C.Reedo hatte sich die zwei Sessel, die sonst vor seinem Schreibtisch standen, zusammengeschoben, um sich eine kleine Liege zu bauen. Dazwischen schob er sich seinen runter gefahrenen Schreibtischstuhl, damit sein Rücken nicht in der Luft hing.
Eine halbe Stunde verging, eine dreiviertel, eine ganze, schließlich anderthalb Stunden. Nichts passierte. Kein Anruf kam, man habe eine Leiche gefunden. Man brauchte ihn heute nicht. Obwohl er wusste, dass die Anzeige fast noch druckfrisch war, so war seine Ungeduld doch stärker als die kühle Logik.
Er wälzte sich auf der improvisierten Liege von rechts nach links, auf den Bauch und wieder auf den Rücken. Nun waren schon zwei Stunden verstrichen. Er dachte schon daran, sich beim Cap, dem Leiter der kriminalpolizeilichen Abteilung, für den Tag abzumelden.
Aber was wäre, wenn dann plötzlich sich jemand melden würde? Dann wäre er nicht da! Das ginge natürlich überhaupt nicht!
Das Warten sollte sich erst nach einigen Stunden bezahlt machen. Die Langeweile des Inspectors schlug blitzartig in Tatendrang um. Seine Tagesmüdigkeit wurde hinfort gejagt von Adrenalin.
Das Telefon schrillte sehr laut. Das normalerweise ohrenbetäubende Fünftongebimmel war jetzt ein Segen. C.Reedo sprang auf und riss den Hörer an sein Ohr.
»Inspector Colin Reedo alias C.Reedo, Mossos d'Esquadra, Divisió d'Investigació Criminal, Unitat Central d'Homicidis. Mit wem spreche ich?«
»Bon dia, Inspector. Mein Name ist Antonia Ruego. Ich wohne in der Carrer d'Àlaba 39, Barcelona. Die Frau, die seit heute Morgen gesucht wird, die war vor ein paar Tagen hier bei uns im Haus gewesen«, sagte eine ältere Dame in das Telefon. C.Reedo schätzte sie um die 70 Jahre.
»Wann genau haben Sie sie gesehen?«
»Am Dienstagvormittag.«
»Wissen Sie noch die Uhrzeit?«
»Es muss so ungefähr gegen halb elf gewesen sein. Nein, jetzt weiß ich es! Es war dreiviertel elf. Da fängt eine meiner Lieblingssendungen im Radio an.«
»Ich möchte Sie nicht weiter über das Telefon überanstrengen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich persönlich vorbeikäme?«
»Aber im Gegenteil! Ich bitte darum. Schließlich kann ich Ihnen dann etwas merkwürdiges gleich vor Ort sagen.«
»Gut, ich bin in einer guten halben Stunde bei Ihnen.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich renne Ihnen nicht weg. Das lässt mein Rheuma schon nicht zu.«
C.Reedo schmunzelte. Er mochte diese Art von schrulligen Damen.
»Fins llavors.«
»Fins llavors.«
C.Reedo schnappte sich seine schwarze Strickjacke. Seitdem er einmal ohne sie mit der Metro gefahren und danach erkältet war, fuhr er nur noch mit einem langen Oberteil oder einer Jacke damit. Er schloss seine Tür hektisch auf und zu. Er raste die Treppen hinab, stieß mit einer Kollegin zusammen, half ihr auf und rannte weiter. Er öffnete eine Tür und stand plötzlich im Fuhrpark. Er betätigte die Fernbedienung und eines der vielen Autos blinkte kurz. Er beeilte sich und stieg so hastig ein, dass er sich den Kopf stieß. Der Motor brummte, als er den Zündschlüssel umdrehte. Schnell legte er den ersten Gang ein. Die Reifen quietschten und drehten durch. Mit einem Satz schoss der Wagen nach vorn. C.Reedo saß wie ein Rennfahrer darin. Er riss das Lenkrad geschickt herum. Auch wenn er eigentlich es nicht hätte tun dürfen, so schaltete er das Blaulicht an, als er fast über die Autobahn flog. Die anderen Autos fuhren an den Straßenrand oder wechselten die Spur. C.Reedo hatte das Gaspedal voll durchgetreten. Immer wieder schielte er auf die Digitaluhr im Radio. Er wusste, dass er die Zeit jetzt rausholen musste, wenn er durch den Stadtverkehr von Barcelona fahren wollte.
Weit kam er nicht in der Stadt. Es schien einen Unfall gegeben zu haben, weshalb eine der größten Kreuzungen voll gesperrt war. Jetzt konnte der Inspector es vergessen, mit dem Auto weiterzufahren. Er würde nicht pünktlich ankommen. Er scherte kurz in die Gegenfahrbahn aus und wendete. Er fuhr zu einem Parkhaus in der Nähe und stellte dort den Wagen ab. Danach rannte er zu der nächstgelegenen Metrostation. Er zog sich ein Ticket und drängte sich zwischen den vielen Menschen durch.
Als ob eine höhere Macht ihm etwas Gutes tun wollte, kam gerade eine Metro an. Er zwängte sich durch die Menschenmassen an Touristen und Einwohnern, um noch einsteigen zu können. Er atmete kurz tief durch. Jedes >¡Próxima estación!< war eine langsame Erlösung. Jetzt konnte die Arbeit beginnen!
Er stieg an der Station Bogatell aus und ging zügig die Carrer de Pujades hinunter. Er schaute sich die Gebäude dabei genau an. Er bog nach rechts auf die Carrer d'Àlaba ab. Nach 200m stand er vor dem großen Wohngebäude. Er betrat die Eingangshalle und ging zum Rezeptionisten, dem er seine Dienstmarke zeigte.
»Hola. Senyora Ruego, de res«, sagte er und bekam die Wegbeschreibung zu der Wohnung. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock. Der lange, kahle Gang führte direkt auf eine Tür zu. Jedoch war diese nicht C.Reedos Ziel. Er klingelte direkt an der Tür neben dem Fahrstuhl. Eine kleine, rundliche, alte Dame riss die Tür energisch auf.
»Da sind Sie ja endlich. Kommen Sie rein«, sagte sie und ging voraus in die Küche.
C.Reedo musste wieder schmunzeln. Sein Eindruck am Telefon hat sich bewahrheitet. Er folgte ihr und schloss die Tür.
»Also was wollten sie mir sagen?«
»Kaffee?«, fragte sie. C.Reedo winkte ab. Sie setzte sich an den kleinen Tisch. Sie zeigte auf einen freien Stuhl.
»Sie sind noch ein richtiger Gentleman. Sie warten sogar noch, bis man Ihnen einen Platz anbietet.«
»Es gehört sich nicht, in einer fremden Wohnung einfach so ungebeten einen Platz einzunehmen.«
»Nun ja, Sie sind ja hier, um mir zuzuhören. Also ich will dann von vorne anfangen.
Es war Dienstag um zehn Uhr, als ich aufwachte. Ich hatte ein bisschen länger geschlafen. Also war mein ganzer Zeitplan durcheinandergeraten, weshalb ich erst viertel elf mit meiner morgendlichen Körperpflege fertig war. Punkt auf die Sekunde fuhr der Fahrstuhl, wie jeden Werktag, hinab. Ich ging in die Küche, um zu frühstücken. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken und mein Marmeladenbrot gegessen hatte, setzte ich mich an den Fernseher. Da war es schon halb elf. Ich war vorher noch von der Zeitung etwas aufgehalten worden, weshalb mein Frühstück sich etwas in die Länge zog, verstehen Sie? Dreiviertel elf hörte ich den Fahrstuhl hinauffahren und hier halten. Da ich aber um diese Uhrzeit immer allein auf der Etage bin, schaute ich durch den Türspion. Da sah ich sie!
Ich wunderte mich, was sie hier verloren hatte. Sie schien auch eine bestimmte Wohnung zu suchen, denn sie schaute auf jede Klingel, wo ja die Namen oben stehen. Ich öffnete die Tür und fragte sie, ob ich ihr helfen könne. Sie verneinte es, fragte dann aber, ob die Wohnung am Ende des Ganges zu haben wäre. >Das weiß ich nicht, meine Liebe<, sagte ich zu ihr. >Oh, das ist schade. Denn wissen Sie, ich bin auf der Suche nach einer Wohnung mit Meerblick und diese wäre bestimmt perfekt. Ich wusste es, seit ich unten auf der Straße stand und hochgeschaut habe<, erklärte sie sich. Doch irgendetwas war seltsam an ihr. Also hakte ich nach. >Was ist es denn, was sie an dieser Wohnung so sehr mögen?<, fragte ich sie. >Die ruhige Lage<, antwortete sie. Doch das kann gar nicht sein, da wir ja neben diesem scheußlichen Nachtclub wohnen! Wissen Sie, wie laut und unmusikalisch diese „moderne“ Musik ist? Einfach nur grässlich!
Naja, jedenfalls spielte ich ihr vor, dass ich ihr glaubte. >Der Mieter kommt um viertel neun heute Abend erst wieder. Sie können dann gerne mit ihm sprechen<, erklärte ich ihr meinen Vorschlag, denn ich weiß, dass Senor Umberto niemals seine Wohnung aufgeben würde. Sie verabschiedete sich und nahm den Fahrstuhl wieder nach unten. Das war der Dienstag.
Nun folgt Mittwoch. Da war ich schon seit zehn nach neun wach, da ich nicht mehr schlafen konnte. Ich schaute also schon eine ganze Weile fern, als der Fahrstuhl wieder auf die Sekunde viertel elf hinunterfuhr. Nur fuhr er nicht einmal fünf Minuten später wieder hierher, was mehr als seltsam war, denn um viertel elf verlässt der letzte Mieter die Etage. Und wen sah ich wieder auf dem Flur? Diese Frau! Ich öffnete wieder die Tür und sprach mit ihr. >Verzeihung, aber ich war gestern Abend etwas verhindert<, entschuldigte sie sich, >Ich dachte, früh hätte ich eine bessere Chance, den Mieter anzutreffen.< >Nein, mein Kind. Der ist wie alle anderen auf der Etage ab zehn Uhr außer Haus<, erwiderte ich. >Ist das so? Oh!<, waren ihre letzten Worte, bevor sie ging. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.
Wenn Sie mich fragen, so denke ich, dass sie ein Verhältnis mit Senyor Umberto hatte und er Schluss gemacht hat. Sie kann es nicht verkraften und will ihn unbedingt zurück«, erzählte die kleine Frau ohne Pause.
C.Reedo hatte sein Kinn und Mund zwischen Handinnenfläche und dem Ring- und kleinen Finger eingeklemmt. Sein Zeige- und Mittelfinger ruhten auf seinem rechten Wangenknochen.
»Eine interessante Geschichte, die Sie mir erzählt haben. Nein, wirklich! Sogar äußerst hilfreich sogar!«, sagte er gedankenverloren. Er dachte darüber nach, warum die Frau unbedingt in die Wohnung oder zu Umberto wollte.
»Sie haben mir sehr geholfen. Ich danke Ihnen vielmals. Sie haben mich auf eine neue Spur gebracht. Wenn ich den Fall abgeschlossen habe, bringe ich Ihnen einen großen Blumenstrauß vorbei«, bedankte sich C.Reedo bei der Dame. Sie brachte ihn bis zur Tür, wo sie sich verabschiedeten.
C.Reedo stieg die Treppen zur Rezeption hinab. Er hatte oben auf seine Uhr geschaut. Da war es sechzehn Uhr zwölf gewesen. Er hatte jetzt vier Minuten für die Treppen gebraucht. Etwas, was er sich merken wollte, warum auch immer.
Er ging wieder zu dem Rezeptionisten.
»Wissen Sie, wann Senyor Umberto zurückkehren wird?«
Der Rezeptionist schaute auf seinen Bildschirm. »Um Punkt zwanzig Uhr vierzehn.«
»Und wann geht er früh?«
»Er fährt auf die Sekunde genau viertel elf mit dem Fahrstuhl. Wenn er mal ein paar Sekunden zu spät ist, dann hetzt er sich immer ganz schön ab.«
C.Reedo murmelte vor sich hin. »Viertel elf Uhr geht er. Um zwanzig Uhr vierzehn kommt er. Oben ist er viertel neun bei seiner Wohnung. Gut zu wissen.«
Er wandte sich wieder dem anderen Mann zu. »Hat er öfter Damenbesuch?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Weil Sie es nicht können oder wollen?«
»Ich weiß es einfach nicht.«
»In Ordnung, haben Sie sie schon einmal hier gesehen?« C.Reedo holte das Phantombild hervor.
»Sie war am Montag hier gewesen und hat sich nach der Wohnung von Senyor Umberto erkundigt.«
»Nannte sie einen Grund?«
»Sie sagte, sie hätte etwas mit ihm zu bereden.«
»Wie heißt er eigentlich mit Vornamen?«
»Roberto.«
»Und wo arbeitet er?«
»Das hat er nie gesagt.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, bedankte sich C.Reedo und ging. Nun hatte er einen Ansatz. Er musste nur bis zum Abend warten und konnte dann neue Erkenntnisse sammeln. Doch jetzt musste er zurück ins Büro. Die Arbeit hatte nun richtig angefangen.
Er lief langsam zur Metro zurück. Er dachte weiter darüber nach, was die Frau und dieser Umberto verbinden könnten. Waren sie wirklich mal ein Paar gewesen? Nein, das klingt zu abwegig, nach dem, was der Rezeptionist und die ältere Dame erzählt haben. Was könnte sie noch verbinden? Die Arbeit? Vielleicht. Wenn sie beruflich miteinander schon mal zu tun gehabt haben, in welcher Branche dann? Sie wirkte nicht wie eine Frau aus dem sozialen Bereich. Im medizinischen? Gut möglich. Es kann aber auch in der Wirtschaft ein Beruf sein. Es bringt nichts, wenn man spekuliert. Man braucht noch mehr Fakten. Und die werden sie sich jetzt beschaffen!