelte. „Dann ist es also beschlossene Sache. Bald mutieren wir zu einem reinen Familienbetrieb.“
„Komm, wir haben noch genügend andere Mitarbeiter in der Crew“, bemerkte Ethan belustigt und warf ihm ein Handtuch zu, damit er sich das Gesicht und die Haare einmal abrubbeln konnte, da er schon wieder sein Oberteil zweckentfremden wollte. „Und nun nimm das Handtuch und zeig deinen Astralkörper nicht ständig meiner Verlobten – nachher lässt sie mich noch sitzen, weil du jünger und trainierter bist.“
„Red keinen Quark, Bruderherz. Erstens bist du in Topform und zweitens hat Tia nur Augen für dich. Ich könnte nackt hier rumlaufen – was ich natürlich nicht tue, allein schon wegen der vielen Kinder – und sie würde es vermutlich nicht einmal mitbekommen“, winkte Zane ab und grinste dann amüsiert, als Tiara errötete. „Außerdem würde sie an mir verzweifeln. Du weißt, wie ich sein kann. Stur ohne Ende und immer das letzte Wort.“
„Allerdings“, stimmte Ethan ihm nun genauso belustigt zu und zog Tiara noch enger an sich, ließ die Hand auf ihrer Hüfte liegen und sah sie lächelnd an. „Ich denke, sie wird mir nicht davonlaufen, hm?“
„Niemals“, erwiderte sie mit einem verliebten kleinen Lächeln und Gemma schnaufte leise.
„Muss Liebe schön sein“, seufzte die Blondine und wickelte sich eine von Tiaras braunen Locken um den Zeigefinger. „Du hast ganz schön lange Haare bekommen, Süße. Willst du sie züchten?“
„Ich möchte eine aufwändigere Flechtfrisur zur Hochzeit und dafür fehlte noch ein bisschen Länge. Jetzt sollte diese Frisur im Bereich des Möglichen liegen. Nächsten Samstag habe ich bei meiner Friseurin einen Termin und sie testet es aus. Wenn du magst, kannst du mitkommen“, beantwortete sie die Frage von Gemma, welche augenblicklich lächelte.
„Sehr gern.“
„Ich muss zum zweiten Auftritt, Leute. Seid ihr bis zum Schluss hier, oder macht ihr vorher die Biege?“, erkundigte Zane sich und deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Bühne.
„Also wir sind nachher im ZEE“, kam die Antwort von Ethan. „Du wirst dort heute wohl eher nicht mehr auftauchen, oder sehe ich das falsch?“
„Mal schauen. Auf jeden Fall freue ich mich auf eine ausgiebige Dusche und frische Klamotten, die nicht durchgeschwitzt sind. Was ich danach mache ist noch ungewiss.“
„Ich werde noch eine Weile hier sein, da ich verabredet bin und nicht extra wieder nach Hause möchte. Den Weg kann ich mir sparen“, erklärte Gemma, weil Zane sie fragend ansah. „Danach habe ich bisher noch nichts vor.“
„Hast du etwa ein Date?“, verlangte Tiara schmunzelnd zu wissen und Gemma legte ihren Kopf nachdenklich schräg. „Oder triffst du eine Freundin?“
„Weder noch. Meine Mutter ist hier und will unbedingt und ganz dringend mit mir sprechen. Um was es geht, wollte sie mir am Telefon jedoch nicht verraten. Ich lasse mich also überraschen.“
„Oh? Dann grüß sie von mir ganz lieb“, wirft Ethan überrascht ein. „Ich glaube, ich habe sie seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht kommt ihr nachher auf einen Drink vorbei?“
„Mal schauen wie viel Zeit sie hat. Auch in Deutschland hat sie Hummeln im Hintern und verlagert ständig ihren Aufenthaltsort. Und die Umgebung hier ist für sie eher ungewöhnlich – aber der Vorschlag kam von ihr“, sagte Gemma und machte eine unbestimmte Handbewegung in der Luft, während sie erzählte. „Keine Ahnung was mit ihr los ist. Sollte sie aber Zeit haben, werde ich ihr einen Besuch im ZEE vorschlagen.“
Zane wurde erneut angekündigt und er warf Gemma sein Handtuch zu, welches sie erstaunt fing und nahm die Wasserflasche entgegen, die er ihr hinhielt.
„Passt du für mich darauf auf, Gem? Solltest du nachher gehen, bevor ich fertig bin, stell sie einfach auf die Treppe hier an der Seite der Bühne, ja?“, zwinkerte er ihr grinsend zu und lief dann hinter die Bühne, um von dort aus seinen Auftritt zu starten.
„Speedy Gonzales ist ne lahme Schnecke gegen ihn“, kicherte Tiara und stieß Gemma mit dem Ellenbogen an. „Du hast die ehrenvolle Aufgabe den heutigen Star zu unterstützen. Gib dir Mühe.“
„Ich werde mich anstrengen, versprochen.“
Gemeinsam schauten sie Zane zu, der jetzt noch einmal Gas gab und laute Jubelrufe erntete, weil er einen Sprung mit Überschlag in der Luft vollführte. Gemma beobachtete ihn mit großen Augen und fragte sich, ob er schon immer so athletisch war. Wenn ja, dann war es ihr bisher nie aufgefallen.
„Zane ist sooo toll“, hörte sie ein Mädchen rufen, welches sie auf nicht älter als sieben oder acht schätzte und die gerade am Arm eines älteren Mädchens zog – vermutlich die große Schwester.
„Ja, oder? Und er ist auch total lustig, oder?“, strahlte die Ältere und rief Zane dann zu wie toll er ist, wobei es ihr scheinbar egal war, wie viele ältere Jungs nur den Kopf darüber schüttelten, die sie beobachteten.
Er hatte also eine richtige Fanbase, die ihn feierten und zum Teil auch anschmachteten. Gemma hatte keinen Schimmer, ob sie ihn darum bewundern oder bemitleiden sollte, entschied sich also dafür, vorerst weder das eine noch das andere zu tun und das Ganze einfach zu beobachten. Gedankenverloren spielte sie mit der Wasserflasche in ihrer Hand und ließ den Blick über die Rasenfläche schweifen, falls ihre Mutter sich doch eher dazu entschloss herzukommen, sah sie jedoch nirgends. Wenn sie sich an die vereinbarte Zeit hielt, hatte sie noch knapp eine Stunde Zeit, ehe sie hier eintraf.
„Suchst du jemand bestimmtes?“, wollte Tiara neugierig wissen und Gemma wandte sich ihr lächelnd zu. „Oder ist die Show für dich zu langweilig?“
„Nein, nein. Sie ist… interessant“, wehrte sie ab. „Meine Mutter ist nur nicht allzu verlässlich was ausgemachte Uhrzeiten und Termine generell anbelangt.“
„Oh, okay. Ich würde dir ja anbieten, dass ich auch Ausschau halte, aber ich weiß ja nicht wie sie aussieht.“
„Schon in Ordnung. Sie wird mich finden – da hat sie einen siebten Sinn“, lachte Gemma leise und warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. „Spätestens in Vierundvierzig Minuten wirst du wissen was ich meine.“
Es dauerte in Wahrheit keine Viertelstunde und Tiara wusste um wen es sich bei Gemmas Mutter handelte, bevor sie sie kennenlernte, denn Tamara Lawrence stöckelte in Jimmy Choo Plateausandaletten mit zwanzig Zentimetern Absatz, einem hautengen schwarzen Minikleid von Roberto Cavalli aus feinster Seide, welches eine gerafftes Design hatte und einen tieferen V-Ausschnitt aufweist, als die Polizei erlaubte. Die schwarze Jimmy Choo Samthandtasche mit Kordelverschluss und goldenem Metallreif tat ihr übriges und Ethan räusperte sich dezent, als sie in einer Parfümwolke neben ihrer Tochter zum Stehen kam, die unangenehm berührt war und ihrer Mutter einen bitterbösen Blick zuwarf.
„Mom, musstest du dich so mit italienischer Designerware zuhängen?“, zischte sie ihr zu und Tamara lächelte nachsichtig, wedelte dabei mit ihrer perfekt manikürten Hand in der warmen Sommerluft herum und sah dann kurz an sich herab.
„Das ist die günstigste Robe die ich im Schrank finden konnte, Gem.“
„Und dein Kleid bedeckt gerade so das obere Drittel deiner Oberschenkel. Du bist über fünfzig. Warum machst du das seit neuestem?“
„Ich habe das Aussehen für solche Outfits – warum sollte ich das nicht endlich zeigen?“, gab Tamara verständnislos zurück und warf mit einer lässig-eleganten Handbewegung ihr blondiertes gelocktes Haar über die Schulter nach hinten auf den Rücken. „Lass uns an einen der Tische gehen, Liebes. Ich muss mit dir sprechen. Dringend.“
„Meinetwegen“, seufzte ihre Tochter und hielt Tiara und Ethan Handtuch und Wasserflasche von Zane entgegen. „Haltet ihr das kurz für mich, bitte? Ich bin gleich wieder bei euch. Danke.“
„Das ist Gemmas Mutter?“, fiel Tiara fast alles aus dem Gesicht und Ethan seufzte leise.
„Ja. Normalerweise ist sie eher unauffällig gekleidet.“
Zusammen mit ihrer Mutter ging sie auf die Bierzeltgarnituren zu und setzte sich auf eine der freien Bänke, wartete, bis ihre Begleitung es ihr gleichtat. Tamara überschlug ihre schlanken Beine, die keinerlei Cellulite oder andere Alterserscheinungen aufwies und stellte die Handtasche zwischen sich und ihrer Tochter auf der Bank ab, um sie dann ernst anzuschauen.
„Also… was ist los?“, forderte Gemma nun zum Reden auf und sah ihre Mutter abwartend an.
„Ich habe mich von deinem Vater getrennt, Süße. Wir haben uns in den vergangenen Jahren auseinandergelebt und wir hielten eine Trennung für das Beste. Wir verstehen uns noch, aber eben nur als gute Freunde und nicht mehr als Ehepartner oder Geliebte“, ließ Tamara Lawrence die Bombe emotionslos platzen, als spräche sie über das Wetter. „Du bist alt genug und kannst das sicher nachvollziehen, hm? Gerade nach der Lappalie mit diesem Tunichtgut Dexter. Von dem habe ich noch nie etwas gehalten – aber wo die Liebe nun mal hinfällt, nicht wahr?“
Wie vom Donner gerührt saß Gemma da und starrte ihre Mutter verständnislos an. Wieso sprach sie von alldem, als wenn sie etwas Besseres wäre? Bis vor einiger Zeit war sie eine bodenständige Frau, die ihren Hobbys frönte und sich mit ihren Freundinnen zum Essen traf und nun erkannte sie ihre eigene Mutter nicht mehr wieder. Mit einem abschätzigen Blick ließ diese ihre Augen über die Veranstaltungswiese schweifen und rümpfte ihre Nase dann, als wäre sie angewidert. Nach einem kurzen Augenblick sah sie ihre älteste Tochter fragend an.
„Du… ihr…“, versuchte Gemma Worte zu finden, obwohl sie sich wie vor den Kopf gestoßen fühlte und blinzelte irritiert. „Ihr habt euch getrennt? Aber… ihr habt so glücklich zusammen gewirkt. Ich meine, ich verstehe dich… euch… aber warum so plötzlich?“
„Ich habe Owen gesagt, dass du nicht seine leibliche Tochter bist. Er wird immer dein Dad bleiben, nur halt nicht dein biologischer“, waren die Worte, die Gemma wie der Blitz trafen und sie sich an der Tischkante festhalten ließen.
„Ich… was?“
„Du bist nicht das Kind von...“
„Ich habe dich verstanden und wollte nicht wissen, was ich nicht von Dad bin, sondern warum du mir das hier und jetzt – einfach so – erzählst? Du hörst dich an, als würdest du mir erzählen, dass du gerade mit einer deiner Freundinnen essen warst und das Steak nicht geschmeckt hat, weil zu wenig Gewürz benutzt wurde. Was ist los mit dir?“
Gemmas Stimme hatte sich erhoben und einige Köpfe drehten sich neugierig in ihre Richtung, weshalb sie ihre Lippen zusammenpresste und ihre Mutter aus wütenden Augen anfunkelte, die diese Tatsache gelassen hinnahm und leise seufzte.
„Ich werde nach Italien gehen, denn ich habe einen Mann kennengelernt. Du bist erwachsen und hast das Recht die Wahrheit zu erfahren, bevor ich gehe. Wir werden uns mit Sicherheit nicht mehr allzu oft sehen und ich möchte nicht, dass etwas unausgesprochenes zwischen uns steht, Süße.“
„Das ist doch nicht dein Ernst“, zischte Gemma und Funken stoben aus ihren blauen Augen, während sie von der Bank aufsprang und auf ihre Mutter deutete. „Du kommst extra dafür aus den USA? Nur um mir an den Kopf zu knallen, dass mein Vater nicht mein Vater ist und ich meinen leiblichen vermutlich noch nicht einmal kenne – nur um mir im gleichen Atemzug mitzuteilen, dass du deine Zelte abbrichst und nach Italien gehst? Ich… argh!“
Sie sah ihre Mutter wütend an und konnte nicht fassen was just in diesem Moment passierte, ballte die Hände an ihren Seiten zu Fäusten und zählte innerlich bis zehn, ehe sie aus schmalen Augen die Frau fixierte, die ihre Vergangenheit binnen weniger Minuten zerschlagen hatte wie einen Spiegel in einem unvorsichtigen Moment, ehe sie sich umdrehte und blindlings davonstürzte.
Von der Bühne aus beobachtete Zane diese Szene und sprang von der Spielfläche, da sein letzter Auftritt so oder so vorbei war und ignorierte die Rufe der Zuschauer, um sich einen Weg zu bahnen, damit er eine Chance hatte Gemma einzuholen, denn sie sah ziemlich wütend aus und lief davon, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
„Gem! Hey“, rief er ihr besorgt hinterher und erwischte sie am Arm, was sie zwang mit ihm stehenzubleiben und heftig atmend den Kopf gesenkt zu halten. „Gem...“
Er ließ sich nur wenige Sekunden Zeit für eine Atempause und fasste sie dann an beiden Oberarmen vorsichtig, versuchte sie dazu zu bringen ihn anzuschauen, wogegen sie sich standhaft weigerte. Der Boden zu ihren Füßen schien weitaus interessanter zu sein.
„Was ist passiert? Wer war das eben am Tisch? Gem, ich...“, fragte er außer Atem und beugte sich ein wenig zu ihr herunter. „Sprich mit mir.“
„Meine Mutter“, gab sie kaum hörbar als er schon glaubte, sie würde ihm auf seine Frage keine Antwort geben. „Das… war meine Mutter.“
„Tamara?“, fragte er verdattert und warf einen Blick in die Richtung aus der sie gekommen waren, obwohl er wusste, dass er sie von dieser Warte aus nicht sehen konnte. „Wieso bist du weggelaufen? Was hat sie gesagt…?“
„Nichts von Bedeutung, Zane…“, nuschelte sie niedergeschlagen und er biss die Zähne zusammen, weil sie auf stur stellte und niemanden an sich heranlassen wollte. „Ich brauche nur einen Moment allein, dann geht es schon wieder.“
Sanft und mit Vorsicht schob er einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, so dass er ihr ins Gesicht schauen konnte. Sie hatte die Lider gesenkt und die Augen fast geschlossen, damit Zane nicht den verletzten Ausdruck in ihnen sehen konnte. Er war im Moment die letzte Person, die sie sehen und sprechen wollte – obwohl er rein gar nichts dafür konnte. Aber sie hatten sich vor Monaten mehr oder weniger im Streit voneinander verabschiedet, bevor sie in den USA ihre Zelte abgebrochen hatte und wiedergekommen war, nachdem alles rechtlich geregelt war, was sie zu regeln hatte. Leise seufzend betrachtete er ihr Gesicht und sein Atem streifte ihre Haut, was sie ihre Fäuste wieder ballen ließ. Zanes Blick fiel auf ihre linke Faust und er zog die Augenbrauen zusammen, glaubte ihr nicht, dass sie lediglich einen Moment für sich benötigte.
„Soll ich Tiara zu dir schicken?“, bot er sanft an und fühlte das Widerstreben in sich aufsteigen, denn er wollte sie nicht allein lassen. „Oder Ethan?“
„Ich… nein, niemand… ich weiß nicht… Zane… ich...“, brach es aus ihr heraus und sie drehte ihren Kopf zur Seite, damit er den verzweifelten Ausdruck in ihren Augen nicht sah.
„Bleib genau hier stehen, ja? Ich schicke Tia zu dir“, bestimmte er mit fester Stimme und sah wie sie leicht nickte, bevor er nach einem kaum merklichen Zögern ihre Arme los ließ und in Richtung Bühne zurückjoggte, an der sein Bruder und dessen Verlobte standen und auf ihn warteten.
„Tia!“
„Zane? Was ist los, wo kommst du her?“, fragte Tiara verwundert und warf einen prüfenden Blick auf die Bühne, die natürlich verlassen vor ihr lag. „Ist was passiert?“
„Gemma…“, zeigte er in die Richtung, aus der er kam und in der er sie stehen lassen hatte. „Ihre Mutter hat irgendetwas gesagt, was sie aufwühlt, aber sie weigert sich mit mir zu sprechen. Kannst du bitte…?“
Tiara nickte ernst, drückte Zane Handtuch und Wasserflasche in die Hände und lief sofort los, damit sie Gemma auch wirklich erwischte und nicht suchen musste. Ethan sah ihr nach und richtete dann sein Augenmerk auf Zane, der sich das Handtuch vor das Gesicht drückte und schwer atmete.
„Sie hat nicht die kleinste Andeutung gemacht?“, wollte er wissen und Zane stöhnte, nachdem er das Handtuch sinken gelassen hatte.
„Nein. Sie ist völlig durch den Wind, Ethan. Was auch immer Tamara ihr an den Kopf geknallt hat, es hat sie verletzt. Sehr sogar.“
„Verdammt, was...“, knurrte Ethan und drehte sich zu der Bierzeltgarnitur um, an der Tamara mit ihrer Tochter gesessen hatte. „Sie ist weg – natürlich. Immer im Fluchtmodus, wenn es unbequem für sie wird. Hoffentlich erwischt Tiara Gemma noch.“
„Wie sieht sie überhaupt aus, verflucht? Sie ist über fünfzig und rennt hier herum wie Mitte zwanzig auf dem Weg zu einem Luxusdate mit einem Millionärssohn.“
„Du musstest diesen Ausschnitt nicht aus der Nähe sehen“, sagte Ethan und seufzte tief. „Ich glaube sie erlebt ihren zweiten Frühling oder hat eine Midlife-Crisis...“
„Ich muss aus diesen Klamotten raus und duschen. Kann ich…?“
„Sicher. Tiara wird sich melden, sollte sie Unterstützung brauchen. Wir müssten allerdings zu Fuß gehen, denn wir sind ohne Auto hier“, schnitt Ethan seinem jüngeren Bruder das Wort ab, weil er wusste worauf dieser hinauswollte. „Weit ist es ja nicht.“
„Schon okay. Ich habe mein Auto eh bei dir in der Tiefgarage stehen“, erwiderte Zane abwinkend und sah zum hinteren Teil der Bühne. „Lass mich nur kurz meine Trainingstasche holen, dann können wir los.“