Von Träumern und Realisten
Jesse
Er hört Cassie neben sich leise atmen. Sie schläft tief und fest und er, obwohl es das erste Mal seit Tagen ist, dass sie wieder gemeinsam in einem Bett schlafen, bekommt kein Auge zu. Sie hat nicht gefragt wie es gelaufen ist, als er am Nachmittag heimgekommen ist, sie wollte nur wissen ob die Sache erledigt ist und ein einfaches „Ja“ aus Jesses Mund hat ihr zur Antwort gereicht. Wenn er ehrlich ist, kann er ihr das nicht einmal Übel nehmen. Wäre er an ihrer Stelle hätte er vermutlich auch nicht gefragt. Was hätte das auch geändert. Nichts. Jesse wird aus dem Bett getrieben. Er kann einfach nicht schlafen. In der Küche ist er ebenso rastlos wie zuvor im Bett. Er beschließt, dass er raus muss. Er hält es in diesen vier Wänden nicht aus. Obwohl es hier nichts gibt, was ihn auch nur Ansatzweise an Xander erinnern würde, so scheint ihn hier drin doch gerade alles zu erschlagen. Und er kennt die Wahrheit: Was ihn zu erdrücken scheint ist sein schlechtes Gewissen. Und die bittere Realität ist, dem kann er nirgendwo entfliehen. Dennoch muss er raus.
Draußen vor der Tür nimmt er einen tiefen Atemzug. Die Nachtluft ist kalt und tut ihm zumindest für einen Moment gut. Doch die Linderung ist nur von kurzer Dauer.
Jesse geht ein Stück. Lediglich vom schummrigen Licht der Straßenlaternen begleitet. Er will auf die Uhr sehen, doch es ist zu dunkel um eine Uhrzeit zu erkennen. Wenn er sich direkt unter eine der Laternen stellen würde, könnte er sie lesen, aber er meidet das Licht. Er denkt an das Handy in seiner Hosentasche. Das Display leuchtet nur schwach, zeigt ihm aber die Uhrzeit. Kurz vor 1:00 Uhr. Er schaut auf das kleine Symbol des Telefonbuches. Viele Nummern stehen nicht darin. Die Handynummer seines Vaters. Die Nummer von Daheim in Fairfield. Sowie die einiger Kommilitonen und nicht zuletzt Jorells. Das kleine Gerät liegt schwer in seiner Hand. Kann er…? Vermutlich schläft sein Freund längst. Wenn sie das denn noch sind, Freunde. Er hat sich wirklich daneben benommen. Dabei hat Jo es nur gut gemeint. Jesse zögert, bevor er den Eintrag im Telefonbuch anwählt und er zögert abermals, bevor er auf die kleine Taste mit dem grünen Telefon drückt. Vielleicht sollte er mal darüber nachdenken sich ein neues Handy zuzulegen. Die gibt es ja jetzt auch mit Touch. Wie auch immer.
Eine Weile hört er nichts, außer einem gleichmäßigen tuten in der Leitung. Wahrscheinlich schläft Jo auch tief und fest. Wer tut das um diese Uhrzeit nicht? Dann geht die Mailbox ran. Welche selten dumme Idee. Was hat er auch erwartet? Lustlos tritt er einen Stein vor sich her. Die Straßen erscheinen ihm, mag es auch noch so spät sein, merkwürdig leer und doch ist er irgendwie froh darüber. Es ist nicht so, dass er sonst unbedingt erpicht darauf wäre alleine zu sein, aber gerade ist es ihm doch ganz genehm. Vielleicht auch besser, dass er Jo nicht erreichen konnte. Es reicht, wenn er selbst weiß, wie bescheuert er sich verhalten hat, er muss das bei genauerem betrachten nicht auch noch breittreten. Nach einer Weile bleibt er stehen. Vom Laufen schmerzen ihm die Füße. Er ist die Delancey Street bis zum Luther Gulick Park hinunter gelaufen und nun weiß er nicht so recht weiter. Er steht vor einem verschlossenen Gitter. Natürlich. Es ist ja auch lange nach 22:00 Uhr. Aus irgendeinem Grund fährt seine Hand über das Metall der Gitterstäbe. Es ist rau und kalt. Jesse erschaudert. Resigniert beschließt der Fünfundzwanzigjährige den Heimweg anzutreten. Es ist kalt, um nicht zu sagen eiskalt und immer wieder regnet es. Er kann schließlich nicht die ganze Nacht hier draußen verbringen. Unweigerlich muss er an Xander denken. Es ist bescheuert, aber beinahe augenblicklich bildet sich ein Klos in seinem Hals und sein Herz, das faktisch gerade einmal 300g wiegt, ist auf einmal blei schwer. Die ganze Zeit muss er daran denken, wie er den Jüngeren im Auto angefahren hat? Wieso? Er kann sich diese Frage selbst nicht beantworten. Er wünscht sich gerade nur, er könnte die Zeit zurückdrehen oder doch zumindest seine Worte zurück nehmen. Beides geht nicht. Was Xander gerade wohl macht? Er will glauben, dass alles in Ordnung ist, schließlich hätte Mike sich doch sonst bei ihm gemeldet, oder nicht? Aber in ihm schreit es förmlich, dass es das nicht ist. Das gar nichts in Ordnung ist. Nicht bei Xander und noch viel weniger bei ihm selbst!
Jesse fährt erschrocken zusammen, als plötzlich sein Handy klingelt. Einen momentlang starrt er einfach nur die Nummer auf dem Display an. Jorell. Jesse zögert. Dann drückt er doch auf den grünen Hörer.
„Voici Jorell. Jesse bist du da?“
Jos Stimme ist unverkennbar. Ganz gleich ob Jesse gerade noch der Ansicht war, er wäre gerne alleine, er ist so unendlich froh diese Stimme zu hören, egal wie sauer Jorell eventuell auf ihn ist.
„Jesse? Que se passe t-il? Hörst du mich überhaupt?“
„Oui, ehm ja, oh Gott.“
Er hört ein Schnauben. Dann ein Lachen.
„Okay, an deiner Aussprache müssen wir noch feilen. Das war bestenfalls …“
„Jo.“
Jesse unterbricht ihn, was außerordentlich unhöflich ist, ihn gerade aber herzlich wenig schert.
„Ehm, ja?“
„Es tut mir Leid!“
„Oh Jesse…-“
„Nein warte, ich muss dir das jetzt sagen. Ich habe mich letztens wie ein Vollidiot benommen. Sein wir ehrlich, eigentlich nicht nur letztens. Ich benehme mich seit Wochen wie ein Idiot und ich weiß, dass du’s nur gut gemeint hast. Ich wollt’s nur einfach nicht hören. Wenn es einen Preis für schlechte Freunde zu gewinnen gäbe hätte ich ihn vermutlich schon in der Tasche, weil ich in den letzten Wochen nicht für dich da war und ich kann das nicht mehr ändern, aber ich will einfach, dass du weißt, das es mir leid tut, auch wenn diese Entschuldigung wirklich schwach ist.“
Es ist Stille in der Leitung.
„Ja, schwach ist das richtige Wort“
Jesse schluckt.
„Mon dieu, das war ein Witz, Jesse …“, Jesse atmet erleichtert aus - plötzlich ist sein Herz wieder ein Stück leichter - während Jorell unbeirrt fortfährt „und ich weiß das zu schätzen. Ich meine, dass du über deinen Schatten gesprungen bist, um mir das zu sagen. Auch wenn das wahnsinnig schwul klang, was du faktisch gesehen ja vielleicht auch bist, aber darüber reden wir besser ein andern Mal.“
„Ehm Danke?“
„Nicht dafür. Nur das wir uns nicht falsch verstehen, ich finde es toll, dass du extra anrufst um dich zu entschuldigen, aber das ist doch nicht der einzige Grund weshalb du versucht mich nachts um halb zwei aus dem Bett zu klingeln, oder?“
„Ich fürchte schon. Also Ja. Obwohl, eher nein.
„Was denn jetzt?“
„Jein …?“
„Ist das ein Wort?“
„Nein.“
„Jesse, wegen dir wird mein englisch nie perfekt werden!“, regt der Franzose sich gespielt auf.
„Sicher, das ist bestimmt deine größte Sorge. Jetzt, wo ich dich wach geklingelt habe.“
„Hast du nicht. Ich saß am Steuer und konnte deshalb nicht ans Handy gehen.“
„Du hast doch gar kein Auto.“
Jesse legt die Stirn in Falten. Was will sein Freund ihm da weiß machen?
„Ich habe ja auch nicht behauptet ich würde mein Auto fahren, oder? Das steht Zuhause in Lyon. Wir waren mit dem Waagen von Maries Mutter unterwegs.“
„Was, wieso?“
„Na, weil sie keinen eigenen hat und fahren durfte sie ohnehin nicht mehr, sie hat was getrunken.“
„Okay, ich glaube ich komme nicht mehr mit.“
„Schwing deinen Arsch zu mir rüber und ich erzähle es dir.“
„Ist Marie nicht bei dir? Nein, j'ai des bonnes manières. Ich bin ein Gentleman und habe sie brav nach Hause gebracht. Eigentlich bin ich sogar ein doppelter Gentleman, schließlich habe ich ihren Bruder auch nach Hause gebracht.“
„Ihren Bruder?“
„Wie gesagt, komme her, dann erzähle ich es dir.“
Jesse denkt an Cassie. Sie wird wahrscheinlich glauben er hat die Nacht bei Xander verbracht, wenn sie in ein paar Stunden aufwacht und er ist nicht da. Dennoch beschließt er es darauf ankommen zu lassen. Dieser Gedanke ist es nicht einmal, der ihn stört. Viel schlimmer ist, er würde die Nacht, nein Schluss damit, nicht daran denken.
„Okay bis gleich“. Sagt er und macht sich auf den Weg zu Jos Wohnheim.
Die nächsten drei Stunden lassen Jesse zumindest für einen Augenblick vergessen. Plötzlich ist alles wie früher. Gleichsam wird ihm klar, wie viel er in den letzten Wochen aus dem Leben seines besten Freundes verpasst hat. Er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass es ihm hätte auffallen können. Jetzt tut es das aber. Und er bereut es. Jo schwebt gerade definitiv auf Wolke 7, weshalb er bei fast schon unheimlich guter Laune ist. Marie und er sind mittlerweile ganz offiziell ein Paar. Jo hat sogar schon ihre Mutter kennengelernt und versteht sich mit ihr so gut, wie man sich mit eine extrem behütenden mexikanischen Mutter eben verstehen kann, wenn man ihre einzige – noch dazu ohne jeden Zweifel bildhübsche – Tochter datet. Immer wieder betont Jo zudem, wie die Beziehung zu Marie das Beste ist, was ihm je passieren konnte. Ganz zu Jesses erstaunen, denn solche Aussagen sind durchaus nicht typisch für ihn. Mit seiner charmanten Art und seinem Aussehen hatte er bisher bei den Frauen immer leichtes Spiel und es wäre gelogen zu behaupten der junge Franzose hätte das nicht ausgenutzt. Dass es sich mit Marie ein wenig anders verhält, die ihn ja auch schon abblitzen lassen hat, war zwar von Anfang an klar, erwartet hat der Medizinstudent es dennoch nicht. Irgendwann zwischendurch hat Jesse ihn dann auch, nicht ohne einen Hauch Neugier, gefragt, wie das alles erklären soll, warum Jo Marie und ihren Bruder durch die Gegend kutschiert. Die Antwort ist simpel und irgendwie ist sie es auch nicht. Jo war mit Marie aus und sie hatte die Erlaubnis ihrer Mutter den Wagen mitzunehmen. Den hat sie selbst allerdings nur bis zur Disco gefahren, weil sie sich den ein oder anderen Cocktail und diverse Hochprozentige gegönnt hat. Dabei betont der junge Mann, dass er sich als Fahrer natürlich brav zurück gehalten und nur Wasser getrunken hat, Jesse kann sich denken, dass der Grund nicht nur aufs Fahren zurückzuführen ist. Immerhin erklärt das, warum Jo ein fremdes Auto gefahren ist.
Sein Freund ist nicht gerade wenig angepisst als er dann erzählt, dass es zwischen ihm und Marie gerade intimer wurde, als sie von einem Anruf auf Maries Handy unterbrochen wurden. Armer Jo, Jesse kann nur erahnen, wie sehr ihn das wohl insgeheim jetzt noch ärgert. Der Lockenkopf verdreht die Augen, als er anmerkt, dass Marie für ihren kleinen Bruder alles Stehen und Liegen lässt. Im wahrsten Sinne des Wortes, wie er erfahren musste. Der hat nämlich angerufen, weil er auf dem Polizeipräsidium festsaß und nur gegen Kaution wieder auf freien Fuß durfte. Jesse wusste nicht einmal, dass Marie Rodriguez einen kleinen Bruder hat, wirklich kennen tut er die bildhübsche Latina aber ja auch nicht. Amüsant findet er aber viel mehr, wie Jo weniger von der Tatsache mit der Polizei schockiert ist, als davon wie seine Freundin sich am Telefon in eine Furie verwandelt hat, die ihrem Bruder auf Spanisch die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf geworfen hat. Wahrscheinlich verdient, in Anbetracht dessen das der sich in Polizeigewahrsam befand, aber Jo betont, dass es sich wohl lediglich um eine Kleinigkeit gehandelt hat. Dennoch sind sie dann natürlich los gefahren, um den Jungen abzuholen. Damit war der Rest der Nacht aber natürlich gelaufen. Deshalb war Jo also nicht in der Lage ans Handy zu gehen, als Jesse ihn angerufen hat. So viel dazu. Obwohl Jesse gerne länger geblieben wäre – vor allem weil ihm so viel auf den Herzen liegt, über Cassie und Xander haben sie gar nicht erst gesprochen - verabschiedet er sich noch in den frühen Morgenstunden von seinem Kumpel, der mal wieder beschlossen hat, dass seine Uni Vorlesungen warten können. So erhöhen sich die Chancen doch noch neben Cassie zu liegen, wenn sie bald erwacht. Außerdem braucht er selbst unbedingt noch ein wenig Schlaf, denn er kann seine Vorlesungen nicht so mir nichts dir nichts ausfallen lassen.
Die Wohnungstür fällt leise ins Schloss, als Jesse vorsichtigen Schrittes über den Flur zum Schlafzimmer der zwei Zimmer Wohnung huscht. Wieder einmal macht er einen großen Bogen um die Topfpflanze, die noch immer äußerst ungünstig steht. Für einen Moment denkt Jesse daran, dass hier nicht genug Platz für ein Baby ist und fragt sich, wie die nächsten Monate aussehen sollen. Warum fühlt er sich eigentlich wie ein Schwerverbrecher, obwohl er nichts getan hat? Im Schlafzimmer ist jedenfalls alles ruhig, als er leise die Eichentür öffnet. Cassie schläft noch immer tief und fest. Ihre Atemzüge sind sanft und gleichmäßig. Vorsichtig legt Jesse sich zurück ins Bett. Nur der Dreck an seinen Schuhen im Flur zeugt davon, dass er heute Nacht fort gewesen ist.
Der Wecker klingelt am Morgen viel zu früh. Aber es hilft ja alles nichts. Jesse weiß, dass er die Vorlesung unmöglich ausfallen lassen kann. Cassie neben ihm murmelt irgendetwas im Halbschlaf. Er stellt den Wecker schnell aus, damit sie weiterschlafen kann. Im Halbdunkeln tasten seine Finger nach der Brille, die auf dem Nachttisch liegen muss. Da ist keine. Eine Sekunde später weiß Jesse auch warum. Als er aufsteht um das Licht anzuschalten, die Glühbirne der Nachttischlampe ist kaputt, tritt er auf etwas, dass am Boden liegt. Gott, nicht wirklich! Unwillkürlich flucht er. Die Bügel seiner Brille sind verbogen und Cassie ist nun doch wach, obwohl sie heute viel später los muss als er. Er sagt ihr sie soll liegenbleiben und noch schlafen, dann sucht er sich vorsichtig seinen Weg in die Küche. Zu seinem Verdruss muss er in eine leere Teepackung starren, als er die Küchenschublade öffnet. Darauf hat er die letzten Tage nicht geachtet. Ärgerlich. Der Tag kann ja nur noch besser werden. Er muss besser werden. Aber wie es Murphys Gesetz will, wird er das nicht. Denn kaum das er gefrühstückt hat, ohne seinen Tee, was seine Laune nicht gerade steigert, muss er im Bad feststellen das sein Haargel leer ist. Das kann doch nicht wahr sein. Der junge Mann mit dem rotblonden Haar steht vor dem Spiegel und blickt einem absolut genervten Gesicht entgegen. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab und er sieht, ganz objektiv betrachtet, furchtbar aus. Ein drei Tage Bart aus roten Stoppeln komplettiert den grauenvollen Anblick. Jesse seufzt einmal tief und schüttet sich eine kalte Ladung Wasser ins Gesicht. Nun fühlt er sich zwar ein bisschen besser, aber sein Aussehen ist dadurch auch nicht besser geworden. Normalerweise würde er jetzt alles daran setzen wieder Salonfähig auszusehen, bevor er das Badezimmer verlässt. Heute ist allerdings nicht normalerweise und so lässt er es einfach bleiben.
Im Flur stellt er auch noch fest, dass sein Autoschlüssel nicht am Haken hängt. Okay, das ist zu viel des Guten. Er ist nur noch einen Millimeter davon entfernt einen Wutanfall zu bekommen, als Cassie ihm den Autoschlüssel vor die Nase hält. Jesses angespannte Haltung lockert sich ein wenig und er reibt sich müde über das Nasenbein als er meint:
„Jetzt bist du ja doch aufgestanden.“
Sie zuckt mit den Schultern.
„Warum nicht?“, fragt sie.
„Weil du noch schlafen könntest.“
Ihr Blick wird weich. Sie lächelt und schüttelt den Kopf, als sie ihm den Schlüssel entgegen hält. Jesse sieht in ihre Kornblumenblauen Augen, die ihn sonst immer gefangen genommen haben und die Erkenntnis trifft ihn wie einen Schlag. Da ist nichts. Warum, fragt er sich unwillkürlich. Warum liebt er sie nicht mehr?
Noch immer hält Cassie ihm den Schlüssel entgegen. Langsam lässt sie ihre Hand wieder sinken. Sieht ihn an.
„Jesse, ich weiß …“, setzt sie an, fährt dann aber nicht fort. Auf einmal schaut sie wie ein ängstliches kleines Mädchen auf ihre Füße. Jesse weiß nicht, was er machen oder sagen soll. Er fühlt sie wie gelähmt. Also tut er einfach nichts. Plötzlich schlingt sie ihre zierlichen Arme um seinen Hals. Er kann ihren warmen Atem an seiner Halsbeuge spüren, als er sie flüstern hört:
„Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich.“
Vorsichtig umschließt er sie mit seinen Armen. Für einen Moment stehen sie nur so da und in Jesses Augen brennt es. Er weiß nicht einmal, warum ihm zum Weinen zumute ist, aber er beherrscht sich. Als sie sich wieder voneinander lösen, sieht Cassie ihm nicht in die Augen. Sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand, murmelt sie gehe noch einmal schlafen und drückt ihm einen hauchzarten Kuss auf die stoppelige Wange. Im nächsten Moment ist sie fort. Jesse zittert. Er kann nicht einmal sagen warum. Aus medizinischer Sicht ist das jedenfalls nicht zu erklären.
In der Uni ist er heute abgelenkter denn je. Er kann sich nicht auf die Vorlesung konzentrieren und noch weniger auf seine Kurse. Als er gegen Mittag in der Bibliothek vorbeischaut, will Mrs. Norton von ihm wissen ob er krank ist, weil er so schlecht aussieht und Jesse, der sich sonst so gerne einmal mit der netten älteren Dame unterhalten hat, flüchtet regelrecht aus der Bibliothek. Was soll er ihr auch sagen? Nein, ich bin nicht krank, ich bin gerade nur dabei mein Leben zu ruinieren? Klingt nicht nach einer alltagstauglichen Antwort, ist sie auch noch so wahr.
Als er am frühen Abend den Campus verlässt ist er völlig geschafft. Ob es nun am Arbeitspensum liegt, in etwa drei Monaten wird er die School of Medicine verlassen um seine Facharzt Ausbildung zu beginnen, oder daran, dass er gerade nicht besonders Leistungsfähig ist, lässt sich schwer sagen. Da gibt es gerade so einen Haufen von Dingen über die er sich Gedanken machen muss, dass da gerade einfach keinen Platz mehr in seinem Hirn ist. Was natürlich Unsinn ist. Die etwa 86 Milliarden Nervenzellen in seinem Hirn arbeiten wie immer. Zumindest nimmt er das an. Eigentlich müsste er jetzt noch im „Ma Maison“ vorbei schauen, um sich für den nächsten Monat den Schichtplan abzuholen, aber dazu hat er gerade schlichtweg keine Motivation mehr. Stattdessen will er auf den direkten Weg nach Hause gehen, als ihm einfällt, dass er zumindest im nächsten Supermarkt vorbeischauen sollte um Tee und Haargel zu besorgen. Nicht das Morgen ein ebenso großes Desaster wird wie heute.
Er kommt gerade aus dem Drugstore als sein Handy klingelt. Jesse schaut nicht einmal auf das Display, bevor er ran geht. Vielleicht hätte er das tun sollen.
„Jesse.“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt so angespannt, dass es kein Kunststück ist zu erraten, wie wütend die zugehörige Person ist.
„Mike“, antwortet Jesse nur schlicht.
„Du hast mir nicht zufällig irgendetwas zu erzählen, oder?“, fragt der Sozialarbeite mit einem etwas zu süßlichen Unterton. Jesse kann sein seufzen nicht unterdrücken.
„Geht es um den Streit den Xander und ich gestern Nachmittag hatten“, fragt er selbst vielleicht ein wenig zu genervt.
„Das weiß ich nicht, sag du’s mir. Xander hat mir nicht gesagt was vorgefallen ist, ich weiß nur, dass ich ihn gestern Nacht vom Polizeipräsidium abholen musste und das er seitdem völlig apathisch in seinem Zimmer sitz, sodass wir heute Morgen sogar in seiner Schule anrufen musste, um ihn zu Entschuldigen.“
Jesse schluckt. Oh, Gott. Xander. Aber statt zu sagen, was ihm als aller erstes durch den Kopf geht, antwortet er kühl:
„Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Außerdem habe ich ihn gesagt, dass ich gerade einfach keine Zeit für seine Belange habe.“
In der Leitung ist ein lautes Schnauben zu hören.
„Was soll das Jesse?“, fragt Mike mit unverhohlener Wut in der Stimme. Es fehlt vermutlich nicht mehr viel, damit er die Geduld verliert. Ja, was soll das eigentlich?
„Ich weiß nicht wovon du sprichst.“
Er versucht bei diesen Worten möglichst distanziert zu klingen.
„Aha. Ich weiß aber ziemlich genau wovon ich spreche“, Mikes Geduldsfaden ist gerissen, er redet sich in Rage „… wenn es dir so scheiß egal ist und du ach so wenig Zeit hast dann tu mir nur diesen einen Gefallen und verpiss dich. Denn genau das, was du da gerade abziehst, kann der Junge absolut nicht gebrauchen. Verstanden? Bleib einfach weg, ja?“
Damit ist das Gespräch beendet. Es ertönt nur noch ein Klicken in der Leitung. Er weiß nicht ob er sich freuen soll – jetzt hat er es sich zumindest endgültig verbaut – oder ob er heulen soll.
Als er in die Wohnung kommt beendet Cassie gerade ein Telefongespräch. Vermutlich mit einer ihrer Freundinnen. Jesse könnte sie danach fragen, aber er hat keinerlei bestreben dazu. Stattdessen geht er in die Küche um ein paar der Einkäufe einzuräumen. Cassie kommt ihm hinterher.
„Du bist zurück“, stellt sie fest.
„Offensichtlich“, antwortet er angespannt.
Dann atmet er tief durch und fügt gleich an:
„Entschuldige, heute ist einfach nicht mein Tag.“
Cassie nickt nur, bevor sie fragt:
„Können wir reden?“
Plötzlich hat er ein Déjà-vu, aber er antwortet nur:
„Sicher.“
Zum Reden gehen sie ins Wohnzimmer. Cassie sitzt kerzengerade auf der Couch und Jesse würde am liebsten stehen bleiben. Kurz denkt er an die Hütte in Wisconsin und sein Gespräch mit Xander im Wohnzimmer. Xander saß nicht kerzengerade. Er kann sich daran erinnern, wie schutzlos Xander wirkte, als er sich auf dem Sofa zusammenkauerte. Die Beine angezogen und die schlanken Arme darum geschlungen. Er schüttelt den Kopf um den Gedanken von heller Haut, tiefschwarzen federnden Haar und tiefbraunen Augen zu verscheuchen. Cassandra wartet bis er sich gesetzt hat, dann fängt sie an:
„Ich…, ich weiß das diese ganze Situation für dich ebenso einer Katastrophe gleichkommt wie für mich und ich kann gerade nicht wirklich in Worte fassen, was ich denke und was ich fühle, ich kann nur sagen … Ich habe Angst, Jesse. Ich habe unendlich große Angst.“
Jesse schluckt. Solch deutliche Worte hat er nicht erwartet. Sie schweigt. Für einen Moment ist es vollkommen still und Jesse kann beobachten wie Cassie eine ihrer langen braunen Haarsträhnen zwischen die Finger nimmt und sie eindreht. Das tut sie immer, wenn sie nervös ist. Aber er hat diese Geste schon lange nicht mehr bei ihr gesehen. Zuletzt in der Schulzeit und die liegt bald acht Jahre zurück.
„Weißt du“, setzt er an und muss einen Augenblick darüber nachdenken, was er sagen soll und will, bevor er weiter spricht senkt er den Blick „ich habe auch Angst. Unwahrscheinlich sogar. Ich weiß nicht, wie wir das schaffen sollen, mit einem Baby, der Uni und der Arbeit und wenn ich daran denke, was noch alles auf uns zukommt, bekomme ich nur noch mehr Angst. Und obwohl ich diese Angst habe und mich fast wie erschlagen fühle, weil gerade einfach alles viel zu viel ist, weiß ich doch, dass wir es schaffen können. Wir haben uns. Was brauchen wir mehr?“
Als er wieder aufblickt weint Cassie. Ihre Tränen laufen wie Sturzbäche. Ihre Hände Zittern und dann vergräbt sie ihr Gesicht in ihrem Arm. Wischt sich schnell mit dem Ärmel über die Augen, als wollte sie, dass Jesse sie nicht weinen sieht. In ihm zieht sich alles zusammen. Egal was gewesen ist, es tut weh, sie so zu sehen. Er breitet seine Arme aus und ein paar Sekunden später liegt sie darin. Er vergräbt sein eigenes Gesicht in ihren Haaren. Die Verzweiflung und die Angst vor dem Ungewissen der Zukunft scheinen gerade übermächtig, aber er weiß, dass er sich dem nicht hingeben darf. Er ist der Mann. Er hat stark zu bleiben. Also schluckt er alles runter, was ihm gerade noch auf der Zunge liegt und er verbietet sich jeden noch do dunklen Gedanken, stattdessen fragt er leise:
„Willst du es deinen Eltern sagen?“
Er kann ein Nicken an seiner Brust spüren.
„Ich weiß nur noch nicht wann“, nuschelt sie in sein Hemd.
„Wir sollten nicht zu lange warten“, überlegt er mit leiser Stimme.
„Okay“, kommt es schlicht von ihr zurück.
Eigentlich sind sie am Wochenende mit einigen Freunden zum Bowlen verabredet, mit anschließender Pub Tour, aber danach ist ihnen beiden nicht. Cassie darf ab jetzt auch nicht mehr Trinken - und so beschließen sie ihren Eltern Bescheid zu geben und das Wochenende zum Überbringen der Neuigkeit zu nutzen. Ganz wohl ist ihnen dabei nicht. Kaum zu glauben, dass er die Nachricht selbst erst vor ein paar Tagen erhalten hat. Jesse kann nur erahnen wie seine Eltern reagieren werden. Cassie jedoch ist noch deutlich nervöser als er. Kein Wunder. Jesse wird auch schummrig bei dem Gedanken Kurt mitzuteilen, dass Cassie ein Kind erwartet. Noch dazu ein uneheliches. Der Mann glaubt ja tatsächlich noch immer, Jesse und seine Tochter würden sich an das Zölibat halten – woran Cassie und er zugegeben nicht unwesentlich Schuld sind. Noch eine Sorge mehr, aber sie kommen nicht darum herum.
Die Tage bis zum Wochenende vergehen unangenehm schnell. Zu schnell, für Jesses Geschmack. Vielleicht sind die Tage gerade jetzt so schnell vergangen, weil das mit der Zeit immer so eine Sache ist, wenn man sie an liebsten anhalten würde – aus welchen Gründen auch immer – rast sie und wenn man etwas gerne hinter sich haben möchte oder auf etwas bestimmtes wartet, dann schleicht sie bekanntlich. In diesem Fall ist es so, dass er die Zeit am liebsten rückwärts laufen lassen würde und wahrscheinlich rast sie eben deshalb. Cassie und er reden anders miteinander, als noch vor ein paar Wochen. Es ist, als ob jeder von ihnen versucht die falschen Worte wegzulassen und weil es leichter ist dann keine Worte zu nutzen, reden sie kaum miteinander. Und wenn sie es tun, sind ihre Gespräche merkwürdig oberflächlich. Überhaupt fragt sich Jesse das ein ums andere Mal, ob sie eigentlich noch immer dieselben Menschen sind, die fast zehn Jahre ihres Lebens als Paar verbracht haben. Wenn er Cassie jetzt reden hört, hat er zum Teil das Gefühl sie gar nicht zu kennen. Sie erzählt von Dingen, die ihm fern und irrelevant scheinen und spricht von Leuten, zu denen er kein Gesicht mehr vor Augen hat, obschon sie zu ihrem gemeinsamen Freundeskreis gehören. Es ist verrückt wie ein paar Tage dein Leben verändern können, aber Jesse hat den Eindruck es gibt ein Leben vor Xander und eines mit ihm. Und nun ganz offensichtlich auch eines nach ihm. Darüber darf er gar nicht erst nachdenken. Er tut es trotzdem. Ständig. Als sie sich Freitagmittag in seinem kleinen grünen Smart auf den Weg nach Fairfield machen, muss er unweigerlich daran denken, wie er mit Xander nach Wisconsin gefahren ist und als Cassie ihn auf den alten Walkman anspricht der in der Tür der Beifahrerseite steckt, versucht er möglichst beiläufig zu klingen, als er erwidert, den aus irgendeiner Kiste ausgegraben zu haben.
Mal wieder staut es sich im Hollandtunnel, als sie gerade den Hudson River überqueren wollen. Der Medizinstudent trommelt ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während seine Verlobte an den Radioknöpfen nestelt. Natürlich ohne Erfolgsergebnis. Im Tunnel versucht sie vergeblich einen annehmbaren Sender zu finden. Schließlich fragt sie, ob sie eine CD einlegen kann und für eine Sekunde sieht Jesse verblüfft zur Seite. Das hat sie noch nie getan. Also ihn gefragt, ob sie eine CD einlegen darf. Überhaupt hat sie ihn noch nie die Musik im Auto mitbestimmen lassen. Bisher musste er Britney Spears immer ertragen, ob er wollte oder nicht. Und die Wahrheit ist: Wollte er nicht. Mozart, Tschaikowsky, ja, aber Britney? Nur das Cassie eine Klassik-CD niemals auch nur in die Hände nehmen würde. Nicht weiter verwunderlich also, das ihn die Frage ein klein wenig aus dem Konzept bringt. Nichtsdestotrotz lässt er sich nichts anmerken und nickt. Dann legt Cassie eine CD ein.
Jesse fährt fast zusammen als die ersten Töne der Sonate No.11 in A-Dur ertönen. Cassie entgeht sein entsetzter Blick nicht. Sie schaut ihn ebenso geschockt an, wie er sie.
„Soll ich was anderes einlegen? Magst du das nicht?“, fragt sie nervös.
„Was? Nein. Lass nur an. Ich war einfach überrascht. Du hast noch nie eine meiner CD’s in den Player eingelegt“, erwidert Jesse und räuspert sich verlegen. Dabei weiß er selbst nicht einmal, wieso er jetzt verlegen ist.
„Das stimmt doch gar nicht!“, empört sich Cassie.
„Ach ja, nenn‘ mir nur ein einziges Mal, wo du das sonst getan hast.“
„Na“, sie überlegt kurz „… nur weil mir jetzt nicht direkt eine Situation einfällt, heißt das nicht, dass ich das nicht getan habe.“
„Ach ja?“, hakt Jesse nach.
Sie ist still. Scheint noch einmal darüber nachzudenken. Dann, ganz unvermittelt geht ein Ruck durch ihren Körper, sie sieht Jesse erschrocken an.
„Ich habe dich wirklich noch nie die Musik aussuchen lassen, oder?“, fragt sie entsetzt.
Jesse winkt ab.
„Ich habe auch nie darum gebeten. Schon gut.“
„Trotzdem …“, murmelt sie verhalten.
Langsam rollen die Autos vor ihnen wieder an. Sie fahren schon eine Weile wieder, als er fragt:
„Wie ist es?“
„Wie ist was?“, kommt es verwirrt zurück.
„Das Musikstück, die Musikstücke generell.“
„Oh, ach so“, sie lacht verlegen „nicht wirklich mein Ding.“
Jesse nickt abermals und stellt wieder auf das Radio um. Cassie protestiert nicht. Es läuft irgendein Pop Hit und Cassandra singt leise mit. Vermutlich um sich abzulenken. Die Brünette hat viele Qualitäten, ihr Gesang gehört jedoch nicht dazu. Unwillkürlich muss Jesse wieder an Xander denken. An seinen Gesang auf der Rückfahrt. Dieses Lied, was Jesse nie zuvor gehört hat und wie er das Radio leise gemacht hat, um ihn besser singen zu hören. Sofort hat er diese leicht raue Stimme wieder im Kopf, die man dem Jüngeren bei seinem Aussehen gar nicht zutrauen würde. Er versucht sich die Zeilen des Liedes in Erinnerungen zu rufen, doch es gelingt ihm nicht. Aber an den Klang von Xanders Stimme, daran erinnert er sich genau.
„Zuerst zu deinen Eltern, oder zu meinen?“, fragt Jesse als sie das City Limit von Fairfield passieren.
„Wenn es dir nichts ausmacht, dann bitte zu meinen …“, er kann seine Freundin laut schlucken hören „ich will das hinter mich bringen.“
Das kann er gut verstehen. Und obwohl er es auch so schnell wie möglich über die Bühne bringen möchte, muss er Cassie indirekt beipflichten. Es seinen Eltern zu sagen wird definitiv leichter als ihren. Trotzdem macht sie jede Meile die sie jetzt noch fahren noch ein Stück nervöser. Gott ist er froh, wenn das hier vorbei ist.
Als sie dieses Mal auf die Hofeinfahrt rollen, kommt ihnen niemand entgegen. Jesse hat seine Eltern darüber informiert, dass sie dieses Wochenende kommen werden und hat sie auch gebeten, bei ihnen schlafen zu dürfen – was mehr eine rhetorische Frage ist – , bei Cassie weiß er nicht einmal sicher, ob sie ihren Eltern Bescheid gegeben hat. Fragend sieht er sie nun an.
„Sie wissen eigentlich Bescheid. Ich bin selbst etwas verwirrt.“, antwortet sie angespannt auf seine unausgesprochene Frage.
Als sie aus dem Wagen steigen, werfen sie sich einen nervösen Blick zu. Cassie fasst unsicher nach seiner Hand, er reibt mit dem Daumen über ihren Handrücken, um sie zumindest ein wenig zu beruhigen. Vor der Tür stehen sie einen Moment wie bestellt und nicht angeholt. Obwohl sie geklingelt haben tut sich nichts. Wieder tauschen sie einen Blick aus. Dies Mal ist es ein fragender. Dann geht die Tür mit etwas zu viel Schwung auf. Cassie zuckt neben ihm zusammen. Es ist nicht Miranda sondern Kurt der in der Tür steht. Noch ist er bei bester Laune, wie Jesse feststellt. Ohne zu zögern zieht er erst seine Tochter, dann - wie er ihn betitelt - seinen fast Schwiegersohn in die Arme. Es ist als würde sie jedes Wort nur noch nervöser machen. Jesse murmelt nur ein verlegenes „Hallo“ und Cassie lächelt lediglich gezwungen.
„Kind, bist du blass“, kommt es ihnen entgegen, als sie gerade die Küche betreten. Cassies Mutter kommt direkt auf sie zugestürmt.
„Isst du denn auch genug?“, fragt sie ihre Tochter, sieht Jesse dabei aber an, als müsste er die Antwort darauf parat haben, oder doch zumindest eine Entschuldigung. Hilflos zuckt er mit den Schultern und Cassie schiebt ihre Mutter ungewohnt grob von sich. Miranda versteht die Welt nicht mehr. „Was ist denn los, mein Schatz?“
Für Kurt scheint das ganze simpler zu sein.
„Liebling, nun erdrück sie doch nicht immer mit deiner Liebe. Und nun setzt euch doch, was steht ihr in der Küche wie Ware im Schaufenster?“
Cassies Mutter setzt sich sofort, doch Cassie macht keine Anstalten sich zu setzten und so bleibt auch Jesse stehen. Er kann ihre innere Anspannung regelrecht spüren. Er tritt hinter sie, legt eine Hand auf ihre Schulter. Im Auto hat er ihr angeboten, dieses Gespräch zu übernehmen, aber sie wollte davon nichts hören. Sie muss das ihren Eltern – explizit ihrem Vater - selber sagen, meinte sie. Nun atmet sie tief durch.
„Was ist los?“, ertönt Kurts dunkle Stimme ernst im Raum.
„Wir müssen uns unterhalten“, antwortet Cassie nur leise.
Kurts Blick verfinstert sich, während Miranda, nun nervös geworden, fragt:
„Dir geht es doch gut, oder Cassie. Du bist nicht etwa krank?“, in ihrer Stimme ist plötzlich nackte Panik zu hören.
Jesse will Cassie langsam in Richtung Tisch schieben, damit sie sich setzt, doch sie wehrt sich standhaft. Bedenkt ihn mit einem kurzen Blick über die Schulter und schüttelt den Kopf. Jesse fängt Kurts Blick auf, der sie beide stumm mustert.
„Cassie?“, hakt er nach und in seiner Stimme lauert ein drohender Unterton. Miranda schaut nervös zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter hin und her. Cassie schluckt laut, bevor sie mühsam über die Lippen bringt:
„Nein, krank bin ich nicht. Nur schwanger.“
Das Chaos nimmt seinen Lauf. Kurt springt auf, schmeißt dabei seinen Stuhl zurück und schleudert die Blumenvase vom Tisch, die laut klirrend auf dem Boden zerschellt. Cassies Mutter presst nur die Hand vor dem Mund, während sie sich mit schockgeweiteten Augen die Szene vor sich besieht. Noch während Kurt auf die Beine gekommen ist, hat Jesse sich schützend vor Cassie positioniert. Noch nie hat er den Reverend so wütend erlebt.
„Kurt“, versucht Jesse es beschwichtigend.
„Für dich immer noch Mr. Hastings“, knurrt Cassies Vater zurück, ohne seine Tochter auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
„Kurt“, erholt sich nun auch Cassies Mutter von ihrer Schockstarre, schweigt aber sofort, als ihr Mann sie mit einem düsteren Blick belegt.
„Mr. Hastings …“, beginnt Jesse diplomatisch erneut „ich kann ihren Unmut sehr gut nachvollziehen.“
„Unmut?“, poltert Kurt vom Küchentisch.
Jesse ignoriert ihn geflissentlich, während er förmlich spürt, wie Cassie sich hinter ihm klein macht.
„Ja, ihren Unmut. Und ich versichere ihnen, Sir, diese Situation ist keinesfalls, was wir uns gewünscht hätten, aber wir können sie nun einmal auch nicht mehr ändern.“
Jesse muss aufpassen, was er jetzt sagt. Noch hat er Kurts Aufmerksamkeit. Der belauert ihn wie ein Windhund. Die nächsten Worte muss er mit Bedacht wählen. Er führt das einzige Argument ins Feld, das ihn beschwichtigen könnte und dabei muss er ordentlich auftragen.
„Wir“, er wirft einen kurzen Blick über die Schulter zu Cassie und hofft ihr damit zu verstehen zu geben, dass er die nächsten Worte nicht so pathetisch meint, wie er sie jetzt sagen wird „… haben einen Fehler begangen und uns in einem unbedachten Moment zu etwas hinreißen lassen, was wir im Nachhinein zutiefst bereuen, aber wir werden uns bemühen die Nachbeben unseres sündigen Verhaltens so gering wie möglich zu halten.“
Kurt scheint die Worte aufzusagen. Er ist einen Moment still, seine Augen glühen noch immer vor Zorn, bevor er angespannt fragt: „Ach und wie soll das gehen?“
Jesse weiß genau, worum es dem Reverend hier geht. Diesen Text hat Jesse sich, zugegeben, schon lange zu Recht gelegt.
„Wir werden nächsten Monat heiraten und sie werden uns trauen, Sir. Cassie ist erst in der 11. Woche. Unter dem Kleid wird jetzt noch niemand etwas sehen oder Verdacht schöpfen. Viele Schwangerschaften enden heutzutage verfrüht. Wir werden uns erst wieder in Fairfield blicken lassen, wenn das Kind da ist. Vielleicht werden die Leute einen Verdacht haben, aber sie werden keine Beweise haben und ihr Ruf und der Ruf ihrer Tochter bleibt rein. Niemand wird je die Wahrheit erfahren.“
Kurt mustert ihn eine Weile ernst. Er sagt kein Wort. Jesse ist nicht sicher, ob er ihn verärgert oder besänftigt hat. Es ist, als lasse er seine Worte auf sich wirken. Gott, Jesse kommt sich vor wie in der 60igern. Wenn er ehrlich ist, weiß er nicht einmal, wo hier das Problem liegt, sie sind im 21. Jahrhundert, aber für den Pfarrer ist es auch im Jahr 2009 noch eine Schande und Sünde ein uneheliches Kind zu bekommen. Plötzlich hebt er den Stuhl vom Boden auf und setzt sich.
„Ein Geheimnis“, murmelt er. „Niemand wird je davon erfahren.“ Bei diesen Worten sieht er zu seiner Tochter. Dann folgt eine wirsche Handbewegung in Richtung des Chaos auf dem Boden.
„Liebling, da liegen Scherben.“
„Ja“, ruft Miranda erleichtert aus und springt auf, um den Boden zu säubern. Jesse kann nicht glauben, dass das alles gewesen sein soll. Als Kurt im Plauderton fragt:
„Wart ihr schon bei Catherine und Lawrence?“
„Nein“, kommt Cassie ihm mit einer Antwort zuvor.
„Dann solltest du zu deinen Eltern gehen, Jesse“, fordert Kurt ihn unvermittelt auf zu gehen. Jesse traut seinen Ohren nicht. Was wird das hier?
„Ich muss noch mit Cassie sprechen. Du verstehst sicher, ein Vater Tochter Gespräch.“, seine Stimme ist ganz ruhig, doch der Unterton lässt keine Missverständnisse zu. Der Fünfundzwanzigjährige ist entsetzt. Er traut Kurt zwar nicht zu, Cassie wirklich etwas zu tun, aber die Art wie er hier spricht, ist ihm nicht geheuer. Er schaut zu seiner Verlobten, die mit überraschend gerader Haltung hinter ihm steht. Sie scheint mit einem Mal ihr Selbstvertrauen zurück zu haben. „Geh nur, Jesse. Deine Eltern warten sicher“, sagt sie in einem Ton, den er nicht deuten kann. Sie schmeißt ihn also auch raus, unglaublich.
„Na gut. Dann sehen wir uns später“, entgegnet er nur wiederwillig.
Als er an ihr vorbei zur Tür gehen will, hält sie ihm plötzlich am Arm fest. Sie sagt nichts, beugt sich nur zu ihm rüber und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. In ihren Augen sieht er, dass ihre Haltung nur Fassade ist. Ihm ist nicht wohl bei dem Gedanken, sie zurückzulassen.
„Ich begleite dich noch zur Tür“, wirft da Cassies Mutter plötzlich ein und an der Tür flüstert sie ihm ins Ohr:
„Es wird schon alles gut gehen, Jesse.“
Jesse läuft die zwei Straßen bis zu sich nach Hause. Natürlich könnte er auch ins Auto steigen, aber so hat er einen Grund später im Zweifelsfall noch einmal bei Cassie vorbeizuschauen, falls ihm das Gespräch zwischen ihr und ihrem Vater zu lang erscheinen sollte. Der kurze Spaziergang tut ihm überraschend gut. Auch wenn die Gesamtsituation unverändert bescheiden ist. Natürlich bleibt abzuwarten, was Cassie genau mit ihrem Vater bespricht, aber verhältnismäßig sind sie glimpflich davon gekommen. Trotz der eigenartigen Stimmung, die geherrscht hat, als er das Haus der Hastings gerade verlassen hat. In seinem Kopf rasen die Gedanken noch immer, als er im Kennedy Drive ankommt. Dieses Mal brennt kein Licht in den Fenstern. Gut, es ist dafür auch noch zu früh. Wahrscheinlich ist seine Familie gerade mit dem Mittagessen fertig. Er steht an der Türschwelle und will gerade klingeln, als die Tür aufgerissen wird. Ein Energiebündel springt ihm entgegen und Jesse beeilt sich hastig, die Arme um seine kleine Schwester zu schlingen. Darauf bemüht im gleichen Augenblick sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Im Hintergrund ist lautes Gebell zu hören und Jesse vernimmt die autoritäre Stimme seines Vaters, die ruft: „Aus, Sammy.“
„Ich hab‘ dich bereits am Fenster gesehen“, ruft Lilly verzückt aus, während sein Vater nun den Welpen an die Leine nimmt. Das ist also Sammy, der Australien Shepherd Welpe, den seine Eltern Lilly zu Weihnachten geschenkt haben. Jesse muss grinsen. Wie oft hat er als Kind darum gebettelt einen Hund halten zu dürfen? Und wie oft gab es die immer gleiche Antwort „Nein“? Nun, das ist wohl das Privileg der Jüngsten. Nur seine Mutter kann der junge Mann in all dem Gewusel nicht erkennen.
„Wo ist Mum?“, fragt Jesse irritiert an seine Schwester gewandt.
„Die war gerade noch in der Küche“, antwortet Lilly ebenso irritiert.
„Nun komm schon endlich rein, wir heizen doch nicht umsonst“, ruft sein Vater ungeduldig aus.
Als Jesse, noch immer seine kleine Schwester auf dem Arm haltend, in den Flur tritt, kommt seine Mutter gerade aus der Küche. In den Händen hält sie einen Topf und ein Geschirrhandtuch.
„Liebling, wo hast du Cassie gelassen?“, ertönt es statt einer Begrüßung.
„Habt ihr euch getrennt?“, schiebt sein Vater ganz ohne Empathie hinterher.
Zunächst sorgt er dafür, dass Lilly wieder festen Boden unter den Füßen hat, bevor er Rede und Antwort steht.
„Zu aller erst: Ja freut mich auch euch zu sehen.“ Dabei verdreht er nicht unwesentlich die Augen.
Dann erklärt er: „Cassie spricht noch mit ihren Eltern, Mum, sie kommt sicher bald“ und nicht ganz ohne Entrüstung fügt er hinzu „natürlich haben wir uns nicht getrennt, Vater.“
Er kann nur mit dem Kopf schütteln, manchmal ist sein Vater wirklich unmöglich. Statt sich allerdings weiter mit der Begrüßung aufzuhalten beschließt er zur Sache zu kommen. Jesse kann den Ernst in seiner Stimme nicht zurückhalten, als er seinen Eltern erklärt, dass er nicht ganz ohne Hintergedanken gekommen ist und dass er dringend mit ihnen reden muss. Ganz zu Lillys Unmut wird sie von ihrem Vater aufs Zimmer geschickt. Er mag manchmal wenig einfühlsam sein, aber er verkennt selten die Situation. Als seine achtjährige Schwester trotzig die Arme vor dem Körper verschränkt und betont sie sei kein kleines Kind mehr, spricht zu Jesses Überraschung seine Mutter ein Machtwort.
„Lilith King, du hast deinen Vater gehört. Auf dein Zimmer, sofort, oder Sammy bleibt die ganze Nacht in der Küche.“
Zwar gibt seine kleine Schwester altklug zu bedenken, dass es sich hierbei um Erpressung handelt, doch bevor ihre Mutter oder ihr Vater noch etwas sagen können ist sie in die Küche gelaufen, nimmt den kleinen Welpen auf den Arm, der wohl viel lieber im Haus herumtollen würde und verschwindet nach oben. Sie gesellen sich ins Wohnzimmer. Alle wichtigen Gespräche in dieser Familie finden im Wohnzimmer statt. Wenn diese Wände erzählen könnten, sie hätten eine Menge zu berichten. Seine Mutter wirft zwar ein, ob sie nicht noch auf Cassie warten wollen, doch Jesse gibt ihr zu verstehen, dass das nicht nötig ist. Dennoch gleitet sein Blick zur Pendeluhr an der Wand. Wie lange sie wohl noch mit ihrem Vater sprechen wird? Als seine Eltern sich setzten, beginnt der Fünfundzwanzigjährige ohne umschweifen. Er versucht auch nicht irgendetwas zu beschönigen. Er sagt ihnen geradeheraus das Cassie schwanger ist und das er ein Idiot ist, weil er offensichtlich zu dumm zum Verhüten ist. Während seine Mutter ihn, er hat es zugegeben nicht anders erwarten, versucht zu beschwichtigen und Partei für ihn ergreift schüttelt sein Vater nur den Kopf. Er schaut in ihm so vertraute grüne Augen, dieselben wie er und Lilly sie haben, und sieht nichts als Enttäuschung. Es fühlt sich genauso an, wie damals, als Jesse noch zur Schule gegangen ist. Obwohl sein Vater selten da war, konnte er es ihm nie recht machen. Er hat immer die falschen Entscheidungen getroffen und so sehr er sich auch bemüht hat, es hat nie gereicht, um seinen Vater stolz zu machen. Das hat sich bisher immer weiter fortgesetzt. Auch als er sich zum Beispiel für ein Medizinstudium statt eines BWL Studiums entschieden hat und so klar gemacht hat, dass er das Familienunternehmen nicht weiterführen wird. Jesse schluckt hart. Als seine Mutter aufhört auf ihn einzureden, mit Worten die nichts besser machen, versucht er zu erklären, was nicht zu erklären ist.
„Ich weiß, du hältst mich für einen Träumer, Dad. Ich weiß, dass ich es vermasselt habe und dass ich es nicht wieder gut machen kann. Du brauchst mir nicht einmal sagen, dass ich eine einzige Enttäuschung bin, weil es ganz offensichtlich ist und wahrscheinlich hältst du die 170.000 Dollar die in mein Medizinstudium geflossen sind für absolut verschwendet, aber-“.
Sein Vater hört ihm gar nicht erst bis zum Ende zu. Er steht auf und sagt: „Du hast unsere finanzielle Unterstützung, wenn es das ist, was dir auf dem Herzen liegt.“
Damit ist das Gespräch für ihn beendet. Er verlässt das Wohnzimmer. Kurz darauf kann Jesse das Schloss seiner Bürotür klicken hören. Er hat sich eingeschlossen. Jesse bleibt einfach sitzen. Seine Mutter schaut ihn mit einem vielsagenden Blick an, er weicht ihren traurigen Augen aus. Dann springt sie auf. Vor der Bürotür ihres Mannes bleibt sie stehen. Jesse kann sie klopfen hören. „Lawrence…“, beginnt sie ein Gespräch, doch Jesse will es nicht hören. Er steht auf und verlässt ebenfalls das Wohnzimmer. An der Haustür bleibt er kurz stehen. Noch ein Spaziergang? Aber wenn Cassie gleich kommt? Stattdessen beschließt er hoch zu Lilly zu gehen. Sie scheint der einzige Mensch zu sein, den er nicht pausenlos enttäuscht. Obwohl, … was sie zu einem Baby sagen wird?
Die Antwort lautet pure Ignoranz. Als Jesse ihr sagt, dass Cassie ein Baby erwartet, verdunkelt sich ihr Blick und sie schmeißt sich ohne ein einziges Wort zu sagen auf ihr Bett. Demonstrativ dreht sie sich von ihm weg. Offensichtlich hält Sammy das Ganze für in lustiges Spiel. Der kleine Hund springt an dem Bett hoch und trippelt auf der Matratze umher. Oh je, das sollte seine Mutter lieber nicht sehen. Lilly straft nicht nur ihn, sondern auch den Hund mit nicht Beachtung. Aber als das kleine Kerlchen anfängt ihre Hand zu lecken, muss sie lachen. Sie richtet sich wieder auf und zieht den verspielten Vierbeiner in die Arme.
„Zumindest du bleibst bei mir“, murmelt sie in sein schwarz, weiß, rotes Fell.
Jesse fühlt sich angesprochen. Er weiß ja, was er noch vor Thanksgiving zu ihr gesagt hat.
„Lilly, ein Baby heißt nicht, dass wir dich nicht mehr besuchen kommen.“
Sie seufzt ein wenig zu theatralisch. Überhaupt ist sie gerne theatralisch. Doch dann sagt sie:
„Schon gut. Das weiß ich doch. Aber über irgendwas muss ich mich doch aufregen, oder?“
Jesse schüttelt schmunzelnd den Kopf.
„Wie alt bist du nochmal?“
„8 ½ Jahre, oder 3173 Tage, oder 76.152 Stunden, oder 4.569.168 Minuten oder ganz grob überschlagen 274.150.000 Sekunden.“
„Lilly“, Jesse bricht in Lachen aus. Das war ja zu erwarten.
„War das wieder mal eine rhetorische Frage? Das sind bescheuerte Fragen!“
Dann überlegt sie kurz, bevor sie meint:
„Ich habe auch eine Frage: Bist du glücklich?“
Das trifft ihn unvermittelt und er beeilt sich hastig zu sagen: „Natürlich.“
Seine Schwester wiegt den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, bevor sie sagt:
„Du lügst. Das war nämlich auch eine rhetorische Frage, weißt du?“
Jesse starrt seine Schwester an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Und plötzlich hat er den Eindruck sie wirklich noch nie richtig gesehen zu haben. Zum ersten Mal versteht er, was seine Eltern damit meinen, wenn sie ein ums andere Mal davon sprechen, das Lilly ein außergewöhnliches Kind ist. Bisher hat er es immer darauf geschoben, das wohl alle Eltern von ihren Kindern behaupten, dass sie etwas Besonderes sind und durch ihre Hochbegabung ist Lilly das sicher auch aus kognitiver Sicht, aber zum ersten Mal begreift er, das mehr dahinter steckt.
Die helle Kinderstimme fragt ganz unvermittelt:
„Warum bist du traurig, Bruderherz?“
Sie fügt noch hinzu, dass es sich dieses Mal um eine ‚echte‘ Frage handelt. Und obwohl Lilly noch ein Kind ist, sie sicher nicht alles versteht und er es nicht für ratsam hält ihr alle Details anzuvertrauen, das wäre dann wohl doch zu viel des Guten, ist seine kleine Schwester die erste Person, von Jorell abgesehen, der er sein Herz ausschüttet. So albern das auch sein mag und obwohl sie wohl eigentlich zu jung ist um von solchen Sachen wie der Liebe etwas zu verstehen.
„Das heißt, obwohl du Cassie sehr gern hast, gibt es da jemanden den du eigentlich noch viel mehr magst, aber zu dieser Person warst du sehr gemein und jetzt wo Cassie und du ein Baby bekommen, kannst du sie natürlich auch nicht einfach alleine lasse.“, fasst sie den Schlamassel in ihren Worten zusammen. Jesse nickt. Er murmelt vor sich hin:
„Ich wünschte es gäbe eine Lösung für dieses Problem. Aber die gibt es nicht.“
Da tippt seine kleine Schwester ihm so energisch mit ihrem Finger gegen die Brust, Sammy springt überrascht auf und bellt kurz, dass Jesse fast einen Schritt zurückgewichen wäre.
„Ihr Erwachsenen seid furchtbar. Wenn die Dinge ganz leicht sind, dann müsst ihr sie unbedingt so kompliziert wie möglich machen, aber wenn sie dann kompliziert sind, wollt ihr es einfach!“
Sie verschränkt, wie vorhin unten im Flur, die Arme trotzig vor der Brust.
„Es gibt bestimmt eine Lösung, aber du musst sie finden wollen, statt hier zu sitzen und traurig zu sein.“
Jesse schaut den kleinen Dreikäsehoch ungläubig an. Er wird gerade von seiner eigenen Schwester zur Schnecke gemacht, die wohlgemerkt Achtzehnjahre jünger ist als er. Er will etwas erwidern, als unten die Haustürklingel ertönt. Er hört seine Mutter Cassandras Namen sagen und sie klingt erschrocken, er muss runter. An der Türschwelle schlingt Lilly von hinten die Arme um ihn.
„Lilly-“
„Ich hab‘ Cassie lieb, aber ich will, dass du glücklich bist.“
Als er die Treppe herunterkommt, sieht er das Unglück auf einen Blick. Seine Mutter sieht ihm Hilflos entgegen. Cassie steht in der Tür, verzweifelt und mit Tränenüberströmten Gesicht. Noch bevor Jesse ganz unten angekommen ist, liegt sie in seinen Armen. Über ihre Schultern hinweg sieht er, wie seine Mutter die Tür schließt und ihm einen fragenden Blick zuwirft. Er weiß, was das bedeuten soll. Sie will wissen, ob sie irgendetwas tun kann. Als er mit dem Kopf schüttelt, deutet sie Richtung Küche und gibt ihm damit zu verstehen, dass sie einen Tee aufsetzten wird. Das ist es, was sie immer in solchen Situationen tut. Langsam fährt Jesse mit den Händen über den Rücken seiner Verlobten, er kann spüren wie in gleichmäßigen Abständen immer wieder ein beben durch ihren Körper geht. Noch hat sie nicht aufgehört zu weinen. Er murmelt ihr beruhigende Worte ins Ohr und dirigiert sie langsam, die Treppe hinauf, ins Gästezimmer. Dort legt er sich mit ihr auf das Bett. Eine Weile ist es still. Ihm sind die Worte ausgegangen und vielleicht ist das auch nicht weiter schlimm. Cassie beruhigt sich mit jeder verstreichenden Sekunde ein bisschen mehr. Sie atmet gerade einmal tief durch, als es leise klopft und Jesses Mutter ihnen mitteilt, dass sie ihnen Tee vor die Tür stellt. Er kommt nicht dazu sich zu bedanken, denn er hört bereits gleich darauf ihre Schritte auf der Treppe. Während Cassie sich langsam aufrichtet, steht Jesse auf um die Teetassen hereinzuholen, die seine Mutter mit einem Tablett einfach auf dem Boden abgestellt hat. Er drückt Cassie eine der noch dampfenden Tassen in die Hand und sie pustet vorsichtig, bevor sie einen kleinen Schluck nimmt. Ebenfalls mit einer Tasse in der Hand lässt er sich neben ihr auf der Bettkante nieder. „Willst du darüber reden?“, will er von ihr wissen.
Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter, wirkt müde und erschöpft. Dann flüstert sie:
„Er hasst mich.“
„Quatsch“, erwidert Jesse. „Er bracht einfach Zeit um sich daran zu gewöhnen. Er wird sich bestimmt wieder einkriegen.“
Sie schüttelt den Kopf. Ihre Lippen zittern gefährlich, bevor sie abermals tief durchatmet.
„Nein, nein das wird er nicht.“
Einen Moment lang sehen sie sich tief in die Augen. Dann offenbart Cassie ihm, weshalb sie so aufgewühlt hier angekommen ist.
„Er hat gesagt, nach der Trauung will er uns nicht mehr sehen. Er hat gesagt, er hat keine Tochter mehr und erst recht kein Enkelkind.“, bei diesen Worten bricht sie erneut in Tränen aus. Jesse schluckt. Ganz egal welche Worte er jetzt zur Beschwichtigung wählen würde, sie wären nichts als eine Farce. Also bleibt er still. Er hofft, dass Kurt es nicht so meint, wie er es gesagt hat, aber er kann nicht so recht daran glauben.
Als sie zwei Stunden später zum Abendessen in die Küche kommen, sind Cassies Augen immer noch gerötet. Sie sieht blass aus. Seine Eltern tun so, als sei alles wie immer. Selbst sein Vater enthält sich jeglichen Kommentars und ist ausgesprochen liebenswürdig zu Cassandra. Lilly ist besonders darauf bedacht, die Stimmung aufzuheitern. Sie versucht mit aller Hand Themen ein Gespräch anzufangen. Die Kleine ist echt findig. Als sie Cassie zuletzt mit riesigen Kulleraugen darum bittet, nach dem Essen mit ihr und Sammy spazieren zu gehen, trifft sie einen Nerv bei Cassie, die zum ersten Mal seit Stunden wieder lächelt. Während Jesse also seiner Mutter beim Abwasch hilft und sein Vater direkt wieder in sein Arbeitszimmer verschwindet, gehen Cassie und Lilly gemeinsam mit dem Hund eine Runde. Natürlich nutzt seine Mutter die Situation aus, um Jesse mit aller Hand Fragen zu löchern. Sie will alles wissen. Warum Cassie so aufgelöst war, als sie hierhergekommen ist. Seit wann genau sie schwanger ist. Wie das eigentlich passieren konnte. Ob Jesse und sie schon einen Plan haben, wie es weitergehen soll. Jesse versucht seine Antworten so kurz wie möglich zu halten. Sie war aufgelöst, weil ihr Vater behauptet, er hat keine Tochter mehr. Sie ist jetzt in der 11.Woche. Es ist passiert, weil er ein Idiot ist, sie kein Kondom benutzt haben und Cassie die Pille zusammen mit Johanniskraut eingenommen hat. Nein er hat noch keinen Plan und Cassie weiß nur, dass es schwierig wird eine Anstellung als Lehrerin zu finden, wenn sie nun doch schwanger ist. Gerade stehen sie vor einem Scherbenhaufen und es wird gefühlt nur schlimmer statt besser. Seine Mutter stellt keine weiteren Fragen mehr und protestiert auch nicht, als Jesse gleich nach dem Küchendienst wieder hoch ins Gästezimmer verschwindet. Er weiß, dass er sich albern und wie ein kleines Kind verhält, aber er hat einfach genug von dem ganzen Gerede.
Den Samstag und den Sonntag versuchen sie beide, Cassie und er, sich abzulenken so gut es geht. Samstag besucht Cassie irgendeine Freundin aus der Schulzeit, die gerade ebenfalls auf Heimatbesuch ist und Jesse schnappt sich Lilly und fährt mit ihr zum Fairfield Community Pool. Während Lilly allerdings im Wasser tollt, als wäre sie ein Fisch, bleibt Jesse darauf bedacht seine Stehhöhe nie voll auszuschöpfen. Er kann nicht schwimmen und hasst Wasser, aber gerade ist ihm alles an Ablenkung recht. Und so lange er immer in Beckenrand nähe bleibt ist alles gut. Lilly schaut ihn zwar hin und wieder an, als sei er verrückt – sie weiß nicht, dass er nicht schwimmen kann, sein kleines Geheimnis – aber sie hat trotzdem ihren Spaß. Da sie Sonntag nach dem Abendessen fahren wollen, nutzen sie den Vormittag noch einmal gemeinsam. Lilly hat Jesse und Cassie gefragt, ob sie sich die Ballettaufführung ihrer Tanzschule ansehen wollen und ein nein stand gar nicht erst zur Debatte. Auch Jesses Mutter begleitet sie, nur sein Vater vergräbt sich abermals in seiner Arbeit. Gott, als ob die Firma ihn auf einen Sonntag Nachmittag braucht. Jesse kann nicht fassen, dass sein Vater es noch immer nicht schafft, sich einfach mal fünf Minuten Zeit für seine Familie zu nehmen. Und er kann sehen, wie es Lilly einen Stich ins Herz versetzt, als ihr Vater ihr erst kurz bevor sie aufbrechen mitteilt, dass er nicht mitkommen wird. Die ganze Autofahrt bis zur Schule lässt sie den Kopf hängen. Die rosane Schleife um ihren kleinen Dutt, ihre Locken sind eigentlich zu kurz dafür, hängt traurig herunter. Nicht einmal ihre Mutter kann sie trösten. Innerlich kocht er vor Wut, aber er bemüht sich, sich nichts anmerken zu lassen. Er merkt, dass er dabei nicht besonders erfolgreich ist, als Cassie ihm eine Hand auf den Oberschenkel legt, um ihn zu beruhigen. Er seufzt.
Die Aufführung ist überraschend gut für ein Kinderensemble. Andererseits handelt es sich um eine private Ballettschule mit Aufnahmeprüfung und in Anbetracht des Schulgeldes, das seine Eltern zahlen, ist es dann doch nicht weiter verwunderlich. Sie tanzen Prokofjews Cinderella. Soweit er das mit seinem Laienwissen beurteilen kann, macht Lilly sich in ihrer Rolle als einer der Zwerge wirklich gut. Nach der Aufführung ist seine kleine Schwester wieder in Hochstimmung. Und weil sie wieder gute Laune hat, hat auch Jesse langsam wieder bessere Laune. Cassie lobt Lilly führ ihren Tanz und auf der Rückfahrt tauschen sich die beiden über aller Hand Bücher aus, sodass Jesse nicht umhin kommt, festzustellen, wie gut die beiden sich verstehen. Cassie kann einfach mit Kindern. Zuhause angekommen besteht Lilly sofort darauf, Cassie eine Neuheit in ihrem heißgeliebten Puppenhaus zu präsentieren. Gleich nachdem Opa Will aus dem Krankenhaus entlassen wurde, er hat sich zum Glück von seiner Lungenentzündung erholt, hat er sich scheinbar daran gemacht, für seine kleine Prinzessin ein neues Möbelstück anzufertigen. Was es allerdings genau ist, kann Jesse nicht verstehen, denn da ist Lilly mit Cassie an der Hand schon fort. Seine Mutter verschwindet ebenso schnell in die Küche, um noch etwas für die Geburtstagsfeier eine Freundin zu zaubern und plötzlich steht Jesse mutterseelenallein im Flur. Ernsthaft? Er will sich schon ins Gästezimmer zurückziehen, um noch etwas für die Uni zu tun, als sein Vater in den Flur tritt. Er sagt nicht einmal etwas, er deutet nur mit einer Handbewegung an, dass Jesse ihm ins Büro folgen soll und zum ersten Mal in seinem Leben denkt er darüber nach, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten. Und doch tut er es wieder. Kaum das hinter ihm die Tür ins Schloss fällt, deutet sein Vater ihm an, sich zu setzten.
„Ich glaube, …“, sagt er mit schwerer Stimme und lässt sich in seinen abgewetzten Ledersessel sinken „wir müssen tatsächlich einmal reden. Das tun wir viel zu selten.“
Er setzt sich nicht. „Ach ja, hast du dafür denn Zeit?“, er kann nicht anders, als seine Stimme vor Sarkasmus triefen zu lassen.
Sein Vater zieht eine Augenbraue hoch. Dann lacht er. Er lacht einfach. Jesse zittert vor Wut. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. Sein Vater lacht, als wäre er noch ein kleines Kind, dass man belächeln muss. Und wenn er ehrlich ist, wann immer er in diesem Raum sitzt, fühlt er sich auch wieder so. „Was?“, fragt er mit unterdrückter Wut in der Stimme.
„Ich frage mich nur, wo auf einmal dein Rückgrat herkommt.“, sein Vater klingt dabei so, als fände er diese ganze Unterhaltung wahnsinnig amüsant. Das macht Jesse so unglaublich wütend. So wütend, dass er all seine gewohnte Ehrfurcht vor seinem Vater verliert.
„Was zur Hölle ist eigentlich dein Scheißproblem?“
Sein Vater hört auf zu lachen. Stattdessen richtet er sich in seinem Sessel auf und betrachtet seinen Sohn eingehend. Jesse erwidert den Blick. Sieht in dieses ihm so bekannte Gesicht und hat dennoch das Gefühl, die Person vor sich gar nicht zu kennen. Sein Vater ist alt geworden, schießt es ihm durch den Kopf. Dabei ist er gerade einmal Mitte fünfzig. Aber seine hagere Gestalt und das ergraute Haar, sowie der dichte Bart, lassen ihn älter wirken als er ist. Zwischen ihnen herrscht immer noch Stille. Jesse will dieses Gespräch schon beenden, hier und jetzt, weil es offensichtlich sowieso zu nichts führt als sein Vater sagt: „Jetzt setz‘ dich endlich, Junge.“
Jesse will für einen Moment die Arme vor der Brust verschränken, doch dann entsinnt er sich, dass er sich damit nicht weniger trotzig gibt als Lilly. Nur das Lilly im Gegensatz zu ihm auch noch ein Kind ist. Dennoch bleibt er aus Protest stehen.
„Bitte.“ Das ist ein Wort, was er seinen Vater noch nie hat sagen hören und es entwaffnet ihn sofort. Verdammt und jetzt sitzt er doch.
„Das war überraschend anders“, führt sein Vater weiter aus.
Jesse runzelt nur die Stirn. „Was war überraschend anders?“, will er wissen.
„Dein Verhalten. Verstehe mich nicht falsch, Jesse, aber das mit dem Rückgrat, das war vielleicht keine ernste Feststellung aber auch kein Spaß. Dein Sarkasmus. So etwas hättest du noch vor einem halben Jahr nie zu mir gesagt, oder diese Kraftausdrücke - “
„…“ Er will sich erklären, tut es aber nicht. Was soll er auch dazu sagen? Satt dessen legt er nur den Kopf in den Nacken und hofft, dass dieses Gespräch bald vorbei ist..
„Und bevor du dich jetzt wieder rechtfertigst oder zurückruderst, ich bin froh darüber.“
Jesse runzelt erst die Stirn und schlägt dann die Hände über dem Kopf zusammen.
„Okay, ich verstehe gar nichts mehr“, murmelt er entgeistert und blickt zu seinem Vater. Er will dieses Gespräch offen gestanden nicht führen, denn Kritik einstecken war noch nie seine Stärke. Sein Vater allerdinsg schon. Er setzt schon wieder an: „Hör zu, ich weiß du bist wütend auf mich und ich weiß, dass ich vieles falsch gemacht habe. Glaube nicht, dass ich nicht wüsste, dass ich Fehler mache. Aber ich treffe meine Entscheidungen immer im vollen Bewusstsein – “
„Und das tue ich nicht, schon klar“, fällt Jesse ihm unwirsch ins Wort. “
Er hat genug von ewigen Belehrungen, wirklich.
„Nun, würdest du mich vielleicht erst einmal Ausreden lassen?“, schnalzt sein Vater missbilligend bevor er fortfährt „Aber ich treffe meine Entscheidungen immer in dem vollen Bewusstsein, dass es gerade das ist, was ich will. Und auch wenn ich dann im Nachhinein feststelle, das ich besser etwas anderes hätte tun können, als zum Beispiel in diesem Büro zu sitzen und zu grübeln wie ich meinen Sohn zu einem längst überfälligen Vater-Sohn-Gespräch anstifte, weiß ich doch zumindest eins: Das ist was ich will. Und vielleicht bin ich daran Schuld, dass du deine Entscheidungen vielleicht nicht so triffst. Mit all meinen zu gut gemeinten Ratschlägen und Ideen und Wünschen. Denn ich frage mich die ganze Zeit, tust du die Dinge die du willst? Oder tust du die Dinge, die du glaubst tun zu müssen? Und gerade eben hast du mir zum ersten Mal gezeigt, dass du nicht nur tust, was du glaubst an Erwartungen erfüllen zu müssen. Denn dann hättest du dich stumm auf den Stuhl gesetzt. Du hättest du deine Wut gerade unterdrückt. Und du hättest mich nicht angefahren. Also auch wenn ich deine Wortwahl nicht schätze, was auch immer dich dazu gebracht hat, mich nicht wie jemanden zu behandeln den du fürchtest, sondern wie jemanden, dem du dich nicht kampflos ergeben wirst, finde ich gut.“
„Verstehe ich das richtig, du findest es gut, wenn ich dich absolut respektlos anbrülle?“ Jesse zieht eine Augenbraue in die Höhe. Die schlechte Luft hier im Büro ist seinem Vater wohl zu Kopf gestiegen.
„Grundsätzlich? Nein. In diesem Zusammenhang? Ja. Verstehst du, Jesse? Am Freitag im Wohnzimmer, als du uns gesagt hast dass Cassie schwanger ist ... da hast du dich selbst hingestellt, als seist du absolut nichts wert. Als wäre alles alleine deine Schuld. Ich meine, natürlich war ich nicht froh über diese Nachricht, aber das stimmt doch einfach nicht. Zu solchen Dingen gehören immer zwei. Mal abgesehen davon. Bin ich daran Schuld? Gebe ich dir das Gefühl, dass du nichts richtig machst und das du und dein Studium Geldverschwendung sind? Ich habe jetzt wirklich zwei Tage darüber nachgedacht und ich komme zu keinem Ergebnis."
Fast schon verzweifelt sieht sein Vater ihn an. Jesse wird unruhig. Er fühlt sich in dieser Situation unwohl und er würde gerne sagen, was er seit Jahren denkt, aber plötzlich fühlt sich das ungerechtfertigt an. Also schweigt er. Sein Vater bricht den Blickkontakt, starrt auf seinen polierten Schreibtisch, als suche er nach den richtigen Worten. Dann hat er sie wohl gefunden:
„Ja, ich hätte dich gerne in der Firma gesehen, aber glaubst du denn ernsthaft, ich verurteile dich für ein Medizinstudium? Mein Sohn will Menschen das Leben retten und ich finde das furchtbar, weil er ja nicht Papas Firma übernimmt? Was für ein ausgemachter Unsinn! Und ja, wir haben in dein Studium viel Geld investiert, aber glaubst du nicht, dass ich es nicht einfach sein lassen hätte, wenn ich das nicht gewollt hätte? Ich bin ehrlich, ich habe einfach nur die Bedenken, dass du nicht tust, was du willst, sondern was du glaubst, tun zu müssen. Deshalb bin ich skeptisch und kritisch. Und ja, ich mache keinen Hehl daraus, ich habe Cassie nie als eine besonders gute Wahl an deiner Seite empfunden.“
Was würde sein Vater wohl zu Xander sagen? Spielt das eine Rolle?
„Aber, wenn du sie liebst soll es so sein.“
Sein Vater macht eine Pause, er sieht Jesse an, als könnte er seine Seele betrachten. Als wüsste er alles über ihn und noch viel mehr. Und dann fügt er hinzu: „Wenn du sie allerdings nicht liebst, Jesse, dann gilt es immer noch Entscheidungen zu treffen und Entscheidungen gehen nie nur in eine Richtung. Ganz unabhängig davon, werden wir, deine Mutter und ich, dich immer Unterstützen. Ebenso Cassie und das Baby, ganz gleich wofür du dich entscheidest. Darum geht es. Es ist dein Leben. Du kannst entscheiden, wer du bist und wer du sein willst. Ob wir nun Träumer oder Realisten sind, wie unser Leben verläuft hängt immer noch von unseren Entscheidungen ab. Ganz unabhängig davon, will ich, dass du weißt, das ich unglaublich stolz auf dich bin!“
In Jesses Augen brennt es erneut gefährlich. Seine Zunge fühlt sich schwer und taub an, als er flüstert:
„Papa.“
„Ich weiß, ich weiß! Übertreibe doch nicht immer so, du seniler alter Sack. Aber ich habe einfach eine theatralische Ader, weiß du? Ach, und wo wir gerade bei Entscheidungen sind, Princeton, mein Junge, wäre damals bei der Entscheidung für eine Universität immer noch die bessere Wahl gewesen. Ich muss es wissen, ich war auch da.“
Nach dem Abendessen, bei der Verabschiedung, drückt Jesse seinen Vater das erste Mal seit Jahren fest. Nicht weil er glaubt, man würde das von ihm so erwarten, sondern schlichtweg, weil er es will. So gerne wäre er jetzt noch länger hier geblieben und zu gerne hätte er noch mehr mit seinen Vater geredet, die Aufforderung zum Essen hatte das verhindert, aber obwohl das gerade nicht möglich ist, fühlt er sich viel besser, als noch vor drei Tagen. Auch Cassies Laune, schein deutlich besser zu sein. Dieses Mal ist es nicht Jesse, den Lilly bis zur Autotür belagert – den Wagen hatte er gestern noch von der Einfahrt der Hastings abgeholt, niemand hat sich dabei blicken lassen – sondern Cassie. Auf dem Heimweg muss er immer wieder an den Satz von seinem Vater denken, dass es gilt Entscheidungen zu treffen. Sein Blick fällt auf Cassie, die in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein scheint. Entscheidungen treffen. Nur das Klingeln seines Handys unterbricht seine Grübelei, da er aber fährt, kann er nicht heran gehen. Dieses Handy. Wieso klingelt das überhaupt so oft in letzter Zeit. Kann aber ja nur Jorell oder jemand von der Uni sein. Er hätte Cassie gebeten für ihn ranzugehen, aber da er es so blöd in der Hosentasche hat das ein Herankommen unmöglich ist, muss er sich wohl bis Zuhause gedulden. Als er zu Cassie sagt, Jo müsse eben auch mal warten, lacht sie nur.
Sie haben gerade ihre Taschen wieder hoch in die Wohnung getragen, das heißt er hat getragen, weil er nicht möchte, dass Cassie irgendetwas Schweres hebt, da klingelt sein Handy erneut. Jesse verdreht die Augen. Muss ja wirklich dringend sein. Ohne zu gucken drückt er auf die Taste mit dem kleinen grünen Telefon. Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt voller Panik und lässt Jesse das Blut in den Adern gefrieren.
„Bitte sag mir, dass Xander bei dir ist!“