„Hm, ein leeres Marmeladenglas? Was hat sie sich dabei bloß gedacht?“ Felix starrte verständnislos auf das dürftige Geschenk in seinen Händen. Klar, es war toll verpackt gewesen und überhaupt hatte sich sein Schatz wirklich viel Mühe mit dem Adventskalender gemacht. Aber … Während er geistesabwesend an dem Verschluss herumspielte, fiel ein rot gesprenkelter Zettel, den er für das Etikett gehalten hatte, ab und blieb zusammengerollt auf dem Schreibtisch liegen. Auch der Deckel hatte sich gelöst. Achtlos ließ der Meisterbellologe ihn neben den Zettel fallen und stellte das Glas daneben. Sorgfältig entrollte er den Zettel, strich ihn glatt und las:
„Achtung! Lebensgefahr! Antiflauschige Antiadventswichte – niemals frei lassen – höchst gefährlich – Angst und Ablehnung spüren sie sofort und greifen unvermittelt an …“
Oh! Leicht entsetzt flackerte sein Blick zu dem nun offenen Glas, als er auch schon etwas Undefinierbares, Warmes nach seiner Hand tasten spürte. Das Unsichtbare begann durchscheinende Konturen zu entwickeln, während er das Etwas neugierig betrachtete. Gleichzeitig rief er über die Schulter ins Nebenzimmer: „Schatz, könntest du mal kurz Pizza holen gehen?“
Leicht schmollend schaute Leeg um die Ecke. Sie hatten doch etwas anderes abgemacht für heute Abend? „Kannst du nicht selbst …“ Ein Blick auf das Gesicht ihres Liebsten, und sie ließ ihren Protest fallen. Irgendetwas war ihm gerade sehr wichtig und dringlich. Ein Ausdruck, der sie ihre Einwände zurückstellen ließ. „Na gut, aber ich bringe nur für mich meine Lieblingspizza mit …“ Sie ließ die Tür absichtlich-unabsichtlich lauter zufallen, als unbedingt nötig und machte sich auf den Weg.
Erleichtert konzentrierte sich der Meisterbellologe auf das Krabbeln des Wesens, das mittlerweile aus lauter weißen, immer noch durchscheinenden Kullern und Antennen zu bestehen schien, während er gleichzeitig versuchte, die Gebrauchsanleitung zu Ende zu lesen. Oh, nein. Wenn das stimmte, was da stand … Wie sollte er die Bedingung jemals erfüllen? Schnell schob er den Gedanken beiseite, wie er das Wesen wieder in das Glas zurück befördern könnte. Das überzog seinen Lieblingspullover mittlerweile mit klebrigen Fäden, die vor seinen staunenden Augen immer dunkler wurden. Dann wuchsen scheinbar mitten in der Luft fünf grüne Hörner, aus deren Mitte drei rote Augen ihn anstarrten.
„Wahnsinn! Die haben es von Belle hierher ins reale Leben geschafft!“ Mittlerweile hatte er vergessen, dass er das Wesen nur mit Hilfe einer Lieblingsspeise, von der er niemals jemand etwas abgeben würde, in das Glas zurück locken könnte. Und auch nur, wenn er es aus vollem Herzen gerne anbot. Das Wunder, ein Geschöpf aus dem Lesezoo leibhaftig vor Augen zu sehen, war mehr, als er sich erträumt hatte. Während er den angeblich antiflauschigen Antiadventswicht bewunderte, veränderte sich der Antiflauschwicht, entwickelte mehrere Kraken-ähnliche Arme, etwa zwei Dutzend, und ließ sich eine schuppige lila farbene Haut wachsen. Als sich die Krakenarme um seinen Hals zu schlingen begannen, wurde Felix doch etwas mulmig. Aber natürlich erinnerte er sich sofort an die Anweisung, keine Angst zu haben, und entspannte sich wieder.
Die Arme ließen ihn los. Das Wesen verwandelte sich in einen Vampir mit Hai-Zähnen, einen Alligator mit Tiger-Kopf und sogar in einen Mini-Raptor. Als das Drehen des Schlüssels in der Haustür schließlich Leegs Rückkehr ankündigte, verblasste das Geschöpf und fiel in sich zusammen. „Mist“, schimpfte der Meisterbellologe, als er bemerkte, dass das Wesen unsichtbar geworden war. Schnell lief er seinem Schatz entgegen. „Tür zu, schnell!“ Er zog sie samt Pizza-Kartons in die Wohnung und schlug die Tür zu. Gegen jede Gewohnheit schloss er sie auch noch doppelt ab.
„Was ist denn mit dir los? Hast du eine Morddrohung erhalten?“ Verdutzt über das seltsame Verhalten, schaute sich Leeg um, sah aber natürlich nur das leere Marmeladenglas auf dem Schreibtisch. Ach ja. Elles seltsamer Einfall für den Kalender. Ihre Gedanken wurden dadurch unterbrochen, dass sie etwas am Bein kitzelte, sodass sie sich unwillkürlich kratzen musste.
„Nicht!“ Felix‘ Warnung kam zu spät: Von einen Moment zum anderen erschien ein riesiger Hummer mit Schlangenzunge und krabbelte an Leeg hoch, seine Fühler verhedderten sich in ihren Haaren, während sich die dünnen Beine des Geschöpfs mit unzähligen Widerhaken an ihren Körper klammerten. Rote Augen starrten sie prüfend an.
„Das ist nur ein Wicht, ganz harmlos“, erklärte Felix und betrachtete die Verwandlung interessiert. Hast du deine Lieblingspizza mitgebracht?“
Leeg nickte: „Aber das ist wohl jetzt nebensächlich …“
„Naja, stimmt, du gibst mir ja sowieso nie was davon ab.“
„Und da werde ich jetzt auch keine Ausnahme machen, nur weil dieses garstige …“
„Du darfst nicht nach dem Äußeren urteilen, es ist in Wirklichkeit ganz lieb …“ Hoffentlich kapiert sie es, dachte Felix. „Außerdem war es in dem Adventskalender, den du mir geschenkt hast! Es muss also lieb sein!“
„Es war wo?“ Entsetzt starrte Leeg auf die roten Augen und die Scheren, die sich an ihrer Jacke zu schaffen machten. „Bist du sicher, dass es lieb ist?“ Bei ihrem Schatz wusste man nie – der fand auch das gefährlichste Monster noch niedlich.
„Ja, klar, Elle würde doch nie etwas Gefährliches schicken!“
„Hm.“
Dem Wicht wuchsen langsam Fledermausflügel. Das Geschöpf ließ sich fallen und schrumpfte zu einer dornigen Kugel, die eiligst um Leegs Kopf flatterte.
„Ich glaube, es würde gerne ein Stück von deiner Pizza haben …“
„Klar. Es fährt voll auf Pizza ab. Gib ihm doch deine.“
„Schau mal, wie süß es ist“, lockte Felix und deutete auf das Echsen-ähnliche, schleimige Wesen, das mittlerweile auf Leegs Rücken hockte. Es wurde sofort stachelig. „Einfach faszinierend, wie es sich verwandeln kann.“
Leeg kicherte. Diese monstermäßige Begeisterung, die sie so liebte, wirkte ansteckend. Obwohl sie es eigentlich nicht vorgehabt hatte, entschloss sie sich, ausnahmsweise ein Stück ihrer Pizza zu opfern. Sie öffnete den Karton, hatte sofort ein kugeliges Etwas voller Pusteln auf ihrem Handrücken sitzen, brach ein Stück ab. „Soll ich es aus der Hand füttern?“ Der Wicht wurde weiß, fast durchscheinend.
„Nein, besser er gewöhnt sich daran, in seinem Glas zu essen. Sonst beißt er hier noch alles an.“
„Okay. Kleiner, dann wollen wir mal, was?“ Leeg klang jetzt richtig liebevoll, als sie das Geschöpf auf ihrem Handrücken zum Schreibtisch balancierte und das Pizzastück ins Glas stopfte.
Der Wicht wurde immer kleiner und ließ sich mit einem seufzenden Geräusch ins Glas fallen.
Schnell schraubte der Meisterbellologe das Glas zu und seufzte dann ebenfalls, während vor ihren Augen erst die Pizza und dann das Wesen verschwanden. Das war noch mal gut gegangen. „Offenbar werden sie unsichtbar, wenn sie satt sind. Ich muss dann mal dringend nach Belle.“ Und den Antiflauschigen Antiadventswicht – oder war es ein Adventsantiwicht? - Geschöpf sicher dorthin bringen, wo er hingehört. Sicher ist sicher. Von der Gefahr, in der seine Liebste geschwebt hatte, erwähnte er lieber nichts.
Bevor er sich auf den Weg machte, fiel ihm der Zettel ein. Mal sehen, ob noch etwas Interessantes darauf stand. Kann ja nicht schaden, informiert zu sein …
„Können sich im Zustand der Unsichtbarkeit vermehren. Dazu teilen sie sich einfach. Das Zweitgeschöpf, oder vielmehr eins der beiden neuen Antiflauschwichte, die aus dem alten hervorgegangen sind, bleibt unsichtbar, bis das andere von ihm entfernt wird. Man sollte daher stets eine Auswahl an leeren Marmeladengläsern vorrätig halten, um etwaige neue Antiflausch Antiadventswichte einfangen und sichern zu können. – Viele Grüße & frohe Adventszeit! Elle“
„Schatz?“ Der Meisterbellologe blickte auf, seine Augen suchten heimlich das Zimmer ab. „Haben wir eigentlich noch irgendwo leere Gläser? Ach, und wir sollten die Tür in nächster Zeit immer geschlossen halten.“