ZORA
„Oooh, ich bin schon total aufgeregt... Ihr etwa nicht?“, grinste ich. Die anderen warfen mir mehr oder weniger genervte Blicke zu.
„Ist jetzt nicht so 'ne große Sache“, sagte Nytra gelangweilt, während sie sich umzog. Wir hatten das Training gerade hinter uns. Nach dem Abendessen würden sich die Lehrer verabschieden und dann würde die eigentliche Feier beginnen. Die anderen hatten davon gesprochen als sei es etwas unfassbar aufregendes, also war ich dementsprechend neugierig.
„Natürlich ist es das!“, protestierte ich und schmollte. Dass die anderen bei so etwas immer so ernst sein mussten... Nytra verstand doch sonst jeden Spaß.
„Ja, es ist schon etwas besonderes, aber... ich weiß ganz ehrlich noch nicht, was ich so von diesem Abend erwarten soll“, räumte Arisa etwas verlegen ein.
„Ach, es wird schon echt gut werden“, sagte ich und sprang auf. „Bin bis zum Essen nochmal unterwegs, treff euch dann am Tisch“, erklärte ich kurz und verließ den Raum, ehe die Spaßbremsen mir meine Vorfreude ruinieren konnten.
Im Speisesaal angekommen, traf ich gleich auf die Jungs und damit natürlich auch Keiro. Immer noch etwas gekränkt drückte ich mich an ihn.
„Was hast du denn?“, fragte er verwundert und ein wenig belustigt.
„Ach, die anderen waren doof“, erklärte ich, immer noch ein wenig schmollend. „Die freuen sich überhaupt nicht richtig auf heute Abend.“
„Deine Freundinnen?“, fragte Keiro erstaunt. „Die scheinen doch sonst immer an allem Spaß zu haben... Oder meinst du Tanya?“
Ich zuckte die Schultern. „Die auch. Hauptsächlich die Leute aus meinem Zimmer. Die tun so, als wäre das nichts besonderes...“
„Vielleicht haben sie ein bisschen Angst? Tanya war ja auch an Neujahr nicht da. Vielleicht mag sie so große Gruppen nicht oder ist es einfach nicht gewohnt. So wie wir hier am Anfang Angst hatten, ohne unsere Familien“, versuchte Keiro das Verhalten der anderen so zu erklären, dass es Sinn ergab.
Da hatte er bestimmt teilweise recht, Arisa hatte ja schon gesagt, dass sie einfach unsicher war, was sie zu erwarten hatte, aber Tanya hatte wahrscheinlich einfach keinen Spaß an so etwas. Vielleicht aus Angst, vielleicht auch weil sie einfach zu ernst war. Und was in Nytras Kopf vorging, wusste grundsätzlich nur sie selbst.
Die Glocke zum Abendessen klingelte und wir gingen zum Tisch herüber. Etwa zehn Minuten später waren alle eingetroffen und das Essen in vollem Gange, als sich die Türen des Speisesaals mal wieder von außen öffneten. Die Lehrer traten geschlossen ein und schauten streng über die Reihen. Die Älteren, die ja schon wussten, was das bedeutete, begannen zu grinsen.
„Liebe Schüler und Schülerinnen, ich bitte um Ruhe!“, rief Raiga laut und die letzten Gespräche verstummten. „Wie jedes Jahr, findet an diesem Wochenende eine Versammlung der Akademie statt. Die Leiter der Zweigstellen, sowie alle Lehrer der Akademie werden daran teilnehmen. Dies bedeutet für euch, dass ihr dieses Wochenende auf euch selbst gestellt seid.“
Er machte eine Pause und ließ einen kalten Blick über uns schweifen. „Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr tun könnt, was ihr wollt. Es wird alles so weiterlaufen, wie wenn wir hier sind. Der dritte Jahrgang hat die Aufgabe, das sicherzustellen. Wir werden am Sonntag gegen 20 Uhr wieder hier eintreffen und erwarten, dass die Einrichtung zu diesem Zeitpunkt in einwandfreiem Zustand ist. Es wird außerdem gegen 21 Uhr eine Zimmerkontrolle geben.
Bis dahin wünschen wir euch ein gutes Wochenende.“
Die Lehrer schauten uns noch einmal an, einige streng, einige lächelten wissend, und verließen den Speisesaal dann wieder. Die Gespräche setzten sich eine Weile ruhig fort, ehe die zwei Drittklässler, die am Tor Dienst gehabt hatten, grinsend hereinkamen und verkündeten, die Lehrer seien außer Sicht- und Hörweite. Da begann mit einem lauten Gejubel die sogenannte 'Feier', unsere zwei Tage vollkommene Freiheit.
Schon vor einem Monat hatten die Stufen Geld eingesammelt, von dem die Älteren an den vier Wochenenden Alkohol gekauft hatten. Die Kontrolle am Tor war Sache der Drittklässler und wurde normalerweise nicht von einem Lehrer überprüft, außerdem schien das Ganze sowieso so etwas wie ein offenes Geheimnis zu sein. Auf jeden Fall hatten die Zweit- und Drittklässler beträchtliche Vorräte angelegt, die jetzt hervor geholt wurden. Schon nach kurzer Zeit stapelten sich die Kisten mit den Flaschen in der Küche.
Schnell beendeten wir das Abendessen, wir wollten uns ja noch umziehen. Gerade als wir alle verschwinden wollten, hielt Keiro mich zurück.
„Hey, einen Moment muss ich dich noch aufhalten“, lächelte er und zwinkerte. „Ich wollte dir nur sagen, nimm dir das nicht so zu Herzen, wie die anderen Mädchen das mit heute Abend sehen. Du freust dich auf gleich, ich freu mich und ganz viele andere auch. Und ich werde ganz sicher dafür sorgen, dass du auch wirklich viel Spaß hast.“
Er schaute mir ehrlich und offen in die Augen und ich merkte, wie ich lächelnd rot wurde. Er war so fürsorglich, dass liebte ich wirklich an ihm. Schnell drückte ich ihn fest und flüsterte: „Ich hab dich lieb!“
„Und ich liebe dich“, antwortete er und drückte mir einen Kuss auf den Kopf.
„Spar dir das für später auf“, zwinkerte ich und haute dann schnell ab. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich freute mich zwar sehr auf den Abend und darauf, vielleicht nochmal ein bisschen Zeit mit Keiro allein zu verbringen, das war normalerweise ja eher schwierig, aber ich hatte auch ein bisschen Angst davor.
Als wir alle fertig waren mit dem umziehen, sah ich mich auf einmal ganz anderen Leuten gegenüber. Die drei trugen ausnahmsweise fast keine Akademiesachen, sondern Kleidung, die sie entweder mitgebracht oder am Wochenende in der nächsten Stadt gekauft hatten.
Arisa hatte die Sachen angezogen, die sie auch angehabt hatte, als sie die Akademie erreicht hatte. Dicke, feste Stiefel, die bis zur Mitte des Unterschenkels gingen, dazu eine kurze Hose und ein einfaches Oberteil aus Leinen. Nytra trug schwarz. Schwarze Stiefel, eine lange schwarze Hose, schwarzes Oberteil. Ich war etwas perplex, andererseits passte die Farbe gut zu ihrer teils doch sehr negativen Stimmung. Tanya trug ein hellblaues, langes, sehr edel wirkendes und mit kleinen Edelsteinen besetztes Kleid und hatte die langen Haare ausnahmsweise offen.
Sie musste es von Zuhause mitgebracht haben und es machte ausnahmsweise mal wirklich den Unterschied zwischen ihr und uns deutlich. Normalerweise trug Tanya, wie die meisten Schüler, die Sachen, die wir von der Akademie bekommen hatten und war bis auf ihre guten Manieren, ihre Höflichkeit und ihren Ernst nicht von uns anderen zu unterscheiden. Doch jetzt, in diesem Kleid wurde deutlich, dass man jemand besonderen vor sich hatte. Eine richtig feine junge Dame aus gutem Hause, wie meine Mutter gesagt hätte.
„Ist irgendwas?“, fragte sie verwundert. Erst jetzt merkte ich, dass ich sie mit offenem Mund angestarrt hatte. Ihre Haare trug sie ausnahmsweise offen und sah damit einfach umwerfend aus. Schnell schüttelte ich den Kopf.
„Die Reaktion wirst du heute Abend noch öfter bekommen, sag ich dir jetzt schon“, erklärte Nytra mit einem schiefen Lächeln.
„Ach, redet doch keinen Unsinn...“, wehrte Tanya mit roten Wangen ab. „Wahrscheinlich sollte ich mich besser wieder umziehen, wenn ihr mich so aufzieht...“
„Oh, nein! Vergiss es!“, ging ich blitzschnell dazwischen und baute mich vor Tanya auf. „Du ziehst dich heute nicht mehr um!“
„Du siehst so gut aus, das können wir den anderen doch nicht vorenthalten“, stimmte Arisa zu und ergriff Tanyas rechten Arm. „Komm, wir gehen und schauen mal, was schon so los ist.“
Ich packte kurzerhand Tanyas anderen Arm und so brachten wir sie trotz leichten Widerstands bis in den Speisesaal. Nytra folgte uns lachend.
ARISA
Im Speisesaal war es jetzt doch schon voller geworden. Wir hatten etwas länger zum umziehen gebraucht, sodass es jetzt schon acht Uhr war. Ein paar Zweitklässler räumten gerade noch die Tische an den Rand des Speisesaals, sodass in der Mitte eine große freie Fläche entstand. Vielleicht würde es ja noch Musik geben, sodass wir dort tanzen konnten...
So langsam steckte Zoras Aufregung mich doch an. Es war zwar nicht die erste Feier, die ich miterlebte, aber es war doch schon etwas anderes, als die Feste im Tal. Vor allem weil kein einziger Erwachsener dabei war. Die Drittklässler hatten zwar eine ähnliche Ausstrahlung wie die Erwachsenen, aber eigentlich waren sie auch nur Schüler. Vor allem an diesen drei Tagen. Und es war das erste Mal, dass ich Alkohol probieren konnte. Das klang irgendwie sehr interessant und da die Älteren sich auch so darauf freuten, musste es ja etwas gutes sein.
Ich merkte jedoch, dass sich Tanya scheinbar nicht so recht wohlfühlte. Sie wirkte sehr nervös, was ungewöhnlich war. Normalerweise versteckte sie ihre Sorgen besser, also musste diese Situation eine besondere Herausforderung sein.
„Mach dir keine Sorgen“, lächelte ich deshalb leise und hakte mich bei ihr unter. „Es wird sicher ganz lustig und wenn du nicht mehr möchtest, kannst du ja einfach ins Zimmer gehen. Keiner wird dir Vorwürfe machen.“
Sie schaute mich besorgt an. „Danke, Arisa, dass du zumindest versuchst, mich zu beruhigen...“, lächelte sie verlegen. Leider schienen meine Versuche nicht wirklich etwas zu bewirken, denn sie schaute sich weiterhin nervös um.
„Ach, du meine Güte“, hörten wir da ein aufgeregtes Kreischen von hinten. „Tanya, du siehst ja umwerfend aus!“, rief Annika und kam mit roten Wangen zu uns herüber gelaufen.
„Findest du?“, erwiderte Tanya nur, jetzt noch verlegener als vorher.
„Hab sogar ich dir gesagt, da solltest du es langsam mal glauben“, mischte Nytra sich gelangweilt ein und ging an uns vorbei. „Ich guck mal, ob es schon was zu trinken gibt.“
Tanya verdrehte zwar noch eben die Augen, konzentrierte sich dann aber auf uns. „Das haben wir ihr alle schon gesagt“, stimmte ich zwinkernd zu. „Aber sie will es uns einfach nicht glauben.“
„Solltest du aber. Sie haben nämlich recht“, mischte sich da eine männliche Stimme von hinten ein. Naro, Jiro und Zeo waren wie aus dem Nichts hinter uns aufgetaucht. Das sorgte jetzt natürlich dafür, dass Tanya endgültig rot anlief und Annika scheinbar etwas von ihrer Freude verlor.
„Na, ihr drei kommt ja gerade richtig“, erklärte Zora und kicherte über die Situation.
„Keiro müsste in der Küche sein, nur, falls dich das interessiert“, zwinkerte Jiro ihr zu. Er war zum Glück schnell darüber hinweg gekommen, dass die beiden zusammen waren.
„Wirklich? Danke“, lächelte sie breit und huschte dann auch schon weg. Lächelnd sah ich ihr nach, ich freute mich wirklich für die beiden. Und für Tanya auch, auch wenn es schien, als hätte sie auch gleich zwei Verehrer...
„Einen guten Abend, meine liebste Arisa, ich bin auch hier, falls dir das entgangen sein sollte...“, säuselte Zeo da und versuchte mal wieder, mir einen Arm um die Schultern zu legen.
„Warum kannst du dich eigentlich nur in solchen Momenten so gewählt ausdrücken?“, mischte sich Tanya genervt ein, bevor ich etwas erwidern konnte. Sie war wahrscheinlich froh, eine Ablenkung von Naros Kompliment zu bekommen.
„Na, weil es die wichtigsten Momente sind, liebe Tanya. Vor Arisa muss ich mich von meiner besten Seite zeigen“, erklärte er überzeugt.
„Ich hab schon mehr Seiten von dir gesehen, als mir lieb ist“, schnaubte ich.
„Uuuuh, und die wären?“, grinste Jiro jetzt stichelnd.
„Willst du nicht wissen. Solltest du nicht vielleicht nach Gawen sehen? Wo ist der überhaupt?“, wehrte ich ab. Ich war zwar froh, dass ich so von Tanya ablenken konnte, aber ich wollte jetzt auch nicht der Mittelpunkt aller folgenden Sticheleien werden.
„Ach, der versucht bestimmt wieder, Nytra doch irgendwie zu beeindrucken“, erklärte Jiro gelangweilt. „Der kann auch nicht aufgeben.“
„Genauso wenig wie ich. Und sieh, wohin es mich gebracht hat“, grinste Zeo und kam mir wieder gefährlich nahe. Diesmal konnte ich ihn jedoch mit einem Todesblick davon abhalten, mich zu berühren.
„Keinen Schritt weiter, fürchte ich“, lachte Naro jetzt.
„Tja, Jungs sind halt doch Idioten“, erklärte Annika jetzt und hakte sich bei Tanya unter. „Sollen wir uns eine ruhigere Ecke suchen? Hier fehlt mir ein bisschen das Niveau...“
In diesem Moment fiel mir wieder ein, was für eine kleine, eingebildete Ziege sie sein konnte. Damit hatte sie allerdings bei Tanya nicht unbedingt gute Chancen... Auf jeden Fall war ich froh, als sie sich von mir entfernte. Naro ging den beiden nach, was Annika bestimmt nicht so passte, aber über sein 'Niveau' konnte sie sich wenigstens nicht beschweren. Also, falls ich richtig verstanden hatte, was sie unter diesem Wort verstand. Schien so eine Reiche-Leute-Sache zu sein.
„Gut, dass die Zicke sich verzogen hat. Auf die hab ich ja so keinen Bock“, erklärte Jiro jetzt und warf noch einen genervten Blick in ihre Richtung.
„Die ist echt schrecklich eingebildet“, stimmte Zeo zu.
„Da sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung.“
Also blieb ich erst einmal mit den beiden Jungs zusammen. Nach und nach wurde es immer voller und ein paar andere Schüler holten Musikinstrumente hervor. Kurz nachdem die Musik eingesetzt hatte, tauchten auch Nytra, Inaga und Gawen bei uns auf. Nytra hielt eine Flache mit roter Flüssigkeit in der Hand, von der sie offenbar schon einiges getrunken hatte. Schon kurz nachdem sie sich neben mir auf die Bank fallen ließ, bot sie mir etwas davon an und, neugierig wie ich war, nahm ich an.
Das Zeug roch halb süßlich, halb unangenehm brennend scharf. Schmeckte auch so. Das war am Anfang echt nicht sonderlich angenehm, aber nach und nach merkte ich, wie mir davon warm wurde und ich mich auf einmal echt gut fühlte. Es war zwar alles ein bisschen langsam in meinem Kopf und fühlte sich ein bisschen taub an, aber es war nicht wirklich unangenehm.
Ich bekam eine riesige Lust, zu tanzen und ohne nachzudenken, zog ich Nytra mit mir auf die Fläche, die die Älteren vorher frei geräumt hatten und wo schon einige andere am Tanzen waren. Hauptsächlich waren es Mädchen, die entweder mit Jungs oder mit anderen Mädchen tanzten. Die Jungs drückten sich eher am Rand auf den Bänken herum. Soviel bekam ich noch mit, ehe mir irgendwann alles egal war.
Ich tanzte bestimmt zwanzig Minuten mit Nytra, ehe die mich an Zeo abgab, um mal nach Luft zu schnappen. Kurze Zeit später kamen Inaga und Jiro auch dazu, während Gawen wartete, bis Nytra wieder zurück kam. Dann waren wir alle sechs am Tanzen und ich weiß noch, dass ich mich wirklich gut fühlte. Zumindest solange, bis Zeo irgendwann anfing, mich im Kreis herum zu wirbeln.
Nach etwa zwei Runden wankte ich zu unserem Tisch herüber und ließ mich erschöpft auf die Bank fallen. Mir war verdammt schwindelig. Ich hatte immer noch das Gefühl, alles drehte sich, obwohl ich mich ja längst nicht mehr drehte. Es half nicht, dass mir dieses ungewohnte Gefühl jetzt auch noch Angst machte...
Ein paar Minuten blieb ich sitzen und begnügte mich damit, meinen Kopf praktisch festzuhalten, aber als auch das nichts half, legte ich mich schließlich so auf den Tisch, wie Nytra es manchmal machte, wenn ihr langweilig war. Die Arme streckte ich auf der Tischplatte aus und legte dann meinen Kopf darauf.
Der Schwindel verschwand allmählich und wurde durch ein warmes, angenehmes, leicht langsames, taubes, müdes und wohliges Gefühl ersetzt. Hätte ich nicht gedacht, dass das so eine Wirkung haben würde... Musste ich Nytra unbedingt nachher sagen...
Die Pause vom ganzen Tanzen tat echt gut, nur wurde ich langsam aber sicher müde... aber das machte auch nichts. Der Tisch war ja überraschend bequem und es würde bestimmt keinen stören, wenn ich hier ein bisschen schlafen würde...
Doch gerade als ich einschlafen wollte, riss mich eine vertraute Stimme aus dem angenehmen Dämmerzustand. „Na, Süße? Alles gut bei dir?“, grinste Zeo mich so blöd an wie immer. Ich war ein bisschen sauer, dass er mich vom Schlafen abhielt, doch ich hatte keine Lust, ihn jetzt zu schlagen. Nö... überhaupt keine Lust dazu.
Stattdessen grinste ich etwas müde: „Jap. Alles gut... und bei dir?“ Dann musste ich gähnen.
„Bei mir ist auch alles gut“, lächelte er etwas zurückhaltend und setzte sich neben mir auf die Bank. Ich drehte den Kopf so, dass ich ihm von hier unten ins Gesicht schauen konnte.
„Das ist schön“, lächelte ich breit und aufrichtig. Ich wollte, dass es ihm gut ging. Das hatte ich mir die ganzen Jahre immer gewünscht.
„Du bist jetzt aber ungewohnt freundlich, sicher, dass alles gut ist?“, fragte er etwas besorgt. Das war süß. Wie er die Augenbrauen zusammenzog und mich so doof anguckte. Ich musste etwas kichern.
„Ich glaub, ich hol dir mal ein bisschen Wasser...“, meinte er dann und wollte aufstehen, doch ich bekam seinen Ärmel gerade noch zu fassen.
„Nein, nicht gehen...“, murmelte ich schmollend. Ich klammerte mich an den Arm, den ich gerade gefangen hatte, damit er ihn mir nicht wegnehmen konnte. Ich wollte nicht, dass er wieder verschwand. Außerdem war er warm und noch viel bequemer als der Tisch... Vielleicht konnte ich seinen Arm ja als Kopfkissen bekommen.
„Ähhh, Arisa? Ich glaube, du musst ins Bett. Komm, wir suchen Tanya, die kann dich hinbringen...“, stammelte Zeo dann ungewöhnlich nervös.
„Will nicht Tanya suchen. Will hier bleiben. So. Genau hier...“, gab ich schmollend zurück. Ich wollte zwar schlafen, aber nicht in meinem Bett. Blödmann. Konnte der nicht kapieren, dass ich einfach nur wollte, dass er da blieb? Er sollte nie mehr weg gehen...
„Ja... Ist ja schön, dass du das willst. Aber wir können nicht hier bleiben. Du kannst hier und vor allem so nicht schlafen...“
„Will ich aber!“, murmelte ich mit Nachdruck und drückte mich noch fester an seinen Arm. „Wenn ich dich nicht festhalte, verschwindest du wieder...“
Er sah mich erschreckt an und hielt inne. „Arisa... Ist schon gut.“ Er nahm mich in den Arm. „Ich verschwinde nicht. Ganz bestimmt nicht“, fest drückte er mich an sich und erst da merkte ich, dass ich angefangen hatte, zu weinen. „Komm, ich bring dich jetzt zu Tanya und dann gehst du ins Bett.“
Vorsichtig sorgte er dafür, dass ich aufstand und stützte mich dann so, dass ich nicht hinfiel. Er schaute sich im Raum um und suchte Tanya, während ich mich nur weiter an seinen Arm klammerte. „Aber du darfst nicht weggehen, versprochen?“, murmelte ich dann und schaute ihn flehend an.
Zeo schaute mich mit großen Augen an und lächelte dann sanft. „Ich geh nicht weg, versprochen.“ Er drückte meine Hand, wie um dieses Versprechen zu bekräftigen. Er hatte Tanya scheinbar endlich gefunden und so bewegten wir uns in ihre Richtung.
Sie bemerkte uns bereits kurz bevor wir sie erreichten. Sie wirkte bereits etwas genervt und ich sah Nytra grinsend neben ihr stehen. Wahrscheinlich war diese ihr wieder auf die Nerven gegangen.
„Oh... was seh ich denn da?“, grinste Nytra jetzt albern. „Mein Lieblingspärchen!“ Mit weit ausgebreiteten Armen, wollte sie sich schon auf mich stürzen, doch Tanya fing sie ab.
„Lass das, du siehst doch, dass Arisa nicht mal alleine laufen kann“, versuchte sie wie immer logisch zu argumentieren. Aber das interessierte Nytra jetzt noch weniger als sonst.
„Ach was! Das sind doch meine Freunde, Freunde wird man ja wohl noch umarmen dürfen!“, protestierte Nytra und versuchte, aus Tanyas Griff zu entkommen. „Außerdem stützt Zeo sie doch. Wir haben eben alle ganz toll getanzt, das war so riiiichtig schön“, grinste sie breit und betrunken.
„Wie ich sehe, hast du hier wohl auch schon alle Hände voll zu tun...“, meinte Zeo mit einem verlegenen Lächeln.
„Geht schon. Die beiden kommen jetzt ins Bett“, erklärte Tanya nüchtern. Beim Wort Schlaf wurde ich schlagartig daran erinnert, wie müde ich war... Ich gähnte, ohne mir die Hadn vor den Mund zu halten, und schaute Tanya dann entschuldigend an. Höflichkeit war zwar wichtig, aber Zeo nicht loszulassen war wichtiger. Sie zog nur abschätzend die Augenbrauen hoch und fragte Zeo: „Willst du sie mir geben? Dann gibt Nytra auch Ruhe und ich kann beide wegbringen...“
Zeo löste trotz meines Protests vorsichtig meine Finger von seinem Arm und Tanya streckte eine Hand zu mir aus, an die ich mich daraufhin klammerte. Im nächsten Moment wurde ich fest gedrückt. „Halluu, Arisa...“, grinste Nytra breit. „Ich hab dich lieb...“
Ich war jetzt zu müde zum Reden, also drückte ich mich nur zurück an sie und lächelte ein bisschen.
„Wie schön für euch...“, kommentierte Tanya genervt. „So, hopp, hopp, ab ins Bett.“ Sie ging in Richtung Tür und da ich an ihr hing und Nytra an mir, mussten wir mitkommen.
Wir waren schon im Mädchenflur angekommen, da merkte Nytra erst, was der Plan war. „Hä? Was machen wir hier drin? Was soll das?“
„Ihr geht jetzt ins Bett. Ihr seid betrunken genug, das ist ja so nicht auszuhalten“, erklärte Tanya und öffnete unsere Zimmertür.
„Vergiss es, ich bin noch nicht müde, ich will noch nicht schlafen gehen!“, Nytra ließ mich los und ich brummte, weil mein Rücken jetzt kalt wurde.
„Nytra, du gehst jetzt ins Bett, genau wie Arisa. Da drüben kann euch so keiner gebrauchen“, erklärte Tanya.
Nytra schien das noch wütender zu machen. „Ach, und für wen hältst du dich, dass du das bestimmen darfst? Meinst du, du wärst unsere Mutter oder was?! Du kannst mich mal!“, nach diesem Ausbruch wirbelte sie herum und stürmte davon.
Tanya seufzte tief und verdrehte die Augen. „Na komm, Arisa. Aber wenigstens du gehst jetzt ins Bett...“ Ich nickte und etwa fünf Minuten später war ich auch schon tief eingeschlafen.
NYTRA
Als ich wieder wusste, wo ich war, saß ich auf dem Dach des Schülergebäudes. Die Drittklässler hielten an den Tagen der Feier keine Wache, da es ja eigentlich eh überflüssig war. Wer sollte uns hier auch angreifen? So ein Schwachsinn...
Von unter mir hörte ich noch die Stimmen der anderen Schüler, ein wenig Musik und betrunkenes Gelächter. Warum war ich nicht mehr da unten? Ach ja, Tanya hatte es für nötig gehalten, uns ins Zimmer zurückzuschleppen. Dann... dann war das Wort 'Mutter' gefallen. Nein, ich hatte gefragt, ob sie sich für unsere Mutter hielte...
Ich hasste meine Mutter. Sie hätte sich jedoch nie so verhalten wie Tanya. Das war nur das Bild, das jeder hatte. Die Vorstellung von der liebenden, fürsorglichen Mutter, die ihre Kinder beschützte. Ich lachte bitter auf. Mich hatte nie jemand beschützt. Erst recht nicht vor meiner Mutter.
Hier draußen war es noch verdammt kalt. Ich zog die Knie an und lehnte meine Stirn an meine Beine. Machte mich so klein, wie ich konnte. Das bewahrte die Wärme und gab mir wenigstens ein bisschen das Gefühl von Geborgenheit.
Der Alkohol riss die Mauern ein, die ich gebaut hatte, um mich vor den gefährlichen Gedanken zu schützen und nun brachen die Fragen wieder hervor.
'Warum ich? Hatte ich es verdient, so behandelt zu werden? Warum beschützte mich niemand? Warum liebte mich niemand? Warum interessierte es niemanden, was mit mir passierte? Warum glaubte mir keiner, wenn ich davon erzählte? War ich es nicht wert geliebt zu werden? Würde es je jemanden geben, der das tat?'
'Ich bin sicher, dass es so jemanden geben wird', ertönte da eine leise Stimme. Erschrocken schaute ich mich um, doch es war niemand zu sehen. Dazu kam, dass ich die Stimme nicht mit meinen Ohren gehört hatte, nein, es war, als wäre sie direkt in meinem Kopf gewesen. Wie meine eigenen Gedanken... Aber diese Stimme hatte ich noch nie gehört.
'Toll, jetzt hab ich schon Wahnvorstellungen', dachte ich genervt. Das wurde ja immer besser. War ich jetzt schon so verrückt?
'Ich bin keine Wahnvorstellung. Ich bin genauso echt wie du', erwiderte die Stimme belustigt.
'Ich kann nichts hören, lalalala...', dachte ich und hielt mir unbewusst die Ohren zu, als wäre das eine echte Diskussion mit einem echten Gegenüber.
'Du bist ganz schön seltsam. Ist wohl dein erstes Mal mit der Gedankenübertragung, hm?', schlug meine, der Stimme nach zu urteilen, männliche Wahnvorstellung belustigt vor.
'Ich hab keine Ahnung, wovon du da redest, aber wenn du echt bist, dann verschwinde aus meinem Kopf. Wer bist du überhaupt?', vielleicht würde das den Spuk beenden.
'Na, immerhin akzeptierst du jetzt, dass ich echt sein könnte. Wer ich bin... das kann ich dir leider nicht verraten, aber ich werde auch gleich weiterziehen. Ich war eigentlich auf der Suche nach jemand anderem, als ich dich fand.'
'Wie hast du mich denn gefunden? Und wen suchst du stattdessen?', da es ja doch keine Wahnvorstellung zu sein schien, war ich jetzt neugierig geworden. Außerdem lenkte mich das gerade sehr gut ab.
'Ich suche meinen Bruder. Und gefunden habe ich dich, weil du verzweifelt nach jemandem suchtest. Du hast praktisch stumm um Hilfe geschrien, da habe ich dich auf meiner Suche zufällig entdeckt.'
'Ich versteh immer noch nicht, was das alles heißen soll. Ich versteh gerade rein gar nichts mehr...', ich schüttelte verwirrt den Kopf, doch die Stimme lachte nur kurz.
'Sollte das öfter passieren, wird es dir irgendwann jemand genau erklären. Ich habe jetzt leider keine Zeit dafür, aber ich hoffe, wir werden uns noch einmal begegnen. Bis dahin, wünsche ich dir viel Glück bei deiner Suche.'
'Warte-', dachte ich noch, aber ich merkte, dass die Verbindung abgebrochen war, da ich nur noch meine eigenen Gedanken hörte. 'So wie es sein sollte', erinnerte ich mich. Ich schüttelte mich einen Moment. Das war unfassbar seltsam gewesen. Vielleicht sollte ich das mit dem Trinken doch lieber lassen. Ausgenüchtert und durchgefroren suchte ich den Weg, auf dem ich hergekommen war.
TANYA
Ich seufzte. Das war ja mal wieder super gelaufen. Zora konnte ich nirgends finden, wollte das wahrscheinlich auch gar nicht, da sie sowieso irgendwo mit Keiro rumhing und ich mir diesen Anblick sparen könnte; Arisa hatte ich gerade betrunken ins Bett bugsiert und Nytra war in ihrem vollkommen bescheuerten Ausbruch abgehauen. Vielleicht sollte ich jetzt doch was trinken.
Immer noch ein wenig gehemmt, ging ich zurück in den Speisesaal, in dem sich die meisten Schüler tummelten. In der Küche standen ein paar vom dritten Jahrgang, die wohl die Getränke herausgaben. Unsicher schaute ich herüber, nur um mir dann doch zu sagen, dass es eine dumme Idee war und ich die Finger von dem Mistzeug lassen sollte. Ich hatte ja gesehen, was mit Arisa passiert war.
Gerade als ich umdrehen und gehen wollte, legte sich ein Arm um meine Schultern. „Da ist ja meine Stufensprecherin! Hab dich schon vermisst“, grinste Annika mit roten Wangen. Sie war definitiv auch schon angetrunken...
Seufzend verdrehte ich die Augen. „Ich musste Arisa ins Bett bringen. Die war vollkommen fertig.“
„Na dann, können wir ja jetzt anfangen, unseren Spaß zu haben!“, schlug sie begeistert vor und begann, mich in Richtung Küche mitzuschleifen.
„Nee, Annika, lass mal bitte... Ich will gar nichts trinken...“, versuchte ich schwach, zu protestieren, doch vielleicht war das jetzt meine beste Gelegenheit, Alkohol zu probieren, ohne dass es ein schlechtes Licht auf mich warf. Schließlich hatte meine Freundin mich dazu aufgefordert...
„Ach, Unsinn! Natürlich willst du. Du brauchst das, um mal ein bisschen locker zu werden! Und danach gehen wir in mein Zimmer!“, erklärte sie grinsend und ich merkte, dass sie mehr als nur ein bisschen getrunken hatte. Immerhin war ihre Stimmung noch gut und noch nicht so umgeschlagen, wie bei Nytra... Ich hatte allerdings ein bisschen Angst, dass das bei ihr auch passieren könnte.
Annika besorgte uns zwei Gläser mit einer rötlichen Flüssigkeit, die gleichzeitig süß und scharf roch. Der Geruch stach ein bisschen in meiner Nase und war allgemein etwas unangenehm, aber Annika trank das Zeug, ohne mit der Wimper zu zucken. Also konnte es nicht so schlimm sein... Vorsichtig nippte ich ein bisschen und verzog sofort das Gesicht. Die Schärfe, die wohl vom Alkohol kam, brannte auf meiner Zunge und im Hals. Der süße Saft, der dazu gemischt worden war, half nicht wirklich dabei, den Geschmack abzumildern.
„Iiiih... wie könnt ihr das nur in euch reinschütten?“, fragte ich angeekelt, woraufhin Annika mir ins Gesicht lachte.
„Man gewöhnt sich dran. Die Wirkung ist halt ganz schön“, erklärte sie und zog mich mit zu den anderen, die noch im Saal waren.
„Ich dachte, wir gehen in dein Zimmer?“, fragte ich etwas überrascht.
„Später. Erst mal musst du ordentlich was trinken, sonst bist du mir zu ernst“, grinste sie untypisch frech.
In der Ecke standen Inaga, Jiro, Gawen, Dorina, Elin, Aki, Bari, Fan und Zeo, der mich dankbar anschaute.
„Danke nochmal“, sagte er ein bisschen verlegen, aber ich winkte ab.
„Alles gut, dafür sind Freunde ja da“, lächelte ich.
„Du hättest aber auch mal selber auf deine kleine, dumme Freundin aufpassen können, anstatt Tanya wieder Arbeit zu machen, du dämlicher Hinterwäldler!“, motzte Annika dann und funkelte Zeo an, der darauf jedoch nur mit einem genervten Blick reagierte.
„Ho, da haben wir wohl noch jemanden, der gleich ins Bett möchte, hm?“, meinte Inaga da mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du weißt doch, jeder, der Stress macht, fliegt hier raus, Annika?“
„Schon gut, schon gut“, ergab Annika sich schnell. „Ich muss ja unsere Stufensprecherin noch abfüllen...“
„Viel Glück dabei“, grinste Zeo etwas zweifelnd.
„Wird eh nicht passieren“, erklärte ich. „Das Zeug schmeckt doch gar nicht...“
Da lachten alle außer mir laut auf. „Du trinkst ja auch nicht für den Geschmack!“, meinte Aki. „Jeder trinkt für was anderes. Manche brauchen das, um locker zu werden, so wie Annika und Fan hier...“
Fan verengte leicht die Augen und lächelte dann fies. „Besser, als seinen Liebeskummer zu ertränken“, stichelte er zurück.
„Andere trinken sich auch Mut an, um an diesem Wochenende ihrem Schwarm näher kommen zu können“, meinte Inaga dann mit einem mehrdeutigen Lächeln. Unwillkürlich musste ich an Naro denken und wurde rot. Mann, das war schon wieder eine so unangenehme Situation... Wie auch immer, das konnte ich auf keinen Fall tun.
„Naja, und manche versuchen einfach, all ihre Sorgen zu vergessen“, meinte Gawen dann etwas betrübt und schaute an mir vorbei zur Tür, durch die Nytra gerade herein stolperte. Sie war blass und sah aus, als würde sie jeden Moment umfallen.
Seufzend drehte ich mich schon um und wollte zu ihr gehen, da sah ich, wie sich ausgerechnet Luca ihr näherte. Gefahr witternd, beobachtete ich die Szene gespannt, jederzeit bereit, einzugreifen. Doch nach einem wütenden Blick in seine Richtung und ein paar Worten, die ich hier nicht verstehen konnte, verschwanden die beiden durch die Türen des Mädchentraktes.
„Was war das denn?“, fragte ich geschockt.
„Wo die Liebe hinfällt“, meinte Zeo und zuckte die Schultern.
„Also mit Liebe hatte das glaube ich nichts zu tun...“, erklärte Inaga zweifelnd.
„Pfff... wer weiß, was die wohl jetzt machen“, brach Dorina in hysterisches Gekicher aus. Inaga und ich schauten einander kurz an, dann war klar, was passieren würde.
„Und hier haben wir die nächste, die ins Bett gehört!“, erklärte Inaga fröhlich und packte sich Dorina am Arm. „Da können wir auch gleich rausfinden, was da abgeht.“ Unter diesem Vorwand zogen die beiden, begleitet von leichten Protesten Dorinas, von dannen, um herauszufinden, was es wohl mit Nytra und Luca auf sich hatte.
„Och, Mann... Dorina, du hohle Nuss, musst du mir alles kaputt machen...“, murmelte Annika und verzog schmollend das Gesicht.
„Was hat sie denn gemacht?“, fragte ich verwundert. Dann fiel mir ein, dass wir ja eigentlich in das Zimmer gehen wollten, weil Annika ja irgendwas hatte. „Wir können doch gleich trotzdem rüber gehen oder ist das so geheim?“
Sie schaute mich endlos genervt an. „Ja, das ist so geheim“, schmollte sie weiter.
„Dann gehen wir halt nach draußen. Da finden wir schon einen Platz und ein bisschen frische Luft würde uns beiden bestimmt gut tun“, schlug ich vor und ging dann in Richtung Tür. Wenn das so wichtig und geheim war, sollte ich mir das wohl besser anhören, bevor sie mich wie geplant abfüllte...
Widerwillig folgte Annika mir nach draußen und wir setzten uns auf das Geländer des überdachten Weges, der zum Schulgebäude herüber führte. „Also, was gibt es denn so wichtiges?“, lächelte ich freundlich.
Annika jedoch wirkte ein wenig bedrückt und schaute mich erst einen Moment stumm an. Dann seufzte sie, richtete sich auf und schaute mir fest in die Augen. „Ich... Ich muss dir jetzt etwas sehr wichtiges sagen. Eigentlich wollte ich ja... Ach, wie auch immer. Herumdrucksen bringt jetzt auch nichts...“, unterbrach sie sich ganz ungewohnt selbst. Diese Vorstellung wurde von Sekunde zu Sekunde seltsamer und mit einem Mal traf mich beinahe der Schlag, als ich verstand, was sie mir wohl sagen wollte.
„Ich bin in dich verliebt, Tanya“, sagte sie dann und ihre Stimme zitterte leicht. „Schon ganz lange, aber ich hab mich nie getraut, etwas zu sagen...“ Sie schaute mich zugleich bittend und entschuldigend an und wartete jetzt bestimmt auf eine Antwort. Aber ich war so perplex, dass ich erst einmal einen Moment brauchte...
„Annika...“, flüsterte ich erst einmal nur. Ich war mir ja selbst nicht sicher, was ich für sie empfand. Sie war meine beste Freundin und sie hatte mich am Anfang so sehr an Erika erinnert... Und sie war wirklich hübsch. Aber... dann war da noch Naro...
„Tut mir leid“, flüsterte ich dann.
Annika schaute mich in der Dunkelheit ruhig an, doch ich merkte, dass sie jetzt traurig war. Wahrscheinlich auch richtig verletzt, aber... ich konnte sie ja nicht anlügen. „Du... bist schon in jemand anders verliebt, nicht?“, flüsterte sie dann leise. Ich schaute sie erstaunt und ein wenig ertappt an. „Das hatte ich mir schon gedacht... In Naro, stimmt's? Nytra hat dich damit ja immer geärgert...“
Ich seufzte, es tat mir wirklich, wirklich leid für sie, aber sie hatte recht. „Das stimmt“, gab ich zu. „Auch wenn ich noch nicht so mutig war, wie du und ihm noch nichts davon gesagt habe...“
„Ich bin nicht mutig... Ich bin nur dumm“, entgegnete sie und wandte sich ab.
Ich sprang vom Geländer und stellte mich vor sie. „Das stimmt überhaupt nicht! Du bist alles andere als dumm und es war unglaublich mutig von dir, das zu sagen. Und es macht mich auch wirklich glücklich, dass du so empfindest, aber... Ich kann dich auch nicht anlügen. Und das würde ich tun, wenn ich sagen würde, dass ich auch in dich verliebt sei. Du bist meine beste Freundin und du bist mir unfassbar wichtig!“
Sie hatte meinen gesamten Wortschwall abgewartet und wandte mir jetzt erst wieder das Gesicht zu. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen, doch ein kleines, tapferes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Danke, Tanya... Es ist schön, das zu hören. Ich... Ich hoffe einfach, dass du glücklich wirst. Und-“, sie stockte. „Und ich hoffe, dass wir vielleicht trotzdem Freundinnen bleiben können...“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Wenn das für dich in Ordnung ist, dann natürlich“, versprach ich leise.
Sie nickte, ein bisschen erleichtert und sprang auch vom Geländer. „Ich glaube, dann gehe ich für heute am besten ins Bett...“
„Gute Nacht, schlaf gut“, sagte ich noch und ließ sie dann gehen.
ZORA
Am nächsten Morgen wurde ich erst spät wach. Es gab natürlich keinen Weckdienst und so wurde ich erst gegen halb zehn wach. Sonnenstrahlen stachen mir in die Augen und irgendwie war es sehr warm in meinem Bett. Das Schnarchen, das ich hörte, passte aber so gar nicht in mein Zimmer, was mich etwas verwirrte. Erst als ich mich aufsetzte, wurde mir klar, dass ich gar nicht in meinem Zimmer war.
In den anderen Betten lagen die Jungs. Genau genommen, die älteren Jungs, also musste das hier Keiros Zimmer und Keiros Bett sein... Ich drehte mich um und fand die Quelle der verdächtigen Wärme neben mir, gerade soweit weg, dass wir einander nicht berührten. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich versuchte schnell und leise aus diesem Bett zu entkommen.
Ich hatte keinerlei Erinnerung wie es dazu gekommen war. Ich wusste nur noch, dass wir zuletzt eben auf diesem Bett gesessen und geredet hatten. Und dann war ich müde geworden... Oh, ich hoffte, dass ich nichts falsches gesagt hatte. Und dass die anderen Jungs mich nicht bemerkt hatten, als sie ins Zimmer gekommen waren...
Vorsichtig öffnete ich die Tür und huschte auf den Flur. Gerade als ich die Treppe ins Erdgeschoss herunter kletterte, hörte ich leises, zum Glück weibliches, Gelächter von oben.
„Ja, war echt schön. Vielleicht sollten wir das heute Abend nochmal machen“, schnurrte eine mir unbekannte Stimme verführerisch. Dann kletterte eine Zweitklässlerin eine der anderen Leitern hinunter. Als sie mich sah, zog sie anerkennend die Augenbrauen hoch und lächelte mich an. „Nicht schlecht für einen Neuling.“
Peinlich berührt hätte ich sie am liebsten korrigiert, doch dann war es mir doch wichtiger, hier möglichst schnell und hoffentlich von niemand anderem gesehen, wegzukommen. Mit hochrotem Kopf stürmte ich immer geradeaus durch die Türen, den Speisesaal und weitere Türen bis in unseren Flur, wo ich zu unserem Zimmer abbog. Nachdem ich hindurch geflitzt war, schlug ich die Tür hinter mir zu und seufzte erleichtert. Dann schaute ich hoch.
In die Gesichter meiner drei Zimmernachbarinnen. Nytra schaute unerwartet genervt, eigentlich wäre das hier ja ein gefundenes Fressen für sie gewesen. Arisa schaute etwas perplex, als verstünde sie nicht richtig, was los war und Tanya zog eine Augenbraue hoch und fragte: „Wo kommst du denn her?“
„Ääääääh...“, machte ich, da mir so schnell absolut nichts glaubwürdiges einfiel. „Würdet ihr mir glauben, wenn ich sage, ich hätte einen Morgenspaziergang gemacht?“, versuchte ich es.
„Du warst die ganze Nacht weg, also nein“, entgegnete Tanya ungerührt. „Ist irgendetwas passiert, dass ich als Jahrgangssprecherin wissen müsste?“ Ihre Stimme wurde schneidend.
„Äääääh... nein? Ich glaube nicht...“, riet ich verlegen und hoffte, dass es stimmte.
„Dann ist ja gut“, meinte sie dann und schlug ihr Buch, das sie bei meinem Auftauchen weggelegt hatte, wieder auf. Nytra warf mir jetzt doch noch ein wissendes Grinsen zu, während Arisa immer noch etwas planlos wirkte.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte ich etwas verwundert. Ich meine, Arisa wirkte sonst schon manchmal etwas verpeilt, aber heute... das war noch ganz anders.
„Hm? Ja, klar, alles in Ordnung...“, murmelte sie und lächelte mich dann breit an.
„Ich glaub, sie hat das gestern nicht so gut vertragen“, erklärte Tanya. „Nytra auch nicht, die hat heute noch kein einziges Wort gesprochen. Bitte sag mir, dass du wenigstens normal bist.“
Sie schaute mich jetzt fast flehend an und ich antwortete etwas verunsichert: „Ich denke schon?“
Daraufhin seufzte sie tief und wandte sich wieder ihrem Buch zu. „Dann bin ich ja froh. Ich wusste von vorneherein, dass das eine blöde Idee ist mit dieser dämlichen Feier...“
„Och, Tanya, sei doch nicht immer so negativ...“, meinte ich enttäuscht.
„Stimmt, das ist schon die Aufgabe von wem anders“, kicherte Arisa.
Von Nytras Bett kam nur ein stummer Mittelfinger.
„Wo wir gerade dabei sind, warum redest du nicht? Ich mein, Arisa ist wahrscheinlich immer noch nicht wieder nüchtern oder bei ihr ist sonst was kaputt gegangen, aber...“, fragte ich dann verwundert. Nytra redete doch sonst gerne, laut und viel.
„Mir war nicht danach“, antwortete sie schließlich doch hörbar. Es folgte ein kollektives Seufzen angesichts dieser Nytra-typischen Antwort. Keiner konnte verstehen, was in diesem Kopf vor sich ging... „Erzähl du lieber, was du letzte Nacht mit Keiro so gemacht hast.“ Sofort versuchte sie wieder abzulenken, indem sie mich ärgerte. War ja klar.
„Wir haben gar nichts 'gemacht'!“, stellte ich empört und verlegen klar. „Wir haben geredet und irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Das ist alles.“
„Hihihihi... Nytra, dachtest du etwa die hätten Erwachsenen-Sachen gemacht?“, kicherte Arisa jetzt etwas spät.
„Na, im Gegensatz zu dir bin ich noch dazu in der Lage, zu denken“, meinte Nytra nur und rollte die Augen. Damit war das Thema dann zum Glück auch wieder gegessen. Tanya schaute zwar noch etwas ärgerlich, aber auch das war nicht wirklich etwas neues.
„Habt ihr eigentlich schon gefrühstückt?“, fragte ich dann, da ich merkte, dass ich doch wirklich hungrig war.
„Gibt kein Frühstück. Heute Nachmittag werden sich ein paar Zweitklässler vielleicht dazu durchringen Mittagessen zu machen, aber jetzt gerade gibt es in der Küche nur Alkohol“, erklärte Tanya verärgert. Ihr Blick sagte soviel, wie: 'das wird nächstes Jahr allerdings nicht so laufen'.
„Guck in den Schrankfächern ganz hinten rechts. Da sind noch ein paar Rationen. Pass aber auf, dass dich kein anderer bemerkt“, grinste Nytra dann.
„Ist das dein Ernst?!“, fuhr Tanya sie jetzt doch an. „Ihr erzählst du das jetzt und wir mussten bis jetzt hungern?!“
„Hey, ich hab mitgehungert, ja?!“, zischte Nytra zurück. „Ich wollte halt warten bis alle aus unserem Zimmer da sind, damit wir alle was abbekommen!“
„Sehr vorbildlich von dir. Dann geh ich uns schnell was holen“, ging ich dazwischen, was sonst eigentlich Arisas Aufgabe war. Die schaute aber immer noch planlos im Raum herum und wirkte nicht so, als ob sie etwas dazu sagen wollte. Mit einem Seufzen huschte ich wieder nach draußen. Hoffentlich behielt die blöde Zweitklässlerin es für sich, dass sie mich gesehen hatte...
Wenige Minuten später saßen wir mit unserem spärlichen Frühstück in der Mitte des Zimmers, Arisa, Tanya und ich auf den Betten, Nytra gegenüber von der Tür auf dem Boden.
„Was ist denn bei euch gestern Abend noch so passiert?“, fragte ich dann neugierig. Ich hatte die anderen nicht mehr wirklich gesehen, da Keiro und ich schon ziemlich früh in sein Zimmer gegangen waren.
„Tanya ist bei ihrer spießigen Freundin geblieben, während Arisa und ich schön mit den Jungs tanzen waren. Dann musste Arisa irgendwann ins Bett“, fing Nytra an und schaute Tanya mal wieder böse an. Konnten die beiden sich eigentlich mal fünf Minuten nicht streiten?!
„Red nicht so über Annika!“, zischte Tanya jetzt und wurde seltsamerweise etwas rot. Das war neu, normalerweise konnte sie einfach so über Annika reden.
„Nytra hat dem armen Gawen wieder Hoffnungen gemacht...“, kicherte Arisa, die trotz Frühstück immer noch unverändert war.
„Und du hast dich an Zeo ran gehangen wie eine Klette“, gab Nytra fies grinsend zurück.
„Waaas? Mann, ich glaub ich hab einiges verpasst...“, ich war jetzt ernsthaft etwas perplex. Heute Abend mussten wir unbedingt im Speisesaal bleiben. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt...
„Dafür hattest du hinterher noch ein kleines Gespräch mit Luca, wenn ich das richtig gesehen habe“, warf Tanya jetzt ein. „Reicht dir nicht, nur einem den Kopf zu verdrehen, hm?“
Sofort wurde Nytra knallrot. „Red keine Scheiße! Ich hab überhaupt nichts dergleichen gemacht. Und Luca ist mir hinterher gerannt, weil er mit mir reden wollte. Da hatte ich aber keinen Bock drauf, also hab ich ihn abblitzen lassen. Soviel nur mal dazu!“
„Na, wie auch immer, ihr hattet ja scheinbar alle echt noch spannende Abende...“, gab ich noch einmal zu, bevor die sich wieder gegenseitig an die Gurgel gingen.
Wenn ich Keiro nachher nochmal sah, musste ich ihm sagen, dass wir heute unbedingt im Speisesaal bleiben mussten. Was auch immer heute noch passierte, durfte ich auf keinen Fall verpassen.
TANYA
Am Nachmittag saß ich im Speisesaal und wurde mit jeder Minute wütender. Es war noch immer kein Zweitklässler aufgetaucht und es hatte noch immer kein Essen gegeben. Die meisten schliefen noch, aber spätestens jetzt müssten auch die mal aufwachen. Und dann würden sie Hunger haben. Und wenn sie dann nichts bekamen, konnte das richtigen Ärger geben.
„Dieser böse Blick steht dir nicht besonders, hab ich dir das schon mal gesagt?“, Naro kam gerade von draußen in den Speisesaal. Da ausnahmsweise keiner außer uns beiden hier war, ließ ich ihn damit durchkommen, so etwas zu sagen und wurde nur stumm rot.
„Wir brauchen etwas zu essen. Wenn die anderen wach werden und Hunger haben, gibt es Ärger“, erklärte ich und schaute verlegen zur Seite.
„Mach dir darum mal keine Sorgen. Ich bin gerade dabei, unsere fleißigen Köche einzusammeln. Du könntest ja helfen, wenn es dir so wichtig ist“, zwinkerte er mir zu und kam zu mir herüber.
„Kann ich leider nicht“, gab ich ehrlich zu.
„Zuviel mit deinem eigenen Jahrgang zu tun?“, schlug er als Grund vor und setzte sich neben mich.
Jetzt musste ich schon wieder rot werden und klarstellen: „Nein, ich kann wirklich nicht. Ich habe noch nie irgendwas gekocht.“ Er lachte natürlich.
„Das ist doch kein Problem. Ging mir letztes Jahr genauso. Komm, ich zeig dir ein bisschen was, bevor die anderen kommen.“ Freundlich hielt er mir die Hand hin und nach einem kurzen Zögern schlug ich ein. Konnte mir für nächstes Jahr nur helfen. Natürlich interessierte es mich überhaupt nicht, wie Naro das alles machen würde. Es ging nur um die Erfahrung, genau...
In der Küche holte er zuerst die großen Töpfe heraus und stellte sie schon einmal bereit. Dann suchte er ein wenig Gemüse zusammen, das ich zuerst abwaschen sollte. Während ich damit beschäftigt war, suchte er ein Messer und ein Brett, das schon unzählige Kerben aufwies. Dann legten wir das gewaschene Gemüse darauf und er zeigte mir, wie ich das Messer halten und schneiden musste.
Seine Hände waren warm und wir waren uns so nah, dass ich wahrscheinlich knallrot war. Zum Glück stand er die meiste Zeit hinter mir, sodass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Das war mein einziger Trost. Und dass außer uns immer noch keiner da war.
Nach ein paar Übungsdurchgängen, die ich machen durfte, gingen wir dazu über, dass ich das Gemüse wusch, während er schnitt, da er dabei natürlich schon viel schneller war als ich. So hatte ich mich zum Glück dann auch beruhigt, als die anderen dann doch auftauchten. Es waren ein paar bekannte Gesichter dabei, aber die Namen wusste ich nicht mehr, deshalb zog ich mich unter dem Vorwand, nach meinem eigenen Jahrgang sehen zu müssen, aus der Küche zurück.
„Tanya, einen Moment noch“, rief Naro mir jedoch noch nach. Er kam bis zu mir herüber und sagte dann ganz leise: „Das war schön gerade... Wenn du möchtest, könnten wir das ja vielleicht nochmal machen...?“
Auf seinen fragenden Blich antwortete ich mit einem Lächeln: „Fand ich auch. Können wir gerne machen...“ Dann schauten wir einander einen Moment lang einfach nur an, ehe ihn einer der anderen Zweitklässler zurück rief. Verlegen sah ich zu, dass ich aus dem Speisesaal raus und in mein sicheres Zimmer kam...
Obwohl 'sicher' das falsche Wort war. Arisa war immer noch in Kicherlaune und Zora und Nytra hatten ein Spiel daraus gemacht, wer sie mehr zum Lachen bringen konnte. Scheinbar funktionierte das vor allem mit Andeutungen über die Beziehungen von anderen...
„Stell dir vor, Tanya und Naro laufen Händchen haltend über den Schulhof“, schlug Nytra in dem Moment vor und Arisa und Zora brachen in fröhliches Gekicher aus.
„Haha“, machte ich genervt. „Ich unterbreche euch ja nur äußerst ungern, aber immerhin kann ich euch mitteilen, dass es in etwa einer Stunde Essen geben wird.“
„Oooooh, Essen... Endlich was richtiges zu essen...“, murmelte Zora jetzt und schaute mich an, als hätte ich ihr gerade die schönste Nachricht überbracht, die sie sich vorstellen konnte. Was in dieser Situation wahrscheinlich auch stimmte.
„Endlich mal 'ne vernünftige Nachricht, in diesem Irrenhaus...“, meinte da ausgerechnet Nytra und ich konnte mir ein: „Sagt die Richtige“, nicht verkneifen.
„Ach, halt's Maul. Ich hab jetzt keine Lust, mich mit dir rumzuärgern. Hast du noch eins von deinen Büchern über?“ Sie hatte angefangen, sich meine Bücher auszuleihen und zwischendurch auch zu lesen, wenn ihr das Ärgern anderer zu langweilig wurde.
„Wenn du so mit mir redest nicht“, gab ich schnippisch zurück und setzte mich auf mein Bett.
„Ausnahmsweise hast du mich diesmal zuerst beleidigt, ja?!“, blieb Nytra jedoch dran.
„Und du hast blöde Witze über mich gemacht.“
„Das stimmt überhaupt nicht! Was ist denn an der Vorstellung so schlimm für dich? Ich denke, du bist in ihn verknallt?“
„Ich bin überhaupt nicht verknallt, in niemanden! Und wenn ich es wäre, wärst du die letzte, der ich das freiwillig erzählen würde!“, fuhr ich sie jetzt an. Ihre Hartnäckigkeit brachte mich wirklich zur Weißglut.
„Geht mir genauso, schön, dass wir uns ausnahmsweise mal einig sind, du blöde Kuh!“
„Leeeuuuute...“, stöhnte Zora jetzt genervt. „Arisa ist vollkommen daneben, da kann ich es nicht auch noch haben, wenn ihr euch jetzt die ganze Zeit streitet...“ Sie stand auf und ging zur Tür. „Ich geh zu meinen anderen Freundinnen, wir sehen uns beim Essen.“
„Siehst du, jetzt hast du sogar Zora schon vertrieben. Dich kann echt keiner ertragen!“, erklärte Nytra jetzt hämisch.
Sie hatte nicht ganz unrecht, was mich noch wütender machte, deshalb kramte ich kurzerhand eins meiner (dicken) Bücher hervor und warf es auf das Bett über mir. Es gab einen dumpfen Laut, als es wie erhofft Nytras Kopf traf und ich grinste fies. „Steck deine Nase da rein und halt deinen Mund“, motzte ich dann.
„Das tat scheiße-weh, du Pissbirne!“, regte sie sich noch auf, machte aber keine Anstalten, weiter mit mir streiten zu wollen. Stattdessen schwieg sie eine Weile und sagte dann: „Wenn du das gleich gemacht hättest, hätten wir uns den ganzen Streit sparen können und dann wäre Zora jetzt auch nicht sauer auf uns. War nicht so schlau von dir.“
Das wusste ich selbst. Mann, dieses Mädchen schaffte es aber auch immer, mich in sekundenschnelle zur Weißglut zu bringen... Ich schwieg, um weitere Streitereien zu vermeiden. Ohne Arisa oder Zora, die dazwischen gingen, wären diese vermutlich so ausgeartet, dass wir einander wirklich verletzten.
Nytra, die ja angeblich auch nicht auf Streit aus war, schwieg zum Glück jetzt ebenfalls. Arisa saß auf ihrem Bett und starrte Löcher in die Wand. Ich hatte keine Ahnung, was dafür gesorgt hatte, dass sie jetzt in diesem Zustand war. Hoffentlich würde etwas zu Essen das wieder beheben... Heute Abend müsste ich unbedingt aufpassen, dass sie nicht wieder etwas trank. Spätestes morgen Abend musste sie entweder wieder normal oder zumindest unauffällig sein...
Ich seufzte. Als Jahrgangssprecherin musste ich heute sowieso auf alle achten... Wenn morgen bei der Zimmerkontrolle irgendwo etwas auffiel, würde ich sicher mindestens eine Mitschuld bekommen. Ich musste unbedingt noch mit Elin sprechen, dass er auf die Jungs achtete. Irgendwo war es beinahe ungerecht, dass die anderen vollkommen kopflos Spaß haben konnten, während ich mir mal wieder Gedanken über alles machen musste. Andererseits konnte ich gar nicht anders. Selbst wenn ich nicht Jahrgangssprecherin gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich genauso gedacht.
Annika hatte wohl wirklich recht damit, dass ich so etwas wie Alkohol brauchte, um mir nicht immer so viele Gedanken zu machen... Puuuh... wenn ich an Annika dachte, sank meine Laune gleich nochmal tiefer. Diese ganze Feier war doch wirklich scheiße. Es gab nur Ärger, nichts zu essen, mehr Ärger, dumme betrunkene Nare, beste Freundinnen, die einem auf einmal gestanden, dass sie in einen verliebt waren... Ich freute mich schon verdammt darauf, wenn der ganze Wahnsinn endlich vorbei war.
Ich las noch ein bisschen, um mich von den ganzen Gedanken und vor allem der Tatsache, dass ich Annika beim Essen wiedersehen würde, abzulenken. Nach etwa einer halben Stunde klopfte es an der Tür und Inaga schaute herein.
„Hey, kommt ihr Essen?“, fragte sie grinsend.
„Iiiinaagaaaa“, quietschte Arisa und kam förmlich von ihrem Bett geflogen. Sie drückte Inaga fest an sich und strahlte wie ein Kind, das Süßigkeiten bekommt.
„Ist die die ganze Zeit so?“, fragte Inaga jetzt ein wenig irritiert und versuchte Arisa von sich loszumachen.
„Leider ja. Wir müssen aufpassen, dass sie heute nichts trinkt. So darf sie sich morgen, wenn die Lehrer wieder da sind, nicht benehmen...“, meinte ich und zuckte die Schultern.
„Also, ich find sie ja ganz niedlich so“, grinste Nytra und strich Arisa im vorbei gehen über den Kopf.
„Nur weil du ausnahmsweise nicht die kindischste hier bist...“
„Fängst du schon wieder Streit an?!“
Inaga seufzte und schlug uns kurzerhand auf die Köpfe. „Leute, genau deswegen ist Zora schon vor euch geflohen! Benehmt euch bitte mal für 5 Minuten nicht wie Kleinkinder...“ Dann drehte sie sich um und schleppte Arisa, die immer noch an ihr festhing mit in Richtung Speisesaal.
Seufzend folgten Nytra und ich ihr, nicht ohne einander nochmal einen giftigen Blick zuzuwerfen, weil wir gleich reagiert hatten.
Der Speisesaal war so voll, wie es erwartet hatte. Die Zweitklässler hatten sich jedoch wirklich noch Mühe gegeben und ziemlich viel Eintopf gekocht, sodass es für alle reichlich zu Essen gab. Das war aber jetzt auch nötig gewesen. Mit jedem Bissen spürte ich, wie ich mich langsam wieder etwas entspannen konnte. Meine schlechte Laune wich langsam, aber sicher und ich erinnerte mich daran, wie ich Naro bei den Vorbereitungen geholfen hatte. Die Erinnerung machte mich glücklich.
Nytra warf mir von der anderen Seite des Tisches einen wissenden Blick zu, als wüsste sie genau, woran ich dachte. Seufzend verdrehte ich die Augen und schaute woanders hin, während Inaga, die neben ihr saß, ihr ohne Vorwarnung wieder einen Klaps auf den Hinterkopf gab. Während Nytra, die sich wegen des Schlags verschluckt hatte, vor sich hin hustete, begegnete mein Blick dem von Annika. Die anderen brauchten von unserem Gespräch nichts wissen, deswegen mussten wir so tun, als wäre alles normal.
„Wie geht es dir so?“, fragte ich vorsichtig und versuchte dabei normal zu klingen.
„Nicht so gut. Ich glaube, das war gestern doch alles ein bisschen zu viel...“, antwortete sie mehrdeutig, lächelte aber ein wenig. „Heute Abend werde ich wahrscheinlich im Zimmer bleiben.“
„Wirklich? Achso... Schade, aber dann ruh dich gut aus...“ Ich bekam wieder starke Schuldgefühle, weil ich ihr im Prinzip die Feier versaut hatte. Aber... ich konnte ja nichts tun. Ich konnte ja nichts daran ändern, dass ich in jemand anderen verliebt war...
„Mache ich“, sagte sie dann und schaute weg. Einen Moment sah sie aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, entschied sich dann aber anders. Es tat mir wirklich leid für sie, aber ich konnte sie auch verstehen. Es bestand die Chance, dass ich heute Abend noch Zeit mit Naro verbringen könnte. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich das auch nicht sehen wollen.
SUKIRA
Am Abend stand ich etwas verloren im Speisesaal herum. Ich war nur kurz auf der Toilette gewesen und schon war meine Gruppe verschwunden. Ein wenig verstimmt machte ich mich auf die Suche nach Nytra, Tanya und den anderen. Zora war mit ihrem Freund wieder irgendwo abseits, aber Tanya war heute bei Nytra und Arisa geblieben. Wahrscheinlich auch, weil Naro heute ebenfalls bei unserer üblichen Gruppe verbrachte, anstatt sich wieder um seine eigene Stufe zu kümmern. Seine anderen Freunde waren heute allerdings nicht dabei...
Außerdem mussten die immer noch auf Arisa aufpassen. Ich fand es ja eher lustig, wie sie sich jetzt die ganze Zeit benahm, aber... ich verstand auch, warum Tanya sich Sorgen machte. Aber es war schon niedlich. Als sie mich in der Menge bemerkte, begann sie wie wild zu winken und wäre am liebsten gleich auf mich losgestürzt, hätte Nytra sie nicht grinsend zurückgehalten.
Ich ging zu den beiden herüber und wurde von Arisa zur Begrüßung gedrückt. Zum Glück ließ sie mich nach kurzer Zeit wieder los und hing sich dann wieder an Nytra.
Die warf mir jedoch daraufhin stürmisch einen Arm um die Schultern und drängte mich in die Richtung der anderen, während sie mir zusätzlich noch halb ins Ohr schrie: „Gut, dass du wieder da bist. Ich dachte, du wolltest schon wieder vom Erdboden verschwinden wie gestern! Wo warst'n du da überhaupt?!“
„Ich war genau hier im Speisesaal, aber du warst ziemlich schnell so betrunken, dass du es wohl nicht bemerkt hast. Ich bin aber auch früh ins Bett gegangen, ich war müde“, erklärte ich ein kleines bisschen genervt und machte mich von ihr los. Ich mochte sie wirklich gerne, aber direkt neben mir war sie einfach zu laut.
„Sie war leider viel zu schnell verschwunden“, lächelte Elin bedauernd. Er hatte sich anscheinend zu der Gruppe gesellt, die sich jetzt an einen der Tische verlagert hatte. Zora konnte ich immer noch nirgends entdecken und Tanya unterhielt sich mit Naro, sodass sie nur einen kurzen Blick für mich übrig hatte. Vielleicht hatte Elin ja mit Tanya und Naro über die Stufe gesprochen, ansonsten wäre es sehr seltsam, dass er ohne seine Freunde unterwegs war...
Ich wandte mich wieder Nytra, Arisa und ihm zu, als ich bemerkte, dass er mich direkt ansah. „Aber vielleicht können wir uns ja heute nochmal ein bisschen unterhalten?“, fragte er vorsichtig und lächelte ein bisschen.
Das war irgendwie typisch für ihn, so zu fragen... Ich lächelte zurück. „Natürlich, immer gerne.“
Nytra, die mit dem Rücken zu Elin stand, grinste mich selbstzufrieden an. „Unterhalten klingt doch gut. Aber da das sicher so ein wichtiges Gespräch wird, wie bei den beiden da“, sie deutete auf Tanya und Naro, die jedoch zum Glück nichts mitbekamen, „verschwinde ich mal lieber, ich will schließlich nicht stören.“
Sie zwinkerte mir noch einmal zu und stapfte dann mit Arisa in Richtung Küche davon.
„Das wird wieder ein kleines Desaster geben...“, prophezeite ich besorgt.
„Tanya wird sich freuen. Irgendwie tut es mir leid, dass sie immer so ist...“, antwortete Elin.
„Das ist sie gar nicht. Zumindest nicht immer“, schränkte ich ein und dachte an den Anfang zurück. „Eigentlich kann sie echt nett sein, aber es fällt ihr, glaube ich, schwer, Leute an sich heranzulassen. Zu mir ist sie aber eigentlich immer sehr lieb.“
„Zu jemandem wie dir muss man das auch sein“, gab Elin leise zu. Als ich ihn anschaute, sah ich, dass er wieder ganz rot geworden war.
Doch ich konnte nicht anders als ihn verärgert anzusehen. „So tut ihr immer alle. Als wäre ich irgendwie etwas besonderes... aber das will ich gar nicht sein.“ Ich wollte einfach so sein, wie die anderen auch. Ich dachte mittlerweile, jetzt, wo sie mich auch mal ärgerten, hätte ich das Ziel erreicht, aber jetzt sagte Elin wieder so etwas... Das war, wie wenn Nytra sich als Beschützerin aufspielte...
„So meine ich das aber nicht... Ich weiß, du denkst jetzt sicher daran, wie die anderen sich immer für dich einsetzen... dich beschützen wollen. Sich um dich kümmern wollen... Aber... ich nicht! Also... also, natürlich will ich das schon, aber...“ Elin schien jetzt selbst irgendwie aufgebracht und stammelte sich wild irgendetwas zusammen, dem ich kaum folgen konnte.
„Ich-“, versuchte ich, ihn zu unterbrechen, doch er schüttelte schnell den Kopf.
„Warte. Gib mir einen Moment... Ich weiß, ich hab gesagt, wir wollten uns erst unterhalten, aber jetzt habe ich gleich so einen Mist gebaut, dass ich es jetzt auch durchziehen muss. Ich muss nur kurz... nachdenken, wie ich es wirklich sagen will“, erklärte er mit hochroten Wangen und ich wurde immer verwunderter.
Warum musste er denn erst darüber nachdenken, wie er mir erklären wollte, dass er mich auch für ein schwaches, kleines, reiches Mädchen hielt, dass man nicht ärgern durfte und immer vor allem beschützen musste und dass nichts selbst konnte? Er hatte doch schon angefangen und ich wusste doch, was kommen würde. Ich war in diesem Moment wirklich enttäuscht.
Durch meine Gedanken war ich von der verlegenen Pause abgelenkt, die Elin dafür genutzt hatte, noch einmal tief Luft zu holen und sich zusammen zu reißen. Als ich ihm endlich wieder in die Augen schaute, schaute er fest zurück und sagte: „Du bist etwas besonderes für mich. Aber nicht so, wie du das von den anderen kennst, also versteh mich bitte nicht falsch. Das scheint ja ein... schwieriges Thema für dich zu sein. Aber du kannst mir glauben, dass du für mich nur etwas besonderes bist, weil ich...“, er brach ab, musste schlucken, sprach dann weiter. „Weil ich dich wirklich mag, Sukira. Also, so richtig...“ Verlegen senkte er den Blick.
Einen Moment lang setzte in meinem Kopf alles aus. Das war der letzte Gedanke auf den ich jetzt gekommen wäre. Erst konnte ich das gar nicht glauben. Dann wurde mir langsam klar, was er da eigentlich gesagt hatte und ich spürte wie ich knallrot wurde. Ich war so verlegen, dass ich schnell zu Boden schaute und hoffte, es würde sich ein Loch auftun und mich verschlucken. Wie blöd war ich denn gewesen, dass ich sauer auf ihn geworden war, wenn er mir doch so etwas sagen wollte... Wie dumm, wie unfähig, wie blöd! Kein Wunder, dass die anderen mich so behandelten...
„Also... ich wollte dich jetzt nicht damit kränken oder irgendwas. Das ist auch kein blöder Scherz oder so, nur dass du das weißt... Ich meine das wirklich ernst, aber wenn du... wenn dich das stört, dann tu einfach so als hätte ich nie etwas gesagt...“, Elin verstand meine Sprachlosigkeit falsch und redete sich jetzt förmlich um Kopf und Kragen.
Während er noch redete, rasten die Gedanken durch meinen Kopf, sodass ich zuerst nicht reagieren konnte, aber letztendlich musste ich ja irgendetwas antworten! Panisch riss ich den Kopf wieder hoch und sagte: „Stopp! Elin, stopp!“
Beinahe ängstlich schaute er mich an. Mindestens genauso ängstlich starrte ich zurück, was ihn sichtlich erschreckte. „Ich... Ich... Äh... Ich hab keine Ahnung, was ich jetzt sagen soll!“, brach es aus mir heraus und ich merkte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Das konnte doch nicht passieren! Ich war mir doch so sicher gewesen, dass das nie passieren würde!
„Sukira... ist schon gut“, schüttelte er dann, etwas niedergeschlagen den Kopf. „Ich hätte mir ja denken können, dass du... naja, du weißt schon. Aber, ich dachte mir halt, ich versuche es zumindest einmal... Bitte sei mir nicht böse deswegen...“
Er schien jetzt echt bedrückt zu sein und wollte schon aufstehen, doch schnell hielt ich ihn am Ärmel fest. „Warte!“ Mehr brachte ich im ersten Moment nicht heraus. Ich musste jetzt auch erst nachdenken, was ich sagen sollte und hoffte, dass er meinen Blick richtig verstand.
Ein wenig verwundert und resigniert, wandte er sich mir wieder zu. Wahrscheinlich dachte er jetzt, dass ich ihm noch erklären wollte, warum ich sein Geständnis ablehnte. Das war wirklich zu dumm, dass wir scheinbar beide gleich blöd waren und beide alles falsch verstanden!
Ich holte tief Luft, ihn traurig zu sehen, ertrug ich keine weitere Sekunde. „Ich... bin vollkommen überrascht“, erklärte ich und machte eine Pause. „Ich... hätte nie, also wirklich nie, erwartet, dass es dir so gehen würde. Dass du, auch so empfinden würdest...“ Ich musste, jetzt, wo die Überraschung wich und die vorsichtige Freude aufkeimte, lächeln und schaute ihn unsicher an. „Also... ich... Ich mag dich auch. So richtig.“
Bevor ich irgendwie reagieren konnte, drückte er mich plötzlich an sich. Ich spürte, dass sein Herz genauso raste, wie mein eigenes, auch wenn sich beide so langsam wieder beruhigten. Er hielt mich einen Moment ganz fest und ich merkte, dass es wirklich ganz anders war, von einem Jungen umarmt zu werden, als von einem Mädchen. Glücklich erwiderte ich die Umarmung.
Früher hatte mich nie jemand umarmt. Nytra hatte irgendwann damit angefangen, nachdem wir Freundinnen geworden waren und Arisa und Zora drückten mich mittlerweile auch manchmal, aber... es war immer noch etwas besonderes. Und etwas sehr, sehr schönes.
Irgendwann ließ er mich dann wieder los, aber wir redeten noch den ganzen Abend, bis die Drittklässler uns ins Bett schickten.
ARISA
Ich war wieder am Tanzen. Tanzen war wunderbar. Ich hatte es schon immer gemocht, aber in so einer großen Gruppe war es noch viel schöner. Im Tal lebten nicht so viele Leute, deswegen war es dort nie so voll, aber bei den Festen tanzten immer alle mit. Naja, alle die konnten. Ich dachte an die beiden Ältesten, Mina und Frillie. Die beiden waren schon über 80 und feuerten jetzt lieber die jungen Leute an. Bei der Vorstellung, sie säßen hier auf der Bank und diskutierten über die ganzen möglichen Pärchen, musste ich lachen.
„Woran denkst du?“, fragte Zeo, der heute wieder mit mir tanzen durfte. Für die zwei Abende der Feier galten keine Regeln. Also auch nicht die, dass ich ihm eigentlich böse sein musste, weil er Geheimnisse vor mir hatte. Alles, was in diesen zwei Tagen passierte, würde danach wieder vergessen sein müssen, deshalb konnte ich einfach ganz entspannt und ehrlich sein und das tun, wozu ich Lust hatte.
„An Mina und Frillie. Stell dir mal vor, die beiden wären jetzt hier“, antwortete ich kichernd und er musste ebenfalls lachen.
„Die würden noch einen Herzanfall bekommen, angesichts all des 'Potenzials'!“ Sein lautes, offenes Lachen erinnerte mich so sehr an früher. Ich erwischte mich bei dem Wunsch, dass es immer so wäre. Dass wir immer einfach ehrlich sein konnten, wie als Kinder. Das wäre wirklich schön.
Bei der Vorstellung überkam mich ein wohliges, glückliches Gefühl und ich drehte mich fröhlich im Kreis. Obwohl ihn das sichtlich überraschte, spielte Zeo mit und hielt meine Hände über meinem Kopf fest. Das fühlte sich so gut an, dass ich glücklich auflachte.
„So glücklich habe ich dich lange nicht mehr gesehen...“, grinste Zeo belustigt. In meinem Zustand bemerkte ich zwar, dass seine Stimme dabei ein wenig traurig klang, konnte das jedoch gar nicht verstehen und ignorierte es daher vollkommen.
„War ich auch nicht. Aber jetzt ist einfach gerade alles so schön, ich wünschte, es könnte immer so bleiben! Darum dürfen wir jetzt auch auf gar keinen Fall aufhören, zu tanzen!“ Seine warmen Hände, die meine hielten; die anderen, die um uns herum tanzten; die ausgelassene Stimmung an sich... all das war wunderbar. Ich fühlte mich wirklich wieder wie ein kleines Mädchen.
Nach einigen weiteren Umdrehungen wurde mir aber wieder schwindelig und ich taumelte Zeo in die Arme. Er war warm und ich fühlte mich geborgen, deshalb drückte ich mich unbewusst an ihn. Er war so viel größer als ich, dass er mit Leichtigkeit seinen Kopf auf meinen legen konnte und das, obwohl ich zuletzt noch ein ganzes Stück gewachsen und jetzt die größte aus meinem Zimmer war.
Wann war er nur so groß geworden...? Stimmte ja, in den ganzen Jahren, in denen er nicht da war. In den Jahren, in denen ich auch groß geworden war. Wir waren ja längst keine Kinder mehr... Ich schaute zu ihm hoch und betrachtete sein Gesicht. Es war so vertraut und fremd zugleich. Wenn die kleine Narbe an der Wange nicht gewesen wäre, hätte ich nicht mal sicher sein können, dass er wirklich derselbe war.
Zeo bemerkte meinen Blick und schaute etwas verwundert zu mir herunter. „Hab ich was im Gesicht?“ Belustigt zog er die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn. Guckte mich wieder so doof an wie gestern. Kichernd kam mir ein Gedanke.
„Kann ich nicht genau sehen, beug' dich mal runter“, forderte ich grinsend. Zum Glück erwartete er nichts von mir, deshalb beugte er sich ohne nachzudenken zu mir herunter. Als sein Gesicht in Reichweite war, schnellte ich vor und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Dann trat ich kichernd einen Schritt zurück, von ihm weg. Seine Nähe konnte ich jetzt nicht mehr ertragen, das fühlte sich zu komisch an. „Ich mag dich, du Blödmann“, grinste ich.
Für einen kurzen Moment starrte er mich sprachlos an und ich genoss den Triumph, dass ich das geschafft hatte. Dann seufzte er jedoch gutmütig und legte wie so oft einen Arm um meine Schultern. „Wie schön. Allerdings heißt das, dass es für dich wieder Zeit ist, ins Bett zu gehen.“ Kopfschüttelnd schob er mich vor sich her und suchte mal wieder nach Tanya.
Da hatte ich jedoch keine Lust drauf. Schon wieder ins Bett zu müssen klang so doof... In einem verzweifelten Versuch, ihn irgendwie davon abzuhalten, mich irgendwo hinzubringen, entspannte ich alle Muskeln und machte mich so schwer ich konnte. „Ich will nicht ins Bett. Ich will hier bleiben mit dir!“, quengelte ich eingeschnappt.
Er seufzte mal wieder. „Arisa, vergiss es. Gestern nicht und heute auch nicht. Du benimmst dich wie ein Kleinkind und für die ist längst Schlafenszeit. Darum bringe ich dich jetzt ins Bett. Und wenn ich dich da hin tragen muss“, erklärte er genervt.
„Gut, dann trag mich“, stimmte ich prompt zu und streckte ihm die Arme entgegen. „Musst du jetzt, sonst bleib ich hier einfach auf dem Boden sitzen.“
Er schien einen Moment zu überlegen, schaute dann ebenfalls ein wenig eingeschnappt und sagte dann: „Gut, dann trag ich dich halt. Aber erst stehst du auf.“
Ich traute ihm zwar nicht ganz, aber da er zugestimmt hatte, stellte ich mich ordentlich hin. Schneller als ich reagieren konnte, packte er mich an der Hüfte und warf mich über seine Schulter. Von der plötzlichen Drehung wurde mir schwindelig und seine Schulter bohrte sich jetzt unangenehm in meinen Bauch. So hatte ich mir das ganze nicht vorstellt. Ich begann zu zappeln, doch sein Griff war stahlhart.
„Du wolltest getragen werden, also halt still. Sonst lass ich dich noch fallen!“
„Aber doch nicht so!“
„So trägt man halt betrunkene Leute, die nicht ins Bett wollen.“
„Ich hab heute gar nichts getrunken!“
„Du bist seit gestern Abend vollkommen durchgeknallt und musst bis morgen Abend wieder normal sein. Schlaf kann dabei nur helfen.“
„Du bist immer so durchgeknallt, dir kann keiner mehr helfen!“
„Das hat doch überhaupt nichts miteinander zu tun!“
Ich spürte wie er wieder den Kopf schüttelte. Wie ein nasser Sack ließ ich mich hängen und starrte den ganzen Idioten, die blöd guckten wütend ins Gesicht. Ein paar von ihnen streckte ich sogar die Zunge raus.
„Was hast du denn mit der gemacht?!“, lachte Aki, als wir an ihm und seinen Freunden vorbei kamen. „Also das hätte ich von Arisa nie erwartet...“
„Naja, sie hat ja damals auch so laut geschrien“, warf Fan ein, der neben ihm stand. „Außerdem geht sie normalerweise immer mit Zeo so um. Da ist das dann nicht ganz so überraschend.“
Zeo seufzte nur tief und schleppte mich ein Stück weiter, als ich ein lautes „Da ist sie ja!“ hörte. Klang nach Nytra, die hatte mir noch gefehlt.
„Bitte sag mir, sie hat nicht wieder etwas getrunken!“, flehte sie Zeo verzweifelt an.
„Nicht dass ich wüsste. Ist sie dir abgehauen, oder was?“, er klang jetzt ein bisschen verärgert.
„Najaaaa... also...“ Sie schien erst nach einer Ausrede zu suchen, fand aber wohl keine.
„Ja, ist sie“, hörte ich jetzt Inagas Stimme. Ich hing leider in Zeos Rücken, sodass ich die anderen nicht sehen konnte.
„Das war aber auch fies von Tanya! Die hat sie mir einfach auf's Auge gedrückt, um mit ihrem blöden Naro reden zu können!“
„Irgendwer muss es ja machen. Wie es scheint, ist sie ja eh wieder reif für's Bett.“
„Jap. Wollte aber unbedingt getragen werden“, erklärte Zeo.
„Und als guter Freund machst du das natürlich“, ich konnte Inagas Grinsen praktisch vor mir sehen.
„Na, wie auch immer. Dann bringen wir sie jetzt mal da hin“, meinte Nytra jetzt und kam zu mir herüber. „Das klingt doch gut, oder? Meine kleine Ausreißerin“, grinste sie bedrohlich und tätschelte mir etwas unsanft die Wange.
Sie schien echt sauer zu sein, aber ich hatte ja gar nichts falsch gemacht. Ich wollte doch nur meinen Spaß haben, wie alle anderen auch. Warum durften alle das? Sie, Inaga, Tanya, Naro, Sukira, Zora, Zeo... Alle, nur ich nicht! Dämlicher Zeo! Plötzlich wütend, kniff ich ihm in den Rücken.
„Aua! Was soll denn der Scheiß jetzt?!“, regte er sich auf und schlug mit der freien Hand nach mir. „Verhalt dich ruhig da hinten, sonst lass ich dich fallen.“
„Mach doch! Von einem Blödian wie dir will ich gar nicht mehr getragen werden!“
„Dass du das überhaupt wolltest erstaunt mich ja immer noch...“, wandte Nytra jetzt ein. Dann gab sie Zeo einen Klaps auf die freie linke Schulter. „Na, komm. Bringen wir deine Last ins Bett.“
An dem sanften Schwanken merkte ich, dass wir uns wieder in Bewegung gesetzt hatten. Immerhin war der Weg nicht mehr so weit, Zeos Schulter in meinem Bauch wurde langsam echt unangenehm.
Als wir durch unsere Zimmertür gegangen waren, meinte Nytra: „Pack sie einfach direkt ins Bett. Wir ziehen ihre Sachen dann da aus. Du hast ja wohl genug Anstand, um dann rauszugehen.“
„Ausnahmsweise ja“, antwortete Zeo scherzhaft und hievte mich mit einem Ruck von seiner Schulter auf mein Bett. Über das Geländer hinweg schaute er mich aus seinen dunkelvioletten Augen noch einmal sanft an. „Schlaf gleich gut, du kleine Verrückte. Und sei morgen bitte wieder normal.“ Er strich mir einmal vorsichtig über den Kopf und ging dann.
„Soooo... Und jetzt erzählst du mir, was verdammt hier gerade abgeht?!“ Blitzschnell war Nytra die Treppe von meinem Bett hochgeklettert und schaute mich jetzt erwartungsvoll an.
„Zeo ist ein Blödmann! Ich hab ihn geküsst und dann hat er gesagt, ich muss ins Bett!“
Nytra klappte buchstäblich die Kinnlade herunter. „Du hast was?!“ Sie begann hysterisch zu kichern. „Was stimmt denn nicht mit euch beiden? Was stimmt denn mit euch allen nicht?“ Vollkommen verständnislos warf sie die Arme in die Luft. „Sonst kommt er immer an und du schießt ihn ab, jetzt kommst auf einmal du an und er geht nicht drauf ein... Ihr seid wohl beide beknackt“, erklärte sie dann und schüttelte den Kopf.
„Na, komm. Ziehen wir dich aus und lassen dich schlafen. Du musst morgen nämlich bitte wirklich wieder normal sein.“ Plötzlich wieder ganz ruhig, half sie mir beim Ausziehen und gab mir meine Sachen zum Schlafen an. Dann wünschte sie mir eine gute Nacht, machte das Licht aus und verschwand wieder nach draußen.
NYTRA
Später saß ich wieder draußen. Drinnen hielt ich es jetzt nicht aus. Nachdem gestern der Einstieg gewesen war, war heute scheinbar der Tag der großen Geständnisse. Alle trauten sich ganz mutig und gestanden ihre Liebe. Als ob Zoras und Keiros Rumgeplänkel nicht gereicht hätte, nein, Tanya hatte ihren Naro, Sukira ihren Elin und sogar Arisa wurde unter genug Alkoholeinfluss ehrlich und küsste einfach Zeo. Und wer war mal wieder alleine? Richtig, ich. Das war doch alles zum Kotzen.
'Du kannst ja auch keinen an dich ranlassen', kritisierte ich mich selbst. Natürlich nicht, an mir gab es ja auch in Wahrheit nichts gutes. Ich war eine schlechte Nare, wie meine Mutter mir oft genug gesagt und mein Vater oft genug zu verstehen gegeben hatte. Sie wären wieder enttäuscht von mir, wenn sie mich so sehen würden. Warum ich keinen Jungen hätte. Warum ich nicht mit den anderen drinnen Spaß hatte. Warum ich nicht so gut war wie die anderen.
Die ganze Scheiße machte mich wütend. In der Hoffnung auf einen richtig schönen Streit, nachdem ich mich noch beschissener fühlen würde, suchte ich Luca wegen gestern. Ich fand ihn schon nach kurzer Suche im Speisesaal.
„Du wolltest mit mir sprechen?“, erinnerte ich ihn an den vorherigen Abend.
„Aber du nicht mit mir, wenn ich mich recht erinnere?“, erinnerte er mich. Gestern hatte ich wirklich keinen Nerv mehr gehabt, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich wollte nur noch in mein Bett.
Jetzt war ich aber auf Krawall aus und ich hoffte, er würde mir einen Grund geben. „Heute ist ein neuer Tag. Was wolltest du?“
„Zack zum Punkt, wie erwartet. Es geht um unseren Waffenstillstand. Ich will ihn ausweiten“, erklärte er dann.
„Da musst du mit den anderen sprechen, nicht mit mir“, wehrte ich ab. Wenn das alles war, hätte ich mir das nachfragen auch echt sparen können. Das klang überhaupt nicht nach etwas, über das sich gut streiten ließ.
„Nein, es geht um dich.“ Der Blick aus den blauen Augen traf mich unerwartet. Scheiße, in meinem jetzigen Zustand würde mein blödes Herz das überinterpretieren und mich verlegen machen. Um nicht rot zu werden, schaute ich unauffällig an ihm vorbei, als würde ich etwas beobachten. „Du und deine Freundin, die Jahrgangssprecherin, ihr seid mir noch am meisten feindselig gestimmt. Also suche ich eine Möglichkeit, um etwas daran zu ändern.“
Ich schaute ihn wieder an. Das klang ja wohl zu dumm, um wahr zu sein. Warum sollte es ihn auf einmal interessieren, was wir dachten? „Verarschen kannst du dich selbst. Ich werde dir nie vertrauen. Du kannst also einfach du selbst sein.“ Er war genauso ein blöder Wichser wie die Jungs in meinem Dorf. So jemand konnte mir gestohlen bleiben. Wenn er nur nicht so hübsch gewesen wäre... Aber die hübschen waren immer blöde Wichser.
„Das klingt ja fast nach einer unlösbaren Aufgabe“, grinste er jetzt jedoch. Er nahm mich scheinbar überhaupt nicht ernst. „Ich werde mein bestes geben und dich bald noch einmal nach deiner Meinung fragen.“
Seine herablassende Art fachte das Feuer meiner Wut erneut an. „Sie wird sich nicht ändern, du arrogantes Arschloch. Deine ganzen Lügen kannst du dir sonst wo hinstecken. Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber ich werde nicht drauf reinfallen. Leute wie du, die ändern sich nicht. Dir geht es doch nur um deinen eigenen Vorteil.“
„Ach? Und worum geht es dir? Deine Freundinnen? Das ist doch nicht der Grund, warum du jetzt gerade hier bist. Glaubst du, ich merk das nicht? Du bist hier, weil du Streit suchst. Weil du denkst, dass du dich mit mir am ehesten streiten könntest, was mich zusätzlich vor deinen Freundinnen wieder dumm dastehen lassen würde“, ließ er mich eiskalt auflaufen.
„Allerdings unterschätzt du da mal wieder die Leute um dich herum. Ich bin nicht so blöd, dass ich darauf reinfallen würde und wenn du mit mir Streit anfängst, nur weil es dir scheiße geht, würden deine Freundinnen auch nicht hinter dir stehen. Komm mal langsam auf dein Leben klar, du kannst nicht immer deine Scheiß-Laune an anderen auslassen. Und jetzt verschwinde, ich will noch einen schönen Abend haben.“
Er wollte schon gehen, aber ich dachte nicht daran, ihn so einfach ziehen zu lassen. „Wenn du so schlau bist, solltest du mich nicht noch zusätzlich provozieren...“, drohte ich, jetzt wirklich böse. Er hatte genau alle meine Schwachpunkte getroffen. Darin waren andere schon immer fantastisch gewesen und ich hasste es. Ich hasste es mit einer unvergleichlichen Leidenschaft.
„Du solltest dich nicht so leicht provozieren lassen, kleines Monster“, antwortete er nur noch und warf mir ein kühles Lächeln zu. Dann verschwand er in der Menge und ich blieb vor Zorn zitternd zurück. Meine Muskeln waren bis zum äußersten gespannt.
Ohne ein weiteres Wort stampfte ich in Richtung Mädchentrakt. Musste halt die Wand wieder dran glauben. War mir jetzt so scheißegal, ich wollte nur noch irgendwas kaputt schlagen. Im besten Fall wahrscheinlich meine eigene Hand. Mit einem lauten, wütenden, verzweifelten Schrei schlug ich mir wieder die Knöchel blutig.