Timothy Eugene Paris saß grübelnd an seinem Schreibtisch. In den Sachen, die er trug, Kleidung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, wirkte er etwas deplatziert. Bereits seit einiger Zeit starrte er auf das Display des Desk-Viewers in seinem Bereitschaftsraum. Dabei hatte er fast vergessen, dass sein erster Offizier, Commander Larissa Oberleitner, ihm noch immer auf der anderen Seite seines Schreibtisches gegenübersaß.
„Das ist, wie ich bereits sagte, schier unmöglich, Commander“, sagte Paris schließlich tonlos. „Niemand verschwindet einfach aus der Zeitlinie, ohne an einer anderen Stelle derselben Zeitlinie wieder zu materialisieren. Das wissen Sie so gut, wie ich.“
Die schwarzhaarige Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches sah den Kommandanten der USS RELATIVITY / NCV-474439-G an und erwiderte: „Trotzdem gibt es keine Spur von Rain Robinson, nach ihrem spurlosen Verschwinden, am Heiligen Abend des Jahres 1999. Wie sollen wir unseren Auftrag also ausführen, um die Zeitlinie endgültig zu dekontaminieren?“
Der blonde Captain sah seinem Ersten Offizier in die Augen und erkundigte sich nachdenklich: „Wussten Sie übrigens, dass einer meiner direkten Vorfahren dieser Rain Robinson einmal begegnete. Damals wurde die USS VOYAGER ins 20. Jahrhundert verschlagen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet sie in Los Angeles und betreute das Radioteleskop des Griffith-Observatoriums. Das war, nach ihrer Zeitrechnung, im Jahr 1996. Sie entdeckte die gestrandete VOYAGER im Orbit der Erde und versuchte eine Kontaktaufnahme, im Rahmen des SETI-Projektes. Ein Jahr später übersiedelte sie nach New York, wo auch ihre gut betuchten Eltern wohnen.“
Die Augenbrauen der Frau hoben sich leicht. „Nein, das wusste ich nicht. Aber hatte sich das Problem nicht erledigt, nachdem die ursprüngliche Zeitlinie wieder hergestellt wurde?“
Tim Paris lächelte humorlos. „Das sollte man annehmen, Commander. Aber Sie wissen selbst, dass es immer Unwägbarkeiten gibt, wenn es um den Zeitstrom geht. Ich habe mir in den letzten Tagen den Kopf zerbrochen, über diese leichte Kräuselung in der Zeitlinie und ich finde keine Ursache. Außer, dass Rain Robinson einen Weg gefunden hat, für immer zu verschwinden.“
„Ja, fragt sich nur wohin“, orakelte Larissa Oberleitner. „Noch dazu im Hochzeitskleid, in dem sie, draußen in den Hamptons, heiraten wollte.“
Die Miene des Captains nahm einen entschlossenen Zug an, ohne dass er wusste, wie ähnlich er in diesem Moment seinem Vorfahren Thomas Eugene Paris sah. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
„Ich werde Rain Robinson am Tag ihres Verschwindens aufsuchen und sie ganz genau beobachten“, entschied Paris und erhob sich. „Als einer der Hochzeitsgäste getarnt und mit einem Temporal-Tricorder wird es mir bestimmt gelingen zu ermitteln, wo wir ansetzen müssen, um unseren Auftrag erfolgreich auszuführen. Wirklich zu schade, dass eine Kontrolle der Zeitachse nur im negativen Bereich möglich ist. Manchmal wünschte ich mir, wir könnten auch zukünftige Ereignisse mit einbeziehen.“
„Das würde voraussetzen, dass die Zukunft sich nicht in permanentem Fluss befindet“, gab die Schwarzhaarige in dozierendem Tonfall zurück und erhob sich nun ebenfalls. „Doch das ist sie leider, Captain.“
„Da sagen Sie was, Commander. Kommen Sie, ich möchte mich schnellstmöglich auf den Weg machen.“
Gemeinsam schritten sie zum Kommandoraum der RELATIVITY, wo Commander Larissa Oberleitner alles hatte vorbereiten lassen, bevor sie ihren Kommandanten in seinem Bereitschaftsraum aufsuchte. Sie schritt zur Kommandokonsole des Zeit-Transporters und sah den beiden Offizieren kurz über die Schultern, bevor sie sich zu Tim Paris wandte und sagte: „Alles bereit für den Zeitsprung, Captain.“
Paris prüfte kurz seine Ausrüstung, die er in und unter einem eleganten, dunklen Mantel verborgen hatte, bevor er zurückgab: „Starten Sie den Prozess, Commander. Ich melde mich nach der Ankunft. Sie holen mich keinesfalls ohne ausdrücklichen Befehl zurück.“
„Verstanden, Captain!“
Tim Paris bekam noch mit, wie Larissa Oberleitner die beiden Offiziere anwies, die Versetzung des Captains in der Zeit vorzunehmen. Im nächsten Moment verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Als er wieder etwas erkennen konnte, fand er sich in einer unbelebten Gegend von Long Island wieder.
Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt. So früh am Morgen war hier nichts los. Sein Erscheinen war unentdeckt geblieben. Doch mit einem anderen Ergebnis war auch nicht zu rechnen gewesen, denn Commander Oberleitner galt als hervorragende Analytikerin, wenn es um die Feinheiten bei Zeitversetzungen ging.
Fröstelnd sah Paris hinauf zu der tiefhängenden Wolkendecke, die wie eine graue Bleiplatte über dem Land zu liegen schien. Es begann zu schneien und Tim Paris konnte kaum glauben, dass das Wetter bereits um die Mittagszeit herum deutlich besser sein würde.
Er überzeugte sich davon, dass er immer noch allein war. Dann erst zog seinen Tricorder aus der Manteltasche und scannte die Umgebung. Bereits nach wenigen Augenblicken zeigte das Gerät an, dass es die Individual-Impulse der gesuchten Person aufgefangen hatte. Rain Robinson befand sich also innerhalb der eingestellten Scanner-Reichweite. Die angezeigten Koordinaten stimmten mit dem Haus ihrer Eltern überein, in dem die Hochzeit stattfinden sollte.
Es gab noch einige Dinge für Paris zu erledigen. So musste er einen Zugang zum Gelände finden, auf dem sich das Haus von Rains Eltern befand. Einen, der ihm erlauben würde, sich unbemerkt unter die Gäste zu mischen, die im Laufe des Vormittags erscheinen würden. Er hoffte, dass niemand seine Einladung würde sehen wollen. Dies war eine Unbekannte in seiner Rechnung, doch Commander Oberleitner hatte sie als zu vernachlässigen bezeichnet.
Entgegen seiner Einschätzung dauerte es bis 10:30 Uhr, bevor Paris einen akzeptablen Punkt gefunden hatte, an dem er unbemerkt auf das Grundstück der Robinsons gelangen konnte. Unauffällig mischte er sich von dort aus unter die übrigen Gäste, von denen die eine Hälfte offensichtlich die andere Hälfte gar nicht kannte, wie er aus einigen Dialogfragmenten heraushörte.
Überall in dem geräumigen Haus tummelten sich Erwachsene, die sich, mehr oder weniger, zu amüsieren schienen. Kinder eilten lärmend zwischen ihnen hindurch.
Bevor er das Haus betreten hatte, wies der letzte Scann aus, dass sich Rain Robinson im ersten Stock des Hauses aufhielt. Offensichtlich allein.
Tim Paris konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. Damals galt es als ein böses Omen, die Braut zu sehen, bevor sie zum Altar geführt wurde.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis der Captain eine Gelegenheit fand, unbemerkt eine Etage höher zu gelangen. Im Gegensatz zur Parterre wirkte das Haus hier oben wie ausgestorben. Nur aus einem der Zimmer drangen schwache Geräusche zu ihm auf den Flur.
Tim Paris zog erneut den Tricorder hervor. Die Anzeige belehrte ihn darüber, dass es nur noch Minuten dauern würde, bis Rain Robinson aus dieser Zeitlinie verschwand. Das leise Zirpen des Geräts beachtete der Captain dabei nicht.
„Tom? Tom Paris?“
Überrascht sah der Kommandant der RELATIVITY von der Anzeige des Tricorders auf. Er schalt sich einen Narren, weil er es verabsäumt hatte, seine Umgebung weiter im Blick zu behalten. So stand Rain Robinson nun vor ihm. Wunderhübsch, im weißen Brautkleid. Ihre fast schwarzen Augen streiften nur kurz das Gerät in seinen Händen, bevor sie ihn wieder fragend ansah.
„Ich bin nicht Thomas Paris“, erklärte Captain Paris und ihm wurde gleichzeitig bewusst, wie lahm das klang. „Tom ist ein entfernter Verwandter. Mein Name ist Timothy Paris.“
Die Frau musterte ihr Gegenüber forschend, bevor sie erwiderte: „Ja, da gibt es ein paar Unterschiede. Doch ob nun Tom oder Tim – diesmal komme ich mit. In welche Zukunft auch immer. Das da unten darf nicht passieren.“
Timothy Paris sah in die tränennassen Augen der Frau und es dauerte einen Moment, bis er die richtigen Schlüsse gezogen hatte. Erstaunt fragte er: „Warum heiraten Sie, wenn Sie das gar nicht wollen, Miss Robinson?“
Statt einer Antwort wandte die Frau den Kopf zur Seite, als jemand die Treppe zu ihnen hinauf polterte. Eine sonore Stimme rief dabei: „Rain, Kleines! Ich hoffe du bist fertig angekleidet, denn die Zeremonie findet jetzt statt!“
Panisch sah sich Paris um. Wenn ihn außer Rain jemand hier oben antraf, konnte das unabsehbare Folgen für diese Zeitlinie haben. Schnell trat er einen Schritt zurück, drückte den Sendeknopf und gab Befehl: „Sofort zurückholen, Commander Oberleitner! Nottransport!“
Noch bevor die ersten Feldlinien des Zeit-Transporters sichtbar wurden handelte Rain Robinson in einer Weise, mit der Paris nicht gerechnet hatte. Sie sprang nach vorne und umklammerte den Mann vor sich. Dabei stieß sie heiser aus: „Egal ob nun Tom oder Tim – diesmal komme ich mit!“
Im Kommandoraum sah Timothy Paris, dessen Arme sich, scheinbar selbsttätig, um den schlanken, straffen Körper von Rain Robinson gelegt hatten, in die grünen Augen seines Ersten Offiziers, die ihn ungläubig anstarrten. Sein Blick eilte zu Rain, deren Gesichtsausdruck eine entschlossene Note angenommen hatte. Fast gleichzeitig meldete einer der Offiziere an der Kommandokonsole des Zeittransporters: „Die Kräuselung der Zeitlinie löst sich soeben auf. Die Mission war erfolgreich, Captain.“
Timothy Eugene Paris verstand beinahe in demselben Moment, weshalb Rain nach ihrem Verschwinden aus der Zeitlinie nie woanders aufgetaucht war. Sie hatte sich erst jetzt und an diesem Ort wieder im Zeitstrom rematerialisiert. Das war zu Beginn seiner Mission unabsehbar gewesen. Als er erneut zu Commander Oberleitner sah, wirkte das Gesicht seiner Untergebenen beinahe schadenfroh. Mit abgesenkter Stimme sagte sie: „Ich bin nur einmal gespannt, wie sie das der Kommission für temporale Integrität beibringen werden, Captain. Und für Sie, Miss Robinson: Frohe Weihnachten.“
ENDE