Einen passenden Grabstein für das gemeinsame Grab meiner Geliebten auszusuchen, stellte sich für mich als ein unüberwindbares Hindernis heraus. Ohne Sven wäre ich wohl hoffnungslos überfordert gewesen, doch dank ihm und seinen Kontakten als Seelsorger schafften wir es, geeignete zu finden. Diese würden jedoch erst in ein paar Wochen geliefert werden, was an sich kein Problem darstellte, denn bis die Grabsteine gesetzt werden konnten, würde es dauern.
Stundenlang saßen wir über Entwürfe für Inschriften, da ich für meine Geliebten die geeigneten Worte finden wollte. Leicht war es nicht, doch letztlich fanden wir etwas, was uns beiden gefiel. Mittlerweile fand ich Svens ruhige Anwesenheit angenehm und ich wollte ihn nach der Beerdigung bitten, für eine Weile ganz bei mir einzuziehen, bis ich alles wieder im Griff hatte. Außerdem wollte ich auch für ihn da sein.
Am Samstagmorgen der Beerdigung brachte ich keinen Bissen herunter, und ich gab es auf, mir etwas hineinzwingen zu wollen. Ich machte mich fertig und zog ein schwarzes Kleid aus feiner Spitze an, das ich bereits bei der Beisetzung meiner Großeltern getragen hatte. Glücklicherweise waren die Temperaturen vor der angekündigten Schlechtwetterfront warm, ansonsten hätte ich den schwarzen Hosenanzug getragen.
Ich setzte den Hut mit dunklem Schleier auf und wartete vor dem Haus auf Sven, der bereits losgefahren war, um die Blumen abzuholen. Sobald er mir stehenblieb, stieg ich schweigend ein und wir fuhren wieder los. Erster Halt war Andenes Kirke, eine von zwei Kirchen in unserer Kommune. Bereits bei der Ankunft herrschte auf dem Parkplatz reges Treiben, was mich nicht wunderte, denn meine Eltern hatten viele Freunde.
Eine etwas kräftigere Brise umwehte die weiße Holzfassade der im Jahr 1876 gebauten Kirche, die bisher auch den kräftigsten Unwettern getrotzt hatte und nur minimal repariert worden war, abgesehen von Holzschäden, zersprungenen Fenstern und davongewehten Dachziegeln natürlich. Sie war ein Schmuckstück, auf das wir Anwohner stolz waren.
Wir stiegen aus und wurden von Idun und Suvinna mit einer festen Umarmung in Empfang genommen. Noch schaffte ich es, meine Tränen zurückzuhalten und ich zwang mich zu einem kleinen, wenn auch gekünstelten Lächeln.
Sanft legte Idun ihren Arm um mich. „Wir schaffen das“, versprach sie leise.
Ihre Tochter, die mit ihren weißblonden Haaren und blauen Augen beinahe ein Ebenbild der Mutter war, nickte. „Ihr seid nicht allein“, stimmte sie zu.
Wie oft ich diese Worte in der letzten Zeit gehört hatte, konnte ich nicht mehr zählen, doch sie waren etwas, an das ich mich festhalten wollte. Menschen wurden geboren und starben, das war der Lauf der Natur, und dennoch fiel jeder Abschied schwer.
Ich sah in die Baumkronen, die vom Wind wie in den Schlaf gewiegt wurden und seufzte innerlich. Die Sonne hatte sich hinter Schleierwolken verzogen, die in wenigen Stunden von dunklen abgelöst werden würden. Das war genau das perfekte Wetter für mein Gemüt, aber Sonnenschein wäre genauso gut gewesen. Ich hoffte, dass der Regen warten würde, bis wir von dem außerhalb liegenden Friedhof Bleik Kirkegård zurückkehrten.
Nach und nach wurde der Parkplatz leerer und Sven nahm meine Hand. „Komm, es wird bald beginnen“, sagte er sanft.
Gemeinsam gingen wir in die Kirche, dessen Interieur aus schlichten Holzbänken bestand. In der Mitte war ein roter Teppich ausgelegt, der bis zum Altar ging, hinter dem das Kreuz Jesus aufgestellt war. Ein gräulicher Holzzaun grenzte ihn ein wenig ab.
Davor lagen drei weiße Särge in einem Meer aus Blumen. Auf unsere Bitte hin, waren die Särge so hergerichtet worden, dass Erik in der Mitte war. Es war ein Zeichen, dass meine Eltern ihn wie einen Sohn akzeptiert und geliebt hatten.
Sven führte mich in die erste Reihe, die bisher unbesetzt geblieben war und warteten, dass der Pfarrer Aegir seine Worte begann. Leises Gemurmel drang zu meinen Ohren, ohne, dass ich wirklich verstand, was die Menschen redeten. Mein Blick war eisern auf die Särge gerichtet und ein unangenehmes Stechen machte sich in meiner Brust breit.
Da drin liegen sie …
Es war ein unheimlicher Gedanke, der mich traurig stimmte. Zu meiner Verärgerung verschleierten bereits die Tränen meine Sicht und ich war gezwungen, ein Taschentuch zur Hand zu nehmen. Sven nahm mich in den Arm und streichelte sanft meine Seite, bis der Pfarrer die kleine Treppe zum Rednerpult hinaufging und wartete, bis die Stimmen verstummten.
Er begann seine Rede, die genauso voller Liebe und Hingabe ausgesprochen wurden, wie ich es von Aegir kannte. Seine Güte und Ruhe strahlten regelrecht und erhellten im wahrsten Sinne des Wortes den Raum. Früher hatten wir regelmäßig seinen Gottesdienst am Sonntag besucht, doch mit unserem Studium und den Reisen war das in den Hintergrund gerückt.
Den Worten zuhörend, vernahm ich leises Schluchzen und auch, wie jemand wie ein Elefant ins Taschentuch trötete. Sicherlich war das der alte Kjell, der bereits seit einiger Zeit gesundheitliche Probleme hatte.
Ich wagte, mich umzudrehen und musste unwillkürlich lächeln, als sein Enkelkind ihm ein weiteres Tuch reichte. Fenna, ein siebenjähriges Mädchen mit Zahnlücken, hatte die Fürsorge und Freundlichkeit von ihrer Mutter Lisbet geerbt. Gerade um Kjell kümmerte sie sich rührend.
Meine Aufmerksamkeit wurde auf den Pfarrer gelenkt, als dieser zu einem gemeinsamen Gebet aufforderte. Wir erhoben uns und sprachen die Worte nach. Dabei brachte ich nicht mehr als ein Flüstern zustande, das bei den lauten Stimmen glücklicherweise nicht auffiel.
Schließlich schloss Pfarrer Aegir seine Rede ab. Ich vermutete, dass er es geschafft hatte, auch den hartgesottenen Männern Tränen zu bescheren. Beim Umsehen bewahrheitete sich mein Gedanke und ich musste erneut lächeln. Aegir war und blieb ein Pfarrer, der in der Gemeinschaft hoch angesehen und geliebt wurde. Auch außerhalb der Kirche hatte er stets ein offenes Ohr und freundliche, hilfreiche Worte übrig.
Langsam leerten sich die Sitzplätze, aber ich blieb und starrte wieder auf die Särge. Uns stand eine Pause bevor, denn sie würden erst in einer Stunde zum Friedhof transportiert werden. Pfarrer Aegir würde folgen und dort schließlich seine letzten Worte für die Beerdigung sprechen.
„Lass uns gehen“, flüsterte Sven und reichte mir die Hand.
Etwas widerwillig, weil ich mich nicht von dem Anblick der Särge trennen konnte, erhob ich mich, doch statt ihm zu folgen, ging ich vor dem Blumenmeer auf die Knie und begann zu beten. Keiner sagte etwas, denn oft genug kamen Leute hierher, um ein kleines Gebet auszusprechen.
Leise bat ich den Herrn, gut für Erik und meine Eltern zu sorgen. Sie sollten über uns wachen und ein glückliches Leben im Jenseits verbringen. Erst, als jemand eine Hand auf meine Schulter legte, richtete ich mich auf, fuhr mit dem Finger leicht über die Särge und verabschiedete mich im Stillen.
Ich trat mit Sven, Idun und Suvinna aus dem Haus Gottes und bemerkte, wie sich der Himmel am Horizont bereits verdunkelte. Mächtige, graue Wolkentürme rollten wie eine Walze auf das Festland zu und würden Sturm, Gewitter und einen hohen Wellengang mit sich bringen.
„Hoffentlich hält das Wetter“, murmelte ich bedrückt.
Aufmunternd drückte Idun meine Hand. In ihrem schlichten, schwarzen Kleid sah sie elegant und erhaben aus. „Das wird, keine Sorge. So lange wird das auf dem Friedhof nicht mehr dauern.“
Damit hatte sie vermutlich recht. Die Fahrt zum Friedhof dauerte nur zehn Minuten und alles andere würde eventuell eine halbe Stunde dauern, bis die ersten Schaufeln Erde auf die Särge geworfen wurden. Ab dem Zeitpunkt gab es für uns nichts mehr zu tun und wir konnten wieder nach Hause.
„Ich rede mit Pfarrer Aegir, ob der Transport früher erfolgen kann“, erklärte sich Sven dazu bereit. Er klang genauso sorgenvoll wie ich und ich versprach, mit Idun und Suvinna die anderen davon zu unterrichten, sollte Sven Erfolg haben.
Unsere Wege trennten sich und ich gesellte mich zu Kjell und seiner Enkelin. In einer kleinen Unterhaltung erfuhr ich, dass bei ihm Krebs im Endstadium festgestellt worden war und er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Ein weiterer Schlag, der mir beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. Ausgerechnet solch eine Hiobsbotschaft für Kjell, der für seine Ruppigkeit berühmt berüchtigt und von neuen Anwohnern gefürchtet war. Wer ihn jedoch näher kannte, wusste, wie liebevoll er war und welchen Sinn für Humor er besaß.
„Das tut mir leid“, flüsterte ich traurig.
Fenna nahm meine Hand und sah mir lächelnd in die Augen. „Uns auch, aber Opa bekommt einen wunderschönen Platz bei Gott und wird dort weiterhin seine Witze reißen, bis er genug von ihm hat und ihn wiederauferstehen lässt“, sagte sie überzeugt.
Die Vorstellung war so komisch, dass ich lachen musste. „Du meinst als Reinkarnation?“, wollte ich wissen.
Stolz nickte das Mädchen. „Genau. Vielleicht wird er in meinem Kind wiedergeboren. Dann habe ich Opa wieder.“
Wie sehr sie an solche Dinge glaubte, grenzte fast an ein Wunder. Die heutige Jugend konnte mit Gott und der Bibel kaum etwas anfangen. Zudem war es erstaunlich, wie Fenna ihre Zukunft bereits plante. „Wenn du daran glaubst, wird das bestimmt wahr“, meinte ich nachdenklich. „Und was ist, wenn es ein Mädchen wird?“
„Das macht nichts“, antwortete Fenna mit leuchtenden Augen. „In Opas Geist steckt auch Omas. Die beiden gehören zusammen und werden wiedergeboren.“
Niedlich, mit welcher Überzeugung sie sprach und ich glaubte ihr tatsächlich. Sollte ich auch daran festhalten, dass meine Geliebten wieder als Reinkarnation zurückkehrten? Musste ich sie dann suchen oder würden sie mich finden?
Leider wurde unser Gespräch von Sven unterbrochen. Er teilte uns mit, dass Pfarrer Aegir den Transport sofort veranlasste und alles vorzog. „Auch ihm macht das Wetter Sorgen. Da das Grab noch zugeschüttet werden muss, ist es besser, wenn wir gleich aufbrechen. In etwa einer halben Stunde kommen dann die Leichenwagen“, informierte er und ich begann mit Idun und Suvinna, die anderen davon wissen zu lassen.
Mit einem Mal verwandelte sich der Parkplatz in einen Bienenstock, bis nur noch wenige Autos dastanden. Schließlich setzten Sven und ich uns in den Wagen und folgten der Autoschlange zum Friedhof.
Nicht lange danach trafen die Leichenwagen ein und die Särge wurden zu ihrem Grab gebracht. Pfarrer Aegir trat in Erscheinung und ließ sich von dem aufbrausenden Wind nicht die Rede ruinieren, doch ich bemerkte, dass die anderen immer wieder in den Himmel sahen. Zunehmend verdichtete er sich und leichter Nieselregen, der mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ, setzte ein. Sonst mochte ich diese Art von Regen, doch nun fühlte er sich wie eine tonnenschwere Last an, die mich zu zerquetschen drohte.
Schneller als gedacht, war Pfarrer Aegir mit seiner Rede fertig und wir schaufelten symbolisch etwas Erde auf die Särge. Mit unserer Bitte, dass sie ein Familiengrab bekamen, hatten wir beim Friedhofsamt Erfolg gehabt.
Als ich die Schaufel an Sven weitergab, peitschte uns der Wind den Regen ins Gesicht. Das war mir egal, denn die Tränen verschleierten sowieso meinen Blick. Allerdings hatten alle es plötzlich eilig, sich in Sicherheit zu bringen, weshalb die Beisetzung abrupt beendet wurde. Die Friedhofsleute versicherten, sich um alles weitere zu kümmern.
Ein letzter Blick auf die Särge, ehe wir uns umdrehten und den kleinen Friedhof verließen. Damit ließ ich auch einen großen Teil meines Lebens hinter mir und im Auto begann ich wie ein Schlosshund zu heulen.
Die kurze Fahrt nach Hause versuchte Sven fast schon verzweifelt, mich mit Gesten und lieben Worten zu beruhigen, obwohl er selbst weinte. Den restlichen Abend verbrachten wir auf der Couch, eng aneinandergeschmiegt und trauernd. Es tat gut, nicht allein zu sein.
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Andenes Kirke = Andenes Kirche
Bleik Kirkegård = In etwa wie Bleiks Kirchgarten / Friedhofsgarten