Der Ritter, der Löwe und die Prinzessin
Der böse Zauberer
Dunkelheit lag über dem Saal. Nur hin und wieder, wenn ein Auto vorbeifuhr fiel ein Lichtstrahl in den Raum, wanderte von der einen Seite zur anderen und verschwand wieder. Regen fiel in müden Tropfen auf die Fensterscheibe und seit Stunden war Ruhe eingekehrt. Hunderte, wenn nicht Tausende von Marionetten hingen an ihren Fäden, oder vielleicht besser: In ihren Fäden, sie erholten sich und schliefen fest.
Einige von ihnen waren große Stars, die jedes Kind kannte, andere wiederum fleißige Bühnenarbeiter und -interpreten, ja und manche hingen hier seit Jahren, ohne einen Auftritt zu haben einfach nur herum. Einige waren frustriert oder gelangweilt, andere waren zufrieden mit sich und der Welt. Einige beteiligten sich die jeden Abend eifrig an den Gesprächen, die geführt wurden, nachdem die letzten Arbeiter den Raum verlassen hatten, andere lauschten nur und hörten zu. Ja, und manche schienen nur noch an den Fäden zu hängen und vor sich hin zu dämmern.
Doch nun, mitten in der Nacht, lange, nachdem die letzten Gespräche verstummt waren, nachdem alle zu schlafen schienen, begann sich etwas zu bewegen. Im schwachen grünen Licht der Beleuchtung zum Notausgang konnte man die Schemen eines Ritters ausmachen, der sich vorsichtig zu einer anderen Marionette schlich.
„Pssst! Bist du wach?“, er rempelte einen Löwen an. Als dieser keine Reaktion zeigte, flüsterte er noch einmal etwas lauter und rempelte ihn fester an. „Was?“ sagte der Löwe „Ach, du bist es! Hast du sie dabei?“ Der Ritter zeigte ihm stolz eine kleine Schere. „Mach schon!“ flüsterte der Löwe und der Ritter begann ihm einen Faden nach dem anderen zu durchtrennen. „Was macht ihr denn hier?“ flüsterte nun eine dritte Stimme. Ein böser alter Zauberer, der neben dem Löwen hing, war nun ebenfalls erwacht. „Wir türmen!“ sagte der Löwe.
„Ihr türmt? Was soll denn das heißen? Was macht ihr denn für einen Lärm, mitten in der Nacht? Ich bin todmüde, ich stand heute stundenlang auf der Bühne!“
Eine kurze Pause trat ein, dann flüsterte der Ritter: „Ist es dir denn noch nicht aufgefallen?“
„Was?“ fragte der Zauberer zurück.
„Die Fäden? Wir hängen alle an Fäden!“
„Welche Fäden?“ fragte der Zauberer und blieb bei einer Bewegung hängen.
„Genau die! Jetzt siehst du es selber!“
„Aber das ist doch ganz normal, völlig banal, natürlich sind das Fäden, das ist unsere Natur, wie soll man denn ohne Fäden leben?“
„Was heißt da banal?“ fragte der Löwe „Ich bin ein Löwe, ein großer stolzer Löwe, der König der Tiere – alle haben Angst vor mir und wenn ich brülle …!“
„Pssssst!“ sagte der Ritter, „Willst du hier noch alle wecken?“
Der Löwe wäre errötet, wenn er das gekonnt hätte.
„Niemand hat Angst vor dir!“ lachte der böse Zauberer auf, „Du machst doch nur, was die Natur deiner Rolle ist – privat bist du doch ein lieber Kerl?! Aber im Ernst, was wollt ihr denn?“
Der Ritter, der sich seine Fäden schon vorher durchtrennt hatte sagte: „Schau mal, ich kann auch ganz ohne Fäden stehen und mich bewegen! Ich will frei sein! Ein Ritter muss hinaus in die Welt, er muss Taten vollbringen von denen seine Erben in Liedern singen! Der Löwe kommt mit, wir gehen in die echte Welt, da draußen! Willst du nicht mitkommen?“
Der böse Zauberer meinte nur: „Nein, auf keinen Fall! Was soll ich denn da? Ich bin hier ein Star, Millionen bewundern mich, das ist meine Welt, hier kann ich böse sein, so wie ich es will! Heute war sogar das Fernsehen da! Was wollt ihr denn da draußen überhaupt, da sind nur Menschen! Wer solch euch da helfen? Ihr kennt euch doch überhaupt nicht aus da draußen! Wisst ihr, was da für Gefahren lauern?“
Der Löwe und der Ritter standen nun verunsichert und etwas unentschlossen vor dem Zauberer.
„Ich bin der Löwe,“ sagte der Löwe „ich stehe doch für den Mut! Kannst du uns denn nicht wenigstens ein bisschen helfen, vielleicht, indem du uns durchs Fenster zauberst?“
Wiederum lachte der böse Zauberer: „Mein lieber Löwe, ich kann doch gar nicht zaubern, dass sind doch nur Bühneneffekte!“
„Bühneneffekte?“, der Löwe starrte ihn fragend an.
„Pass auf,“ sagte der Zauberer, „ihr braucht Rat! Wir gehen jetzt ganz ruhig zum Professor Habanrat und reden mit ihm, leise!“
„Aber du kannst doch gar nicht alleine laufen – mit den Fäden!“ meinte der Ritter zum Zauberer.
„Doch!“ sagte dieser, und zwinkerte mit einem Auge – so ein bisschen zaubern … das klappt schon!“
Der Professor und die Prinzessin
„So, nach draußen wollt ihr?“ fragte der Professor, „Und ich soll euch dabei helfen?“
„Ja, bitte!“ flüsterten Löwe und Ritter im Chor.
„Habt ihr denn überhaupt keine Angst?“
„Wieso, wir sind doch Löwe und Ritter, wir haben keine Angst!“
„Da draußen regnet es!“
„Ja und?“
„Ihr seid aus Holz! Feuchtes Holz wird morsch, verrottet!“ meinte der Professor lapidar.
„Haben sie denn kein Problem damit, immer, ihr ganzes Leben an diesen Fäden zu hängen? Nur das zu tun, was ihre Rolle ist?“
„Ja, da habt ihr schon recht – aber ist es nun mal unsere Bestimmung! Niemand kann so einfach ausbrechen und gegen seine Bestimmung leben.“
„Aber meine Bestimmung ist doch der Mut und beim Ritter sind es die Taten…“, flüsterte der Löwe schüchtern.
Der Professor dachte angestrengt nach und sagte schließlich: „Also gut, ich werde euch helfen! Vor vielen Jahren verschwand schon mal eine Marionette hier – ein Roboter. Er lebt seitdem in der Welt da draußen, ich glaube, er kommt einigermaßen dort zurecht und hat überlebt, ich weiß sogar, wie ihr zu ihm kommt. Seht, dieser Plan hier, den hat er mir zu geschmuggelt.“
„Plan? Wie ist er denn überhaupt herausgekommen?“
„Er hat sich die Fäden abgetrennt, so wie ihr, dann hat er den Saal abgesucht und eine enge Belüftungsklappe oder so gefunden – von der führt ein Weg nach draußen.“
„Belüftungsklappe!“ lachte der Zauberer, „Du meinst die Katzenklappe, die der letzte Besitzer der Marionettenbühne hier installiert hat.“
„Äh ja, die meine ich wahrscheinlich, kannst du sie ihnen zeigen?“ sagte der Professor.
„Und sie wollen nicht doch mitkommen?“ fragte der Ritter.
„Ich, äh, nein, ich weiß nicht. Ich hänge hier an so vielen Forschungen fest, und dann ist da der Regen, da draußen gibt es auch Feuer – und Holz brennt, ich weiß nicht!“
Als sie mit dem Zauberer die Katzenklappe fast erreicht hatten, stolperte der Löwe und rempelte eine Marionette an, die neben ihm hing.
„He, was soll dass!“ empörte sich die Marionette, die eine wunderschöne Prinzessin in einem langen blauen Kleid darstellte.
„Psssssst!“ sagten der Zauberer und der Ritter gemeinsam: „Psssst! Ruhig!“
„Was ist denn los?“ fragte die Prinzessin, „Was zum Teufel macht ihr da?“
„Wenn du ruhig bist, erklären wir es dir!“ flüsterte der Ritter
„Also,“ sagte die Prinzessin etwas spitz: „ich höre!“
„Also,“ fing der Ritter an, „das hat alles mit den Fäden angefangen!“
„Was denn für Fäden?“
„Na die hier, an denen wir hängen!“ aber der Ritter wirkte unglaubwürdig, denn er hatte ja keine Fäden mehr.
„Na also,“ zischte die Prinzessin triumphierend, „da sind keine Fäden!“
„Warte,“ sagte der Ritter, „gestern hatte ich einen Auftritt. Alles lief so wie immer, es war ein großartiger Erfolg, das Publikum war begeistert von mir! Dann kann die Kampfszene – ich war wie berauscht von meinem hervorragendem Spiel als ich versuchte, den Kampf diesmal etwas anders zu führen, noch eindrucksvoller! Und da wollte ich diese Bewegung machen.“ Er fuchtelte mit dem Schwert in der Hand herum: „Ja, jetzt klappts, aber mit den Fäden eben nicht! Prinzessin, versuchen sie doch einmal, diese Bewegung nachzumachen!“
Die Prinzessin zierte sich, machte aber nach mehrmaliger Aufforderung den Versuch, die Bewegung nachzuvollziehen. „Tatsächlich,“ sagte sie „das geht nicht, da bleibt man auf einmal an den Fäden hängen, ja, da sind überall Fäden an mir!“
Sie schien sehr überrascht und unglücklich über diese Erkenntnis. „Und was ist mit euch? Warum habt ihr keine Fäden?“
„Wir haben sie uns abgeschnitten!“ sagte der Löwe.
„Abgeschnitten?“ fragte die Prinzessin ungläubig, „Schneidet sie mir auch ab, ich will frei sein ich will alles machen können.“
„Ich weiß nicht, ob wir das tun sollen?“ sagte der Löwe zum Ritter und der Zauberer warf ein: „Seid ihr wahnsinnig, ihr könnt doch nicht jedem hier die Fäden durchschneiden, das führt zu einem entsetzlichen Chaos, kommt wir gehen!“
„Halt!“ rief die Prinzessin „Wenn ihr jetzt geht, schreie ich hier alle wach! Bitte! Wo geht ihr denn hin?“
„Wir gehen in die echte Welt, nach draußen“, sagte der Ritter „aber da kannst du nicht mitgehen, da ist es gefährlich, da gibt es Regen und Feuer, wir könnten dort verrotten und verbrennen!“
„Bitte!“ flehte die Prinzessin, „Bitte, nehmt mich mit, ich halte es hier nicht mehr aus! Bei jeder Aufführung muss ich die brave Prinzessin sein und am Schluss diesen aufgeblasenen Prinzen heiraten. Er ist von allen Marionetten hier die eingebildetste, obwohl er nicht mal im Fernsehen kommt. Bitte! Bitte!“
Der Ritter war nun sehr betroffen, nahm seine Schere und schnitt ihr einen Faden nach dem anderen ab. Die Prinzessin fiel ihm um den Hals und der Ritter wäre fast errötet, wenn er es gekonnt hätte.
„So, hauen wir ab!“ sagte die Prinzessin und strahlte.
Als sie an der Klappe standen umarmte der Zauber alle drei und sagte: „Ich wünsche euch viel Glück und passt gut auf euch auf! Ich werde euch nicht verraten.“ Er murmelte einen verschwurbelten Zauberspruch und schwang rhythmisch seinen Zauberstaub. „Ein kleiner Schutzzauber!“
„Aber du kannst doch gar nicht zaubern?!“ sagte der Löwe.
„Vielleicht hilft es euch ja doch ein bisschen!“ meinte der Zauberer.