Ein leises Surren untermalt die drückende Stille in meinem Zimmer. Es war bereits spät. Um genau zu sein, war es 23.59 Uhr an einem Freitagabend. Und es dauert noch exakt 60 Sekunden bis zu meinem 16. Geburtstag. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Tausend Gedanken wirbeln wie ein Tornado durch meinen Kopf und lassen meinen Magen rebellieren. Angestrengt presse ich die Luft aus meinen Lungen und öffne die Augen. Ruckartig springt die Uhr auf meinem Display auf 0.00 Uhr. Tja, Happy Birthday Navida. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit und ich bin mir sicher, irgendwie noch nicht bereit zu sein, für ein Leben auf meine eigene Verantwortung. Mein Handy vibriert scheppernd auf meinem Nachttisch, gefolgt von einem leisen Piepsen, welches den Erhalt einer Nachricht signalisiert. Das grelle Licht blendet meine müden Augen. Nach mehrmaligem Blinzeln habe ich mich jedoch an die Intensität des Lichts gewöhnt und kann die SMS lesen.
„Happy Birthday Kleines.
Lebe lang und in Frieden. Du weißt, die Antwort auf alles ist 42. :)
XO Jannes"
Ich rolle mit den Augen und muss lachen. Jannes ist ein ziemlicher Nerd. Er liebte Star Trek und hat vermutlich „Per Anhalter durch die Galaxis" schon einhundert Mal gelesen. Wir sind seit etwa sechs Jahren befreundet, damals habe ich Jannes im Englischunterricht in mein Buch schauen lassen. Er hat sein eigenes zu Hause vergessen und saß zufällig neben mir. Nach dieser Englischstunde wich er mir nicht mehr von der Seite und ich musste mir insgeheim eingestehen, dass ich ihn mochte. Wir hatten unheimlich viel Spaß zusammen und konnten über alles mögliche Lachen. Meine Eltern haben Jannes auf Anhieb gemocht, als er das erste mal mit seiner wackeligen Brille durch die Tür gestolpert ist. Ab diesem Moment wurde er von ihnen quasi inoffiziell adoptiert. Nach der Schule kam er mit zu uns, blieb bis zum Abend und fuhr erst spät Abends nach Hause. Manchmal blieb er sogar das ganze Wochenende. Die Couch im Arbeitszimmer war inzwischen sein zweiter Wohnsitz. Wir scherzten oft darüber, dass die Anschrift „Navidas Couch" vermutlich komisch aussehen würde in seinem Personalausweis. Ich lege das Handy zurück ohne ihm eine Antwort zu senden. Ich bin gerade nicht in der Stimmung, für einen ausgelassenen Smalltalk. Ich weiß Jannes würde mich aufbauen, aber gerade will ich einfach nur meinen Gedanken nachhängen. Ich wusste immer dieser Tag würde kommen. Meine Eltern hatten es mir gesagt, mich darauf vorbereitet. Aber jetzt in diesem Moment, fühle ich mich kein Stück vorbereitet. Ich habe Angst. Aber davon immerhin verdammt viel. Frustriert rolle ich mich auf die Seite und drehe mein Kissen auf die andere Seite. Ein wohliges Seufzen entflieht meiner Kehle, als sich meine Wange an den kühlen Baumwollstoff schmiegt. Entschieden schließe ich die Augen und versuche meine Gedanken beiseite zu schieben. Heute Abend kann ich nichts ändern. Ich kann sowieso niemals etwas daran ändern. Morgen würden mich meine Eltern zur „School of Eternity" bringen und damit würde ich zu den Talis gehören. Das war die Bezeichnung für Menschen mit besonderen Gaben. Zumindest würde man es genau so in das Hochglanzprospekt einer Eliteuniversität drucken. Aber diese Schule war keine Eliteuniversität. Dort konnte man immerhin nützliche Dinge für die Zukunft lernen. „The School of Eternity" dagegen lehrte anderen Schulstoff, über die ich noch keine genaue Kenntnis erlangen konnte. Meine Eltern wussten nicht sehr viel über diesen Ort und jede Google Recherche führte ins Nichts. Kein Artikel, keine Anschrift und nicht den Hauch einer Idee, dass dieser Ort wirklich existiert. Ab morgen würde ich also offiziell im Nimmerland wohnen. Ich stutze. Das war nicht der Richtige Vergleich, denn im Nimmerland hätte man wenigstens Spaß mit Peter und den verlorenen Jungs. Meine neue Schule gleicht also mehr der Einladung zu einer Freakshow, denn bei den Talis entwickeln sich mit dem sechzehnten Geburtstag besondere Fähigkeiten. Meine Hände wurden feucht und ich wische sie an dem kratzigen Stoff meines Shirts ab. Sorgenfalten zerfurchen meine Stirn. Ich mache mir wirklich Sorgen welche Art Kraft ich entwickeln werde. Meine Fantasien reichen von Fliegen über Unsichtbarkeit bis zur Telekinese. Am meisten Angst habe ich aber vor den anderen Schülern. Es fällt mir nicht besonders leicht Freunde zu finden, auch wenn ich mich selbst als nett bezeichnen würde. Wenn ich so daran denke, stelle ich fest, dass ich eigentlich schon Unsichtbar bin. Zumindest in der Schule habe ich ein großes Talent in der Masse unterzutauchen. Das ist zum einen ziemlich nützlich, denn Lehrer rufen mich meist nie auf, kann aber auch wirklich nervig sein. Es sind nicht nur Lehrer, die mich nicht wahrnehmen sondern auch Mitschüler. Ein Grund, warum ich fast ein Jahr lang Martin angehimmelt habe. Er war in meiner Klasse und stand immer im Rampenlicht. Als Klassensprecher war er stets gut gelaunt und kümmerte sich rücksichtsvoll um alle Schüler. Später zog er dann irgendwann weg und meine heimliche Schwärmerei hatte ein abruptes Ende gefunden. Ich reibe mit den Händen über mein Gesicht und versuche weiterhin mich in den Schlaf zu zwingen.
„Guten Morgen Schätzchen!", meine Mutter marschiert freudestrahlend und hoch motiviert in mein Zimmer. Energisch schlägt sie die Vorhänge zurück und setzt sich an mein Bett. Verschlafen rappel ich mich auf und bringe meine schmerzenden Knochen in eine aufrechte Position. Wenn man ganz genau hinsieht, könnte man es sogar fast mit sitzen verwechseln. Meine Mom lächelt mich an und mir stürzen unkontrolliert Tränen aus den Augen. Mitfühlend nimmt sie mich in den Arm, haucht mir einen Kuss auf den Scheitel und streichelt über meinen Rücken. „Wie kannst du so gut drauf sein Mom? Ich gehe heute weg. Und ich werde verdammt lange nicht hier sein!". Noch immer schluchze ich unkontrolliert in ihr gut riechendes Shirt. Ein Hauch von Vanille umweht meine Nase und legt sich tröstend über meine Sinne. „Schätzchen, wir wissen schon seit Jahren, dass es einmal so kommen würde. Wir haben darüber gesprochen. Niemand wird dich hier vergessen und wir lieben dich über alles. Du bist unsere Tochter und wir sind stolz, welchen Weg du jetzt gehen wirst." Ich rücke ein Stück von ihr ab. „Ihr seid stolz, dass ich weggehe?" Lächelnd wischt sie die Tränen aus meinem Augenwinkel. „Nein Schatz. Wir sind stolz, dass wir dich all die Jahre bei uns haben durften. Ich weiß nicht, was uns heute an dieser Schule erwartet. Aber du wurdest mit dem Mal der Talis geboren und musst an diese Schule um alles nur erdenkliche über deine Fähigkeiten zu lernen." Aufmunternd streicht sie über mein Haar und gibt mir einen kleinen Schubser auf die Schulter. „Oh", erstaunt wendet sie ihren Kopf in Richtung meiner Zimmertür und hält die Nase in die Luft. „Ich glaube," ihr Lächeln reicht inzwischen von einer Wange zur anderen, „dein Vater hat seine weltberühmten Zimt Pfannkuchen gemacht." Ich stimme in ihr Lachen ein, denn ich möchte die restlichen Stunden nicht mit mieser Laune und Griesgrämigkeit verbringen. Heute Abend bin ich Teil der „School of Eternity" und werde eine Gabe erhalten, die mein Leben für immer umkrempeln wird. Doch jetzt bin ich Navida. Sechzehn Jahre alt und ich feiere mit meinen Eltern und meinem besten Freund meinen Geburtstag.
Dampfschwaden steigen aus der Dusche auf, als ich die Vorhänge beiseite ziehe. Er setzt sich überall fest und verschleiert den Spiegel über dem Waschbecken. Glücklicherweise hatte ich mein Handtuch bereits über der Heizung angewärmt, so dass ich mich jetzt in den warmen Stoff kuscheln konnte. Mit einer Hand halte ich mein Handtuch über den Brüsten beisammen, mit der anderen wische ich den Spiegel frei, damit ich mich betrachten kann. Grüne Augen schauen mir entgegen. Mandelförmig und umrahmt von vielen dichten Wimpern. Richtige Disney-Augen, sagt meine Mutter immer. Ich lächele und mein Schmollmund lässt rechts und links zwei niedlichen Grübchen erscheinen. Am liebsten mag ich meine langen Haare, sie haben die Farbe von Weinblättern im Herbst: ein wunderschöner, dunkler Rotton. Ich schminke mich mit etwas Mascara und lege ein dezentes Make-Up auf. Ein abschließender Blick in den Spiegel bestätigt mir, dass ich so das Haus verlassen könnte. Schnell husche ich in mein Zimmer und ziehe mein Lieblingskleid an. Ein kurzes, schwarzes Sommerkleid mit einem Neckholderausschnitt und einer Schleife, die am Rücken geschlossen wird. Ich betrachte mich eingehend im Spiegel und bekomme Angst. Was ist, wenn ich keine Freunde finde? Oder ich niemanden leiden kann? Noch schlimmer ist: was ist wenn meine Gabe völlig bescheuert ist und ich nur mit Vögeln reden kann? Ich schüttle energisch den Kopf und hoffe damit meine Gedanken ebenfalls heraus schütteln zu können. Ein jähes Brummen durchbricht die Stille und ich konnte als Entstehungsort direkt meinen Magen ausmachen. Also Navi, Schluss mit den Gedanken und ab zu den Pfannkuchen!
Lauthals poltere ich die Treppe hinunter wo bereits meine Eltern und Jannes auf mich warten, sie lachen und unterhalten sich angeregt. Ich stutze. Jannes weiß nicht, dass er heute den letzten Tag mit mir verbringt. Wir haben ausgemacht, dass wir ihm ein Auslandsjahr als Ausrede präsentieren. Ein Jahr Amerika, also die andere Seite der Erdkugel und somit außer Reichweite für plötzliche Besuche. In einem dreiviertel Jahr, wenn er dann noch nach mir fragt werden sie ihm sagen, dass ich meinen Schulabschluss in Amerika machen werde und dort bleibe. Ich werde ihn vermissen. Sein Lachen, seine Witze und unsere gemeinsame Zeit zusammen. Eine kleine Träne rollt über meine Wange und ich wische sie schnell weg, bevor sie jemand sehen kann. Und bevor noch weitere dazukommen.
„Alles Gute zu deinem Geburtstag Muppelchen!" Mein Vater löst sich von seinem Stuhl und schließt mich in die Arme. Er ist mindestens 30 Zentimeter größer als ich und hebt mich leicht an, als er mich in den Arm nimmt. Augenrollend quittiere ich seinen albernen Spitznamen für mich, den er seit inzwischen 16 Jahren beibehält.
Kaum hat er mich aus seiner Umarmung entlassen, überfällt mich Jannes und schnürt mir fast die Luft ab. Röchelnd bringe ich ihn dazu, mich loszulassen bevor ich an einem Erstickungstod sterbe. Ein schelmisches Grinsen stiehlt sich auf sein Gesicht und seine blauen Augen schauen herausfordernd durch seine Brillengläser. „Was steht heute an Navi?" Ich räuspere mich leicht, bevor ich ihm antworte:"Jannes, du weißt doch: Heute Nachmittag müssen wir schon zum Flughafen. Und da die besten Eltern des Jahrhunderts mich haben ausschlafen lassen, bleibt nicht mehr so viel Zeit für uns." Sein Lächeln erstirbt und ein resignierter Ausdruck tritt in seine Augen. Ich kann deutlich sehen wie enttäuscht er ist. Ehe er sich versieht piekse ich ihn in die Seite und lächle ihm zu. „Du bist mein allerbester Freund Jannes und ich werde dich niemals vergessen."
Meine Mom klatscht lauthals in die Hände und bittet uns zu Tisch. Ihre grauen Augen strahlen nicht wie gewohnt und ihre braunen Locken wirken heute eher schlaff. Sonst umrahmen ihre schulterlangen Haare ihr Gesicht wie ein antikes Gemälde und betonen die gütigen Augen. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und schlinge die ersten Pfannkuchen herunter. Keiner von uns spricht die traurigen Gedanken aus, die er hat. Und ich bin froh darum. Ich habe mit meinen eigenen Gedanken und Zweifeln zu kämpfen. Noch immer tobt dieser Sturm in meinem Herzen, der sich an jedem bisschen Angst zu laben scheint. Angestrengt versuche ich mir jedes Detail dieses letzten Frühstücks einzuprägen. Die Sommersonne, die durch unsere großen Küchenfenster fällt und die Luft mit Wärme und Licht speist. Der alte Küchentisch, an dem auf der unteren Seite die Initialen N+J eingeritzt sind. Jannes und ich kamen irgendwann auf die Idee, als wir uns ein Jahr kannten. Meine Eltern haben damals ganz schön getobt, als sie unsere „Kunst" fanden. Lächelnd streiche ich über das dunkle Holz und spüre den Lack unter meinen Fingerspitzen, der einen direkten Kontakt mit dem Holz unmöglich macht. Ich verschließe die Lider und versuche mit das Lachen meiner Eltern einzuprägen, das glockenhelle meiner Mutter und den angenehmen Bariton meines Vaters. Und dazu das Lachen von Jannes. Dem schüchternen blonden Jungen, mit der Brille und der Schwäche für Science-Fiction. Viel zu schnell vergehen die folgenden Stunden, bis ich mit meinen Eltern in unserem Auto sitze. Wir sind auf dem Weg zu meiner neuen Schule. Und ich bin auf dem Weg in mein neues Leben, ich wünschte ich hätte nur den Hauch einer Ahnung, was mich erwarten würde.