„Erik!“
Ruckartig öffnete ich meine Augen und schnappte nach Atem. Über mir befand sich eine kahle, weiße Decke, die ich nicht kannte, zudem gab es piepende Geräusche, die mir Ohrensausen bescherten. Wo war ich nur?
Eine eisige Kälte umfasste mein Herz und zog es schmerzhaft zusammen. War alles nur ein Albtraum gewesen? Ich fühlte nichts, doch die Enge in der Brust erschwerte mir das Atmen.
„Freyja …“, erklang plötzlich eine Stimme.
Eilig drehte ich meinen Kopf in die Richtung und ich erkannte die hagere Figur von Eriks Bruder Sven. Er trug schwarze Kleidung, die mich an die Dunkelheit erinnerte. „S-Sven?“, fragte ich rau. „Wo bin ich?“
„Du bist im Andenes Helsesenter“, antwortete er bedrückt mit dem Blick auf den Boden gerichtet.
Langsam richtete ich mich auf und sah mich um. Das Zimmer im Gesundheitszentrum war schlicht eingerichtet und ich ließ meinen Blick über die Geräte neben dem Bett schweifen. Von ihnen ging das grässliche Piepen aus. „Wo sind die anderen?“, hakte ich vorsichtig nach.
Bitte sag, dass das alles nur ein Albtraum ist!
Sven fasste nach meiner Hand und ich erkannte, wie seine blauen Augen unter einem Schleier an Tränen blasser als sonst wirkten. „Es tut mir leid, Freyja“, flüsterte er.
Die Kälte überzog meinen Körper und lähmte mich und meine Gedanken. Nein, nein! Das ist nicht wahr! Sag, dass das nicht wahr ist!
Ich wollte Sven anschreien, dass er mich nicht anlügen sollte, doch seine Niedergeschlagenheit traf mich wie ein Schlag. Es war wahr. Mein Vater hatte nicht mehr bremsen können und wir waren abgestürzt.
Tränen schossen in meine Augen und ich schüttelte den Kopf. „Nein … Das ist nicht wahr“, sagte ich zitternd.
„Erik und deine Eltern haben den Unfall nicht überlebt, Freyja. Für sie kam jede Hilfe zu spät.“
Zu spät … zu spät … zu spät …
Wie ein Echo hallten die Worte in meinem Kopf. Svens Worte rissen mir den Boden unter den Füßen weg und ich begann hemmungslos zu weinen. „Warum lebe ich?“ Warum hatte nur ich überlebt?
„Erik hat dich so gut es ging geschützt, Freyja“, erklärte Sven und streichelte über meinen Handrücken. Eine tröstende Geste, die mich allerdings noch mehr in Aufruhr versetzte.
„Nein!“, schrie ich verzweifelt und schlug die Hände vor mein Gesicht. Ich hatte alles verloren, was mir wichtig war! Meine Eltern … meinen Verlobten … All unsere Träume hatten sich in Nichts aufgelöst und in mir herrschte plötzlich eine gähnende Leere.
Ich fiel in die Dunkelheit wie in meinem Traum und alles um mich herum wurde schwarz. Ein unangenehmes Kribbeln durchzog meinen Körper, als wäre er eingeschlafen. Verzweifelt und unter Tränen schlug ich auf die Decke, bis Sven dem ein Ende setzte.
Er erhob sich und setzte sich zu mir aufs Bett. „Bitte beruhige dich, Freyja“, sagte er sanft und nahm mich in den Arm.
Seine Umarmung war tröstlich, brachte aber nicht das zurück, was ich gerade am meisten brauchte, nämlich meine Eltern und Erik. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte ich machen? Fragen einer ungewissen Zukunft, die mich zusätzlich belasteten, doch jetzt war die Trauer um meine verlorenen Geliebten das Präsenteste.
Ich konnte mich nicht beruhigen und es wurde so schlimm, dass Sven sich gezwungen sah, jemanden zu holen. Dazu drückte er einen Knopf neben dem Bett.
„Ich verspreche dir, alles wird gut“, flüsterte er an mein Haar.
„Gar nichts wird gut!“, schrie ich aufgebracht. Wie konnte er nach außen hin so ruhig sein, nachdem er seinen Bruder verloren hatte? Hatte er kein Herz?
Die Tür ging auf und eine junge Frau betrat mit einem Mann das Zimmer. Beide trugen weiße Kittel und schienen die Ruhe selbst zu sein.
„Frau Sandvik, bitte beruhigen Sie sich. Ich bin Doktor Iversen“, stellte er sich ruhig vor.
Alle hatten gut reden! Wie sollte ich mich verdammt noch mal beruhigen? Warum musste das Schicksal so übel mit mir spielen und mich am Leben lassen?
„Lasst mich in Ruhe!“, herrschte ich die beiden an und warf die Decke zur Seite. Erst jetzt bemerkte ich einen Verband um meinen Oberschenkel, aber auch um mein Handgelenk, zudem steckte eine Kanüle in meinem Handrücken und von dort ging ein Schlauch zu einer Infusion. Wütend und unbeherrscht riss ich mir diese heraus und ignorierte den brennenden Schmerz. An die Bettkante gerutscht, wollte ich aufstehen, wurde jedoch am Handgelenk festgehalten.
„Freyja, er hat recht. Du musst dich beruhigen“, sagte Sven eindringlich, aber seine Stimme war träge und zurückhaltend wie ich sie kannte. Anfangs war ich mit seiner Art zu sprechen nicht klargekommen und hatte ihn für mundfaul und uninteressiert gehalten, doch im Laufe der Zeit hatte ich ihn liebgewonnen. Sven war auf seine Art ein guter, aber zurückhaltender Kerl, der bisher keine Erfahrungen mit Frauen hatte. Viele glaubten, er wäre dem eigenen Geschlecht verfallen, doch ich nahm an, es lag an seinem Charakter und seiner Ausbildung als Seelsorger, die seine volle Zeit in Anspruch nahm.
„Wie soll ich mich beruhigen? Ich habe alles verloren!“, brüllte ich. Ich wollte allein sein!
„Nein, Freyja. Du bist nicht allein”, sagte Sven entschieden und ich nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie er den beiden zunickte. „Ich bin bei dir.“
„Ich will mich nicht beruhigen, sondern sterben!“, schniefte ich und vergrub erneut mein Gesicht hinter meinen Händen.
„Das hilft niemanden“, flüsterte Sven meinen Rücken streichelnd. „Ich bin mir sicher, Erik hat dich beschützt, damit du weiterlebst.“
Schluchzend vergrub ich mich an seiner Brust und war froh, dass er da war. Ganz sicher hat Erik gewollt, dass ich ungeschoren davonkam, doch ich vermisste meinen Verlobten und meine Eltern so sehr, dass mir das Herz im wahrsten Sinne des Wortes blutete.
Der Schmerz in meinem Inneren wurde so groß, dass ich die Beherrschung verlor und zu schreien begann. Die Welt war unfair und hatte mir alles genommen, was mir lieb war. Ich konnte nicht aufhören, meinen Schmerz herauszuschreien und alles um mich herum fühlte sich taub an.
Irgendwann spürte ich, wie meine Hand genommen wurde und meine Sinne wurden ein kleines bisschen klarer, sodass ich hörte, wie Sven mit den beiden sprach. Irgendwann drückte er mich sachte von sich und legte mich wieder ins Bett.
Mein Gesicht vom Weinen und Toben rot, beruhigte ich mich langsam und starrte an die Decke. Mein Kopf dröhnte und es war mir nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wann ist der Unfall passiert?“, fragte ich nach einer Weile mit krächzender Stimme.
Doktor Iversen und die Krankenschwester standen neben meinem Bett und kontrollierten die neu gelegte Kanüle und die Geräte.
„Vor drei Tagen. Du warst bewusstlos und wir haben geglaubt, du wärst ins Koma gefallen“, erklärte Sven, der meine Hände in seine nahm und sie wärmte.
„Sie haben Prellungen, Schürfwunden, eine Fleischwunde an Ihrem Oberschenkel und ein verstauchtes Handgelenk davongetragen, Frau Sandvik“, mischte sich der Arzt ein.
Ich drehte mein Gesicht zu ihm und betrachtete sein sanftes Profil. Auf seiner Nase tanzte eine kleine Brille, die bei jeder Bewegung beinahe herunterfiel, aber wie durch ein Wunder blieb sie dort haften, als wäre sie mit Sekundenkleber befestigt worden. Seine bereits ergrauten Haare waren nach hinten gekämmt und ähnelten Svens, die blond und stets nach hinten gegelt waren. Viele hielten Eriks Bruder daher auf den ersten Blick für ein verwöhntes, reiches Muttersöhnchen, während mein Verlobter ein naturbezogener wilder, rauer Bursche mit Muskeln gewesen war.
„Werte sind normal, Herzschlag liegt bei …“, informierte die Krankenschwester und nannte Zahlen, die mir nichts sagten. „Sie sind zu hoch, aber das kann am Stress liegen“, fügte sie hinzu.
Na und? Was interessierten mich meine Werte? Es war doch sowieso alles egal …
„Wie lange wird sie zur Genesung brauchen und wann kann Freyja entlassen werden?“, erkundigte sich Sven.
„In ein paar Tagen“, erwiderte Doktor Iversen und wandte sich an mich. „Wir würden Sie gerne zur Beobachtung hierbehalten, vor allem, wenn Sie so aufgebracht sind.“
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. „Kann ich nicht einfach nach Hause? Sie sagten selbst, ich bin nicht großartig verletzt.“
Er hob seinen Finger und schüttelte den Kopf. „Sie stehen unter Schock und sollten unter Beobachtung bleiben. Wenn es Ihnen in ein paar Tagen besser geht, können Sie nach Hause.“
Geschlagen nickte ich und ein erneuter Weinkrampf befiel mich. Meine Tränen rannen an meinen Wangen hinunter und fielen auf das Kissen und ich bekam am Rande mit, dass Doktor Iversen und die Krankenschwester das Zimmer verließen. Augenblicklich drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kissen. Im Schutz der Dunkelheit schrie ich erneut meinen Schmerz heraus, während Sven wahrscheinlich hilflos neben mir saß und hoffte, dass ich mich beruhigte.
Immer wieder fragte ich mich, was ich angestellt hatte, dass das Schicksal so übel mit mir spielte.
Wie lange ich mit dem Schmerz des Verlusts kämpfte, konnte ich nicht sagen, doch eine unsagbare Müdigkeit suchte mich heim und zog mich in einen unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf.
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Andenes Helsesenter = In etwa wie Andenes Gesundheitszentrum