»Was haben wir?«, fragte Inspector Colin Reedo, als er sein Büro im Complex Central Egara, dem Hauptquartier der katalanischen Polizei, der Mossos d'Esquadra, in Sabadell nordöstlich von Barcelona, betrat. Sein Kollege Inspector Pablo Serrano zuckte nur mit den Schultern.
»Ein ruhiger Morgen so weit.«
Enttäuscht ließ sich Reedo auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
»Die Mörder sind auch nicht mehr so aktiv wie früher«, antwortete er zynisch. Er drehte sich eine Runde um die Stuhlachse, während sein Rechner hochfuhr. Es wurde zu seinem morgendlichen Ritual im Büro, wenn kein Fall zu bearbeiten war. Pablo saß dann immer auf der rechten Ecke des Schreibtischs mit seiner schwarzen Kaffeetasse in der Hand. Für Reedo hatte er seinen heißgeliebten Zitronen-Ingwer-Tee schon bereitgestellt. So saßen die beiden besten Freunde und Kollegen im Büro und warteten auf den Anruf, dass es eine Leiche gab. Doch irgendwie wollte keiner sterben, was Reedo mehr als sichtlich nervte.
Inspector Carlos Garcias war der Dritte im Bunde. Er betrat Reedos Büro und wirkte genauso deprimiert über die fehlende Arbeit, obwohl er auch ganz froh war, dass es mal nicht viel zu tun gab. Er ließ sich auf einen der zwei Sessel vor dem Schreibtisch nieder.
»Irgendwie ist letzte Nacht gar nichts passiert«, bemerkte er, »Die Jungs von der Drogenfahndung meinten, sie hätten keinen einzigen Dealer gesehen.«
»Ich sagte ja, die Kriminellen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren«, gab Reedo nur spitz zurück.
Da klingelte plötzlich das Telefon.
»C.Reedo?«, stellte der Inspector sich vor.
»Inspector, hier ist eine junge Senyoreta, die behauptet, einen Termin bei Ihnen zu haben. Aber ich finde keine Termineintragung bei Ihnen im Intranet. Kann es sein, dass Sie ihn vergaßen, einzutragen?«, säuselte Carla Sangrita, eine von drei Empfangsdamen, in den Hörer.
»Eine junge Dame hat einen Termin bei mir? Davon weiß ich nichts. Beschreiben Sie sie mir bitte.«
»Nun ja, sie ist, schätze ich, Anfang dreißig, ungefähr 1,65m, schlank, hat rotbraune Haare und besitzt ein schmales Gesicht.«
»Warten Sie bitte. Ich komme runter.«
Er lief mit seinem zügigen Gang schnell zum Treppenhaus. Auf dem Weg dachte er über die Frau nach. Die Beschreibung kam ihm nicht vertraut vor und auch so sehr er jedes Gesicht, was er jemals gesehen hat, sich angestrengt ins Gedächtnis rief, so kam auch dort keine Übereinstimmung. Hatte er sie flüchtig einmal gesehen? War er ihr in der Metro oder im Supermarkt begegnet? Hatte sie nur eine neue Haarfarbe und er kann sich deshalb nicht an sie erinnern? Diese Fragen schwirrten ihm im Kopf herum. Er besaß die Fähigkeit, sich jede Person zu merken, welche er jemals gesehen hat. Doch er musste sich auch eingestehen, dass die Beschreibung auf viele Frauen zutreffen könnte und zu vage ist, um sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen.
Unten in der Rezeption angekommen, ging er direkt zu Carla.
»Wo ist sie?«, fragte er und schaute sich jede einzelne Person in diesem großen Raum an.
»Sie sitzt direkt dort drüben, Senyor«, antwortete Carla und deutete auf eine junge Frau, die sich im hinteren Wartebereich auf einem der unbequemsten Plätze ausbreitete.
»Danke, Carla«, sagte Reedo, ohne den Blick von der merkwürdigen Frau abzuwenden. Er ging direkt auf sie zu.
»Bon dia senyoreta, ich bin Inspector Colin Reedo alias C.Reedo von der DIC, Divisió d'Investigació Criminal. Sie behaupteten einen Termin bei mir zu haben, aber ich kann mich beim besten Willen nicht an Sie erinnern. Können Sie mir Ihren Namen verraten?”, begrüßte er sie, während er sie musterte. Seine Hoffnung, etwas aus ihrer Körpersprache herauszulesen, schwand jedoch schnell. Trotzdem ließ er sich nicht entmutigen und versuchte sie zu lesen.
»Sie sind doch der berühmte C.Reedo, der beste Ermittler Spaniens. Sagen Sie es mir!«, sagte sie frech und lächelte herausfordernd, »Sagen Sie mir, wer ich bin.« Sie ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhles fallen und deutete C.Reedo sich ebenfalls hinzusetzen.
»Wer Sie sind, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin kein Meisterdetektiv, der anhand eines Haares drei Morde aufklären kann. Ich bin auch nur ein Mensch, der seine ihm gegebenen Fähigkeiten einzusetzen vermag.«
Ihr schelmisches Lächeln verwandelte sich langsam immer mehr zu einer teuflischen Grimasse.
»Ich bin hier, um einen Mord zu gestehen«, sagte sie kühl und trocken. C.Reedo schaute sie misstrauisch an.
»Mit so etwas scherzt man nicht, meine Dame!«
»Ich scherze nicht. Ich habe einen Mord begangen.«
»Und wo ist die Leiche?«
»Die müssen Sie finden.«
»Haben Sie irgendwelche Beweise?«
»Das ist doch Ihr Beruf, diese zu erbringen.«
»Wenn Sie mir nicht sagen wollen, wo die Leiche ist oder wer der Tote ist und mir dafür auch keine Beweise bringen, so glaube ich Ihnen kein Wort.«
»Das ist dann Ihr Problem und nichts meins.«
Sie saß C.Reedo so selbstbewusst gegenüber wie der Mephisto, als er Faust zu einem Pakt überredete. Ihre Augen strahlten nur so voll Triumph und ihr breites, dämonisches Grinsen ließ sie wie der Teufel in Person erscheinen.
»Ohne Leiche und Beweise können Sie mich nicht verhaften! So bin ich eine einfache Irre, die nur behauptet, jemanden getötet zu haben. Also haben Sie nichts handfestes«, sagte sie so schadenfroh, dass C.Reedo sich sehr stark beherrschen musste, nicht ausfallend zu werden. Sie stand auf und wollte gerade gehen, als sie sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte.
»Catch me if you can, Inspector C.Reedo.«
Mit diesen Worten verabschiedete sie ihn. C.Reedo hallten diese Worte in den Ohren immer und immer wieder nach. Er sprang auf und rannte ihr hinterher, doch sie war schon zwischen den Menschen auf den Straßen von Barcelona verschwunden. Er sah zwei Polizisten von einer Streife zurückkommen und sprach sie an, ob sie die Frau gesehen hätten. Das verneinten sie zu seinem Leidwesen. Enttäuscht und verärgert kehrte er in sein Büro zurück, wo sein kalt gewordener Tee auf ihn wartete.
»Und, wer war sie?«, wollte Pablo wissen.
Doch C.Reedos Antwort viel nur mager aus. »Ich weiß es nicht.«
»Aber irgendetwas muss sie doch von Ihnen gewollt haben«, erwiderte Garcias.
»Sie hat einen Mord gestanden. Doch sie hat mir nicht verraten, wo die Leiche, noch nötige Beweise sind. Also konnte ich sie nicht verhaften. Sie verabschiedete sich auch nur mit den Worten >Catch me if you can!<. Sie hat mich herausgefordert. Und ich werde diese Herausforderung annehmen«, antwortete C.Reedo und drehte sich auf dem Absatz um. Er wollte zu den Profilern.
»Also, dass er nicht ein einziges Mal stillsitzen kann«, bemerkte Garcias und erhielt von Pablo nur ein freundliches Schulterzucken.
C.Reedo klopfte rhythmisch gegen die schwere Tür von Emanuel Santos, einem Profiler.
»Hola, Santos, ich habe eine kleine Aufgabe für dich«, begrüßte C.Reedo ihn und trat in das kleine Zimmer ein.
»Super! Schieß los!»
»Du musst ein Phantombild erstellen, welches ich dann zu einer Vermisstenanzeige hinzufügen kann.«
»Wenn es weiter nichts ist.«
»Aber wenn es möglich ist, den kompletten Körper.«
»Ich werde mein Bestes geben.«
»Danke dir. Also, sie ist Anfang dreißig, ungefähr 1,65m groß, schmaler Körper, schmale Schultern und ein schmaler Kopf sowie das Gesicht…«
»Nicht so schnell!«
Geduldig wartete der Inspector, bis Santos so weit fertig war. Er fuhr fort.
»Sie hat rotbraunes, offenes Haar, welches über einer Schulter hing. Sie hat grünbraune, große Augen. Dazu kommen ein breiter Mund sowie eine eher breite Nase. Ihre Ohren stehen etwas ab. Knapp über dem rechten Ohr hat sie eine kleine Narbe. Auch die linke Augenbraue wird durch eine quer verlaufende Narbe geziert. Sie hat dünne Augenbrauen, die eher an zwei gebrochene Balken erinnern. Noch dazu zu ergänzen wäre ihre hohe Stirn.
Um den Hals hing eine kurze, silberne Kette, jedoch trug sie goldene Ohrringe in Tropfenform. Sie trug keine Ringe auf den Fingern. Um ihr rechtes Handgelenk hatte sie sich einen schwarzen Armreif gebunden und um das linke trug sie eine grüne Uhr mit blauen Ziffern.
Ihre Kleidung wirkt auch mehr wie ein Farbunfall, denn sie trug eine pinke Bluse unter einem gelben Blazer und dazu einen türkisfarbenen Rock. Ihre Füße steckten in einem Paar weinroter Cowboyboots. Ich weiß nicht, ob dieser (vorsichtig ausgedrückt) Kleidungsstil so modern ist, oder ob sie sich einfach nur nicht durchschaubar machen wollte. Letzteres wäre ihr gelungen, denn ich halte sie nicht für so unmodisch.«
»Und jetzt holst du bitte einmal Luft! Meine Güte, hast du sie studiert oder bist du ein wandelnder Fotoapparat?«
C.Reedos Blick sagte mehr als tausend Worte. Natürlich hatte er sie studiert, es ist ja schließlich sein Job. Ein guter Polizist merkt sich so viele Details wie irgendwie möglich. So eine Frage zu stellen, ist ja unglaublich!
Santos gab ihm das Phantombild.
»Ist sie das?«, fragte er vorsichtig. C.Reedo erkannte sie sofort wieder. Seine Antwort klang wie ein aggressives Brummen.
»Ja!«
Er war es nicht gewohnt, dass man ihm auf der Nase herumtanzte. Er war der erfolgreichste Ermittler in ganz Spanien. Seine Aufklärungsrate lag bei hundert Prozent. Und manchmal wurde auch im Ausland über ihn berichtet. Seine Fähigkeiten wurden schon von privaten Personen verlangt, was er meistens ablehnte. C.Reedo hatte auch das Privileg, nicht wie seine Kollegen aus Madrid, sich ständig von der Presse in der Luft zerreißen zu lassen, sondern von ihr in den Himmel gelobt zu werden für die schnelle Lösung des Falles. Nur wäre dieses Privileg nun in Gefahr.
Zurück in seinem Büro, schrieb er die Vermisstenanzeige und dachte über die Frau nach. Dabei flammte immer wieder der höhnische Satz in seinem Ohr auf. Ihm viel es mehr als sichtlich schwer sich zu konzentrieren, egal, wie gut er es zu überspielen versuchte.
Er versuchte sie in Barcelona einzuordnen. Wo könnte sie wohnen? In Ciutat Vella? Oder in der Nähe des Park Güell in Gràcia? Was trägt sie wirklich? Elegant und Marke oder doch eher schlicht und sportlich? Als er auch mit diesen Fragen nicht weiter vorankam, versuchte er ihren Charakter zu ergründen. Sie wirkte erfreut, dem großartigen C.Reedo einen Schritt voraus zu sein. Was könnte das bedeuten? Zielt sie speziell auf ihn ab? Will sie den Mythos des Helden des Volkes ins Schwanken bringen? Will sie ihn nur benutzen, um ein weit größeres Verbrechen aufzudecken? Hat sie eine schlechte Erfahrung mit mächtigen Männern gehabt und will nun an einem vom Volk verehrten Mann ein Exempel statuieren? Er starrte auf das Phantombild.
»Wer sind Sie?«, fragte C.Reedo die Zeichnung.
»Wer ist wer?«, erklang Pablos weiche Stimme. Er lehnte sich an den Türrahmen. »Ist das die Frau?«
C.Reedo strich sich über seinen Dreitagebart.
»Ja, Santos hat sie sehr gut getroffen.«
»Ich wollte in das Archiv. Soll ich die Anzeige mitnehmen?«
C.Reedo schüttelte den Kopf. »Kannst du noch gar nicht. Ich habe sie noch nicht zu Ende geschrieben.«
»Soll ich sie für Sie schreiben?«
Auch dieser Vorschlag wurde verneint. Pablo merkte, dass sein Mentor Zeit für sich brauchte und ging ohne ein Wort. Nur wenn C.Reedo darum bat, dass jemand bei ihm bliebe, so sollte man das auch tun.
C.Reedo widmete sich wieder der Anzeige und stellte für sich fest, dass es keinen Sinn hätte, wenn er weiter seinen Gedanken nachginge.
Nachdem er die Vermisstenanzeige abgegeben hatte, wollte er in sein Büro zurückkehren. Stattdessen wurde er von Pablo, der aus dem Archiv wiederkehrte, aufgehalten.
»Warum haben Sie eigentlich eine Vermisstenanzeige aufgegeben? Hätte nicht ein einfacher Fahndungsaufruf und das Phantombild gereicht?«
»Weil ich denke, der herzzerreißende Hilferuf eines verliebten Verlobten hat mehr Erfolgschancen. Es fühlen sich mehr Menschen angesprochen mit etwas, was sie nachempfinden können. Darüber hinaus können wir nach ihr nicht fahnden lassen, da wir keinen begründeten Tatverdacht und offiziell keinen Fall haben«, antwortete C.Reedo gelangweilt. Nicht wegen der Frage, sondern weil er jetzt wieder warten musste. Er hatte nun einen Fall, der eine ewig lange Anlaufzeit mitbrachte. Das gefiel ihm nicht.
Pablo trottete neben ihm. Er kannte C.Reedo nun schon sein ganzes Arbeitsleben und wusste genau, dass es nichts Schlimmeres gab, als einen gelangweilten C.Reedo. Nicht nur durch seine Gefühlsschwankungen, die eher eine Ausnahme machten, sondern durch die unberechenbaren Handlungen. Mal kam es vor, dass er sich in seinem Büro einschloss und es komplett neu arrangierte. Oder das eine Mal, wo er seinen Revolver geladen reinigte. Etwas musste also passieren, dass ihn ablenkte. Nur was?
Auf dem Gang begegneten sie Garcias. Seine Laune hatte sich angesichts der Flaute doch etwas gehoben.
»Wo willst du denn hin, Garcias?«, fragte ihn C.Reedo, ohne ihn auch nur einmal angeschaut zu haben.
»Wissen Sie, meine Frau hat mich zum Mittagessen eingeladen. Und da ja eh nichts Wichtiges ansteht, dachte ich, ich sage dem ausnahmsweise mal zu«, antwortete er und ging weiter.
Sie kamen an ihren Büros an.
»Falls was Wichtiges sein sollte, machst du das. Ich lege mich hin, bis sich etwas ergibt«, sagte C.Reedo und verschloss seine Bürotür.
Pablo stand verloren auf dem Gang.
»Sachen gibt es, die gibt es ja gar nicht.«