Es war einmal der 10.Dezember 2022. Der Tag fing für Sam so an, wie es sich jeder Mensch in dieser kalten Jahreszeit wünschen würde: Zuerst wachte er ohne einen Wecker langsam und entspannt auf. Dann blieb er noch einen Moment liegen, bis er sich schließlich genüsslich streckte. Es folgte eine warme Dusche, wonach er sich eine warme Jogginghose und ein gemütliches, weites T-Shirt anzog. Sein Lieblingshoodie durfte natürlich auch nicht fehlen.
Als er dann fertig angezogen war und den Weg in die Küche für ein ausgiebiges Frühstück antrat, kam ihm sofort ein schwarzer Blitz entgegengeschossen. Mit einem breiten Grinsen hockte Sam sich hin.
"Dexter!"
Der Rottweiler ließ sich mit freudigen Augen durch das kurze Fell wuscheln, bis er von einer weiteren Schnauze sanft zur Seite gestupst wurde. Auch Cookie wollte Sam's Aufmerksamkeit gewinnen. Dieser lachte nur und schlang seine Arme um seine beiden Hunde und drückte jedem einen Kuss auf den Kopf.
Während er sich selbst einen Avokado-Tofu-Toast und einen Kakao machte, scharwenzelten Dexter und Cookie aufgeregt um ihn herum und verlangten zwischendurch die obligatorischen Morgen-Streicheleinheiten.
Irgendwann gegen 10 Uhr war das Frühstück dann fertig und auch die zwei Fellraketen durften sich ihr Futter ins Maul schaufeln. Sam staunte immer wieder, wie verfressen sie waren.
Und so saß er an seinem Holztisch und blickte durch die Fenster hinaus in die kanadische Landschaft. Der Schnee, der alles mit einer 50cm hohen Schicht bedeckte, war in der vergangenen Nacht gefallen.
"Dexter, Cookie, schaut nur!" Der Rottweiler und der braune Labrador spitzten sofort die Ohren und sahen Sam so aufmerksam an, als hätten sie sich nicht eine Sekunde zuvor gegenseitig die Schnauzen in die Flanken gestupst und die Pfoten auf den Kopf des anderen gepatscht.
"Was haltet ihr von einem Ausflug?"
Es war immer wieder erstaunlich, dass die beiden Hunde ihn scheinbar wirklich verstehen konnten. Sie waren sofort aufgesprungen und auf ihn zu gelaufen, die Ruten stark in der Luft wedelnd. Dann bellte Dexter aus Vorfreude und als auch Cookie mit einstimmte, hallte das Bellen zweier Hunde und das Lachen eines Mannes durch das gesamte Haus.
Eine Viertelstunde später stand Sam dick eingepackt bei der Eingangstür. Dexter und Cookie hatten geduldig sitzend auf das Startkommando gewartet. Sam schmunzelte, als er die Tür aufsperrte und sich seine Vierbeiner bereit machen.
"Los!" Blitzschnell schossen die Beiden nach draußen und sprangen mit hohen, aufgeregten Sätzen durch den Schnee. Schnell schloss Sam hinter sich ab und folgte seinen tierischen Freunden.
Zu Dritt rannten sie über die riesige Wiese, deren Grün vollkommen von Schnee bedeckt war. Doch Sam konnte die wunderschöner Aussicht nur kurz genießen, bevor Dexter von links herbeigelaufen kam und ihn in eine Wolke aus Schnee hüllte. Prustend wischte Sam sich die Flocken aus dem Gesicht, bückte sich und schnappte sich eine Handvoll Schnee, um ihn auf Dexters Hinterteil zu werfen.
Cookie musste natürlich auch dabei sein und warf sich auf seinen Hundebruder, um ihn in den Schnee zu drücken. Lachend beschmiss Sam auch den verspielten Labrador und ließ sich neben seinen Hunden in den Schnee fallen. Ein Glück, dass er an seine gut wasserabweisende Schneehose und Schneejacke gedacht hatte. Er hatte so das Gefühl, dass er heute nicht trocken nach Hause kommen würde. Wie Recht er damit doch hatte...
So verbrachte das Trio eine ganze Weile damit, im Schnee herum zu rollen, sich anzuspringen und sich mit Schnee zu bewerfen. Der junge Mann hatte schon vor Langem herausfinden müssen, dass seine tierischen Begleiter außerordentlich talentiert darin waren, den Schnee mit ihren Pfoten in sein Gesicht zu schleudern.
Irgendwann, als Cookie und Dexter sich gleichzeitig auf Sam stürzten und ihm das Gesicht abschleckten, gab der Schwarzhaarige auf. Tief saugte er die kühle Luft in seine Lungen und versuchte, sein vor freudiger Anstrengung klopfendes Herz zu beruhigen. Dann schob er die Beiden Fellhaufen sanft von seinem Gesicht weg und schlang wie auch am Morgen die Arme um sie. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und genoss den Moment. Es war so lang her, dass er so ausgelassen war. Das Jahr, das er hinter sich hatte, war hart gewesen. Zuerst wurde er von einem Freund verlassen und dann verlor er auch noch seinen Job . Sein alter Arbeitsgeber hatte seinen Posten abgetreten und sein Nachfolger machte Sam das Leben zur Hölle. Vier Monate hielt er es aus, bis er - auf Rat seines besten Freundes - seine psychische Gesundheit an erste Stelle setzte und kündigte. Es war besser so. Es war keine einfache Entscheidung gewesen, aber richtige Entscheidungen sind selten einfach.
Noch einmal atmete er tief ein und speicherte den Augenblick tief in seinen Gedanken ab, bevor er die Augen wieder öffnete und sich aufsetzte. Wenn er noch länger so liegen bleiben würde, nützte selbst das hochwertige Gewand nichts mehr.
Dexter und Cookie standen bereitwillig auf und sie setzten ihren Spaziergang gemächlicher fort. Die überschwängliche Energie der beiden Hunde war durch die ausgiebige Rauferei ein wenig abgesunken - was sie aber natürlich nicht davon abhielt, ab und zu einem Vogel nachzujagen.
Sam genoss unterdessen das leise Knirschen des Schnees unter seinen Stiefeln. Wie lang schon hatte er nicht mehr so viel Schnee gesehen? Das kalte Weiß war in seinem Heimatland nur noch selten vom Himmel gefallen. Hier gab des Schnee in Hülle und Fülle und Sam konnte kaum in Worte fassen, wie sehr ihn das entzückte. Nicht, dass er es in Worte fassen musste. Er wohnte abgesehen von seinen Hunden allein hier und diese verstanden ihn meist auch ohne gesprochene Sprache. Sie schienen regelrecht seine Gedanken lesen zu können. Und sie teilten seine Liebe zum Schnee, so viel war sicher.
So wanderten sie in stiller Eintracht durch die weiße Winterlandschaft. Die weite Grasfläche war mittlerweile einem Wald gewichen. Die Sonne wanderte langsam über den Himmel, lugte ab und an zwischen den Baumwipfeln hindurch und erreichte schließlich ihren Zenit.
Gerade, als sie eine große Lichtung überquerten und Sam bewusst wurde, dass sie wohl bald umkehren sollten, ertönte plötzlich ein eigenartiges Knacken unter seinen Füßen. Augenblicklich erstarrte er. Das Knirschen des Schnees war bisher nicht so laut gewesen. Und es hörte sich auch nicht wie ein brechender Ast an.
Entsetzen machte sich in seinem Gesicht breit, als er einen leichten blauen Schimmer unter seinen Stiefeln entdeckte. Das war definitiv nicht der Schnee. Und es war auch kein Ast. Sam hatte keine Ahnung gehabt, dachte er doch, das hier wäre eine stinknormale Lichtung. Erst, als er sich umsah, entdeckte er, dass der Schnee an vielen Stellen in einem großen Kreis um ihn herum etwas niedriger lag. Er war zu konzentriert darauf gewesen, seinen Hunden beim Herumtollen zuzusehen und die Landschaft zu genießen. Und was hatte er davon? Er befand sich mitten auf einem See. Kein riesiger See, aber er war mindestens 20 Meter vom Ufer entfernt.
Erneut knackte es bedrohlich und gerade, als er sich flach auf den Bauch legen wollte, ertönte ein schauriges Jaulen, gefolgt von einem Kratzen und einem lauten Platscher. Sam gefror augenblicklich das Blut in den Adern. Mit geweiteten Augen sah er mit an, wie Dexters Pfoten unter dem Schnee verschwanden. Cookie bellte unterdessen wie ein aufgescheuchtes Huhn und wollte seinem Freund zu Hilfe eilen.
"Cookie, nein!", schrie Sam panisch. Cookie riss den Kopf herum und sah sein Herrchen mit einem Gesichtsausdruck an, der Entsetzen am nähesten kam. Sam dachte nicht lange nach und legte sich vorsichtig auf den Boden - oder sollte man eher sagen, das Eis?
Während Cookie wie erstarrt einige Meter neben dem Loch im Eis stand, robbte Sam durch den Schnee die letzten Meter zu dem Loch hin. Der Schnee lag hier weniger hoch, aber trotzdem spürte er, wie sich das kalte Nass einen Weg zwischen seinem Hals und seiner Jacke bahnte und ihm unter das Gewand rann.
Dann endlich war er am Loch angekommen, das Gesicht gerötet vor Anstrengung, Angst und Kälte. Noch hatte das Eis ihm standgehalten, doch er sah Dexter nicht und er lehnte sich weiter vor. Wie lange war Dexter nun schon im Wasser? Die Zeit schien still zu stehen.
"Dexter!", rief Sam verzweifelt, aber er musste das Unausweichliche tun. Vorsichtig striff er sich die Jacke vom Körper. Das Eis unter ihm knackte bedrohlich, während Sam nur unentwegt auf das dunkle Loch im Eis starren konnte, in dem sein geliebter Rottweiler versunken war. Wie in Trance nahm Sam das Winseln von Cookie wahr und nahm all seine Kraft zusammen.
"Cookie, hol Hilfe!"
Der Labrador kannte das Kommando und sah sein Herrchen nur für einen Moment an, als wollte er ihn fragen "Bist du sicher?". Dann scherte er aus und sprang mit großen Sätzen über den See, von immer lauter werdendem Knacken begleitet. Erst als er sicher am Ufer ankam, stieß Sam die angehaltene Luft aus und wandte sich wieder dem Loch zu.
Sam wappnete sich, holte tief Luft, lehnte sich nach vorne... und stürzte ein! Sofort umhüllte ihn eine Eiseskälte, sie fraß sich zuerst in sein Gesicht, dann in seine Hände und durchtränkte seine Kleidung. Er musste sich beherrschen, aus Schreck nicht den Mund aufzureißen, als es sich so anfühlte, als würde sein gesamter Körper mit Nadeln gestochen werden. Das Gewicht des nassen Gewands zog an ihm und er spürte, wie er hinabsank. Panisch schlug er mit den Armen und sah sich hektisch um. War das Dexter? Dort an der Oberfläche? Es war so dunkel!
Aber Sam wusste, wenn er jetzt in Panik geriet, hätten er und Dexter keine Chance. Also zwang er sich, mit kräftigeren und gleichzeitig ruhigeren Schlägen nach oben zu schwimmen. Und tatsächlich sah er, wie sein Rottweiler mit schwachen Tritten seiner Pfoten versuchte, durch das Eis zu gelangen. Er hatte die Öffnung nicht wiedergefunden. Sam griff nach ihm, doch Dexter schlug ihm in seiner Panik mit der Pfote ins Gesicht. Unweigerlich riss Sam seinen Mund auf und sofort drang das eiskalte Wasser in seinen Mund ein. Nur schwer ließ sich der Drang, den Mund erneut zu öffnen, unterdrücken. Seine Bewegungen wurden immer hektischer, das Schwimmen schwieriger, die Entfernung zu seinem geliebten Hund nur langsam geringer. Seine Brust schmerzte und schwarze Punkte umrandeten sein Blickfeld. Er sank immer mehr hinab und sein Kampfgeist erlosch nach und nach.
Doch dann, wie aus dem Nichts, sah er, wie Dexters Körper ebenfalls hinabsank und eine neue Kraft schoss durch ihn hindurch. Er blinzelte die Punkte weg, trat mit den Beinen aus, schlug so kräftig wie noch irgendwie möglich mit den Armen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sein gesamter Körper zu brennen zu bersten schien, erreichte er seinen Hund und schlang die Arme um ihn.
Das Loch im Eis war nun ganz nah. Nur noch wenige Centimeter! Er konnte das schaffen! Mit letzter Kraft trat er aus... und durchstieß dann die Wasseroberfläche. Er hievte Dexters bewegungslosen Körper seines Hundes auf sich und griff mit schwachen Armen nach den Kanten des Eises.
*Zieh dich hoch, zieh dich hoch!*, spornte er sich an. Doch es wurde schwieriger und schwieriger, seine Kräfte verließen ihn nun endgültig. Er spürte schon, wie seine Finger den Halt am Eis verloren und er wieder hinabsank.
Die warme Hand, die die seine ergriff, nahm er bereits nicht mehr wahr.