Solinacea erzählt:
Am Ende dieses Tages hatten sich meine Vorstellungen von einem Leben in Ipioca vollkommen verschoben. War ich in das wilde Grenzland gekommen, um den Inokté etwas von meiner Heilkunst zu geben und sie zu unterstützen, so war ich es am Ende dieses Tages, die einen Schatz gefunden hatte – Nashoba.
Hundertfünfzig Jahre lang hatte ich nie über eine Partnerschaft nachgedacht. Eine lange Zeit der Einsamkeit mochte man denken. Doch auf Dakoros lebten fast alle Priesterinnen allein und mir war nie aufgefallen, dass mir etwas im Leben fehlte. Das immerwährende Studium der Heilkünste und der Magie hatte mich vollkommen ausgefüllt. Für etwas anderes oder jemanden anderen hatte ich keinen Platz gesehen. Hier aber war er nun und vielleicht war es auch eine Art von Magie, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, dass er mich in seinen Bann gezogen hatte, eine gute Art von Magie.
An diesem Nachmittag hatte er mich hinter sein Äußeres blicken lassen, hatte mir gezeigt, dass auch er verletzlich war, hatte mir seine Gefühle offenbart. Und ich hatte einen Blick in seine Seele geworfen und mir gefiel, was ich dort sah. Er war nicht nur stark, stolz und von einer wilden, unberechenbaren Magie umgeben. Er war liebenswert und menschlich, sanft, gefühlvoll. Und all das war es letztlich, was ihn so faszinierend und anziehend für mich machte. Nach den Stunden am Strand sprachen wir nur noch wenig an diesem Tag. Nashoba ließ meine Hand nicht los, während wir den steilen Aufstieg zum Dorf hinter uns brachten. Und es fühlte sich so richtig an, so selbstverständlich.
Dieses Gefühl lässt sich nur schwer beschreiben, es hatte zum Beispiel nichts gemein mit einem wilden Sturm auf See, nein, es war viel eher so, als hätte man nach einem Sturm einen sicheren, schützenden Hafen erreicht und wusste, dass man dort verweilen durfte. Mein Heimweh nach Dakoros war verschwunden. Es war jetzt eher so, dass ich mit Spannung mein neues Leben in Ipioca erwartete.
Und es ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen brachen wir in die Grenzregionen auf. Natürlich waren wir zu Pferd unterwegs und jeder führte sein Gepäck auf einem Packpony mit sich. Es gab einen ausgetretenen Saumpfad entlang der Küste und Nashoba wollte diesem folgen, bis wir uns nach etwa zwei Tagen weiter Richtung Norden und zum Gebirge hinwenden würden.
Mit den Pferden waren wir wesentlich schneller unterwegs als bei unserer Wanderung aus dem Sommerlager und so legten wir ungehindert Meile um Meile in Richtung Grenze zurück. Wenn es der Pfad zuließ, ritt Nashoba neben mir und erzählte mir von seinen Gefährten an der Grenze, von ihrer Art des Kampfes gegen die Dunkelmagier von Chromnos, die immer wieder nach Art-Arien drängten, um Land und Sklaven zu erobern.
Während wir dem Saumpfad am Meer entlang folgten, übernachteten wir zweimal in den Höhlen der Steilküste. Die Abende am Lagerfeuer verbrachten wir damit, uns einander von unserem bisherigen Leben zu erzählen. Wir waren beide so offen wie möglich und gaben einander Einblick in viele unserer Erlebnisse und Gedanken.
Dennoch kamen wir uns nie wieder so nah wie an jenem Tag am Strand. Nashoba hatte sich von mir wieder zurückgezogen und ich brachte nicht den Mut auf, ihn deswegen anzusprechen. So sprachen wir über Dakoros und Ipioca. Ich erzählte ihm von meinen Studien und gab ihm einen gewissen Einblick in die Möglichkeiten unserer Heilmagie, aber was ›uns‹ betraf, so sprachen wir nicht über die Zukunft.
Nach drei Tagen am Meer wandten wir uns auf unserer Reise landeinwärts Richtung Norden und setzen unseren Weg ins Gebirge fort. Langsam nahte die kalte Jahreszeit und die Abende am Feuer wurden kühler, als sich eine Veränderung ankündigte. Im Nordwesten, dort wo sich Chromnos an Ipioca annäherte, sahen wir eines Abends ein weißglühendes Leuchten, das kurz darauf in einen blutroten Schein überging, um nach einigen Minuten zu verblassen. Nashoba wurde unruhig und auch ich spürte, dass sich uns etwas Gefährliches näherte.
Noch vor Anbruch der Dämmerung erwachte ich durch ein Aufflackern der Magie und sah, wie sich Nashoba in Wolfsgestalt neben mir zutiefst konzentrierte. Ich nahm an, dass er mentalen Kontakt zu seinen Wolfsbrüdern an der Grenze gesucht hatte und nur wenige Augenblicke später wurde mir das von ihm bestätigt.
»Sie werden angegriffen. Es sind Schattenkrieger, die den Pass überschritten haben. Mit ihnen hatten wir schon mehrfach zu tun, aber Tahatan meint, es wären dieses Mal viel mehr Kämpfer als sonst. Chaska wurde überrascht und verwundet und sie wissen nicht, ob sie die Grenze lange halten können.« Nashoba schwieg.
»Wir sollten ihnen helfen!«, stellte ich fest.
Er lachte bitter. »Selbst, wenn wir die Nächte durchreiten, kämen wir erst in zwei Tagen bei ihnen an, ja selbst als Wolf wäre ich zu lange unterwegs. Das Gebirge ist zu schwieriges Terrain, um es zügig zu durchqueren.“ Er klang verzweifelt. »Wir werden sofort aufbrechen, aber wir werden vermutlich zu spät kommen … Ich hätte mich besser konzentrieren sollen auf das, was an der Grenze vorging. Ich war zu abgelenkt, zu sehr mit mir und meinen Wünschen beschäftigt! Es ist nicht richtig, wenn etwas anderes, jemand anderes als das Land meine Gedanken beherrscht!« Er brach ab und wandte sich den Pferden zu.
Ich fühlte den Schmerz, den er in diesem Moment empfand und die Demütigung, die von der Schuld ausging, die er sich gab, den Überfall nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Er glaubte zu abgelenkt gewesen zu sein, abgelenkt durch mich. Traurigkeit überkam mich, aber auch Wut. Wut darauf, dass die Gier der Dunkelmagier ihm ein freies Leben unmöglich machte, Wut, dass seine Freunde in Gefahr waren und er sich schuldig fühlte, weil seine Gedanken bei mir gewesen waren. Der Zorn machte meinen Geist frei für den dunkleren und weniger friedlichen Teil meiner Magie und ich hatte eine Idee.
»Wenn wir den geraden Weg nehmen könnten, gerade und eben über die Berge, sozusagen fliegen, wie weit wäre es dann?«
Er sah mich überrascht an. »Wenn wir das könnten, wären wir im Morgengrauen an der Grenze. Aber ich habe keine Magie, die das möglich macht, …« Noch immer blickte er zweifelnd, aber ich sah etwas Hoffnung in seinen Augen. Er wusste, ich würde nicht über Unmögliches sprechen.
»Ich glaube, es gibt einen Weg, aber du müsstest mir erlauben, deine Pferde zu verwandeln. Keine Sorge! Es tut ihnen nicht weh und sie werden danach ganz die alten sein. Wir aber wären schneller!«
Er nickte zustimmend, vermutlich war ihm gerade alles egal. »Nimm sie! Ich vertraue dir.«
Er lud die Tiere ab und versorgte die Packponys, die wir nicht mitnehmen würden.
Und während er sich auf den Kampf vorbereitete, begann ich meine magischen Kräfte zu sammeln. Ich legte das Amulett ab und verstaute es in dem zurückbleibenden Gepäck. Es war jetzt egal, ob Chromnos etwas über den Aufenthalt einer Heilerin an der Grenze erfuhr und für diese Art der Magie benötigte ich meine vollständige Energie. Im Getümmel eines Kampfes würde selbst ein geübter Magier aus der Ferne die verschiedenen magischen Wesen nicht mehr aufgrund ihrer Aura voneinander unterscheiden können. Wenn wir verloren, würden wir alle sterben, sollten wir den Sieg erringen, würde wahrscheinlich niemand über den Pass zurückkehren, der etwas berichten könnte. So war es immer gewesen. Gefangene wurden kaum gemacht. Zu verschieden waren die dunklen Kräfte ihrer Magie von der unseren, als dass die Krieger ihre Anwesenheit in Art-Arien riskieren konnten.
Wieder sog ich magische Kräfte aus der Erde und trat dann auf die beiden halbwilden Inoképferde zu, die uns hierhergetragen hatten. Ich legte meine Hände auf die Stirn von Nashobas Rappen und die Magie begann sich zu entfalten. Das Tier wurde größer und stärker und aus seinem Rücken traten große, gefiederte, schwarze Schwingen. Der Pegasus scharrte unruhig mit den Hufen.
Ich wiederholte den Zauber bei meinem Tier, wobei ich die wachsamen Blicke Nashobas in meinem Rücken fühlte. Ich hoffte inständig, dass ihn dieser Beweis meiner Magie nicht weiter von mir entfernen würde. Bisher hatte er kaum Zauberkraft an mir gesehen. Was würde er nun über mich denken?
Aber jetzt war nicht die Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Eine Schlacht musste geschlagen werden. Und auch wenn ich Angst fühlte vor diesem ersten Kampf, so wollte ich in diesem Moment nirgendwo anders sein als hier bei Nashoba, der sich bereitmachte, seinen Freunden beizustehen.