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Nach dem Prompt „Java-Höckernatter [Geschichten mit Holz-Schlangen]“ der Gruppe „Crikey!“
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Hiaxu Adachitl legte den Kopf in den Nacken und verengte die Augen, um den hölzernen Schmuckbalken des Hauses zu betrachten. Die einfache, auf Stelzen gebaute Hütte sah nicht viel anders aus als die anderen Gebäude des Dorfes am Rande der Reisfelder und hätten einem Gelehrten aus Akijama, der die uralten Kunstwerke aus der Zeit der Kaiser kannte, nur ein müdes Lächeln entlocken sollen. Doch Hiaxu hatte bemerkt, dass in den vier Ecken des spitzen Daches nach oben gebogene, s-förmige Zierbalken aufragten. Drei davon waren Tieren nachempfunden, die er erkannte: Der lange, schlanke Pfauenhals gehörte wohl zu einem Neghseiner, einem Greifenpfau, das wieselartige Tier musste ein Kirschkätzchen sein, und das dritte schien eine Magawa zu sein, eine gefleckte Ratte. Allesamt Tiere, die für ihre Stärke, Schönheit oder Schläue bewundert wurden, vermutlich Ausdruck eines primitiven Götterglaubens, in dem die Abbilder dieser Wesen Segen über das Haus brachten, ohne dass eine Religion ausformuliert wurde - das war es, was Hiaxu unter einer primitiven Religion verstand, einen Glauben, noch ohne Prediger oder Legenden. Naturpraktiken, die sich auf unausgesprochene, halbgare Vorstellungen stützten.
Das vierte Motiv stand in der Sonne, sodass er es nur wage erkannte. Ein glatter Umriss mit vielen, kleinen Dornen. Wie der Rücken eines Krokodils, allerdings war der Kopf zu kurz.
Hiaxu wandte sich an Đàm, seine Fremdenführerin, und fragte danach.
Die Antwort verwirrte ihn. "Ein Drache?" Instinktiv klopfte er gegen seine Schläfe, als wäre der dort eingesetzte Schinar ein physisches Ding, kein Zauber, und der Übersetzungsfehler ließe sich wie bei einer kaputten Uhr durch Klopfen beheben.
"Ein Drache", antwortete Đàm jedoch selbstsicher.
"Aber es fehlt die Mähne, und auch die Beine", analysierte Hiaxu. Die Drachen von Zehula waren ähnlich wie in seiner Heimat Gai-Shitori: Schlangengleiche Wesen mit Mähne und Schweif und vier kurzen, gekrümmten Beinen, ohne Flügel, wie sie zum Beispiel in Meleris oder Lirhajn gezeichnet wurden. Auch waren es auf Zehula keine Edelsteindrachen, die Diamant, Saphir, Smaragd und alle anderen Kostbarkeiten des Gebirges gebracht hatten, sondern Wasserelementare. Doch in beiden Kulturen waren sie Götter.
"Als Schutzgeister für das Haus werden doch nur reale Tiere genutzt", fuhr er fort.
Đàm nickte. "Das ist der eine reale Drache", erklärte sie ihm in ihrer Sprache, die der Schinar in Shitorisch übersetzte.
"Es gibt eine reale Drachenart?", fragte Hiaxu neugierig nach. "Wo?"
Đàm zögerte einen Moment, dann deutete sie gen Norden, zu den Bergen, die das lange, schmale Tal umrahmten.
"Dort oben?"
Sie nickte. "Auf den Wiesen. Nachts."
"Können wir heute Nacht dorthin?", bat er. "Und sie suchen?"
Seine Fremdenführerin nickte erneut nach kurzem Bedenken. "Aber sie zeigt sich nicht jedem."
"Natürlich." Er unterdrückte ein Augenrollen. Da hatten die Einheimischen ja ihre Ausrede, warum das Fabelwesen nie nachgewiesen worden war! Doch die Zweifel an der Existenz des Drachen behielt er für sich. Er wollte abwarten, was er heute Nacht finden würde, und erst danach urteilen. Vielleicht hatte ja wirklich ein Erbe der großen Edelsteindrachen auf dieser Insel überlebt!
⁂
Es war eine warme und feuchte Nacht, weit oben in den zehulanischen Bergen. Hiaxu und Đàm kauerten in einer Kuhle einer Feuchtwiese, am Rande eines der wenigen Urwälder, die nicht von Zivilisation oder vom Krieg vernichtet worden waren. Die Bergflanke lag schlicht zu unzugänglich für Ackerbau oder Truppenbewegungen, was sie gerettet hatte.
Hiaxu hatte außerdem noch einen anderen Biologen mitgenommen, einen untersetzten Menschen aus Meleris, dessen Statur schon einem Zwerg nahekam. David hatte einen mächtigen Bierbauch und schütteres Haar, doch er war auch einer der besten Feldarbeiter der auf Zehula ansässigen Biologen, und hatte viel Zeit damit verbracht, Lindwürmer in den melerischen Gebirgen zu suchen. Er war ein bisschen verrückt und seine linke Körperhälfte war überwiegend verätzt, da er tatsächlich noch ein uraltes Exemplar der giftigen Drachen entdeckt hatte. Und er hatte den Lindwurm vertrieben, womit er sich und seiner Crew das Leben gerettet hatte. Kurz gesagt, David war perfekt für diese Arbeit geeignet. Das hatte sogar Đàm bestätigt. David besaß die Freundschaft der Einheimischen und der Drache könnte ihn als würdig erachten, sich zu zeigen.
Hiaxu hatte noch immer ein gesundes Maß Skepsis bewahrt, aber während sie den Mücken in der schwülen Luft trotzten, harrte er tapfer leise aus, um das möglicherweise fiktive Wesen nicht zu vertreiben.
Ja, die Wissenschaft sagte, dass es keine Drachen mehr gab. Nur einige Neuzeitdrachen - Lindwürmer, Moosdrachen und natürlich die Seeschlangen - welche den Einschlag des Kometen überlebt hatten. Doch wie beeindruckend wäre es, eine neue Drachenart zu entdecken? Eine weitere uralte Tierart, die seit Jahrmilliarden verschollen gewesen war?
Nein, nicht verschollen, korrigierte er seine Gedanken gleich. Die Zehulaner wussten von dem Drachen. Nur die Festländer hatten all die Zeit nichts geahnt ...
Đàm berührte seinen Arm. Hiaxu riss sich aus den Gedanken.
"Da!", hauchte die Zehulanerin.
Und tatsächlich, vor ihnen, im hohen Gras der Bergwiese, bewegte sich etwas. Ein Leib, rund und so hoch, dass er Hiaxu wohl zum Knie reichen würde, David beinahe bis zum Bauch.
Gänsehaut kroch über seine Arme, als er die schlängelnde Bewegung überall im Gras erahnte. Das Tier war mehrere Dutzend Schritt lang. Dreißig? Vierzig? Gar fünfzig?
Neben ihm reckte David den Hals. "Dornen auf dem Rücken", flüsterte der Melerus. "Aber keine Mähne. Und keine Beine."
"Die sind sicher im Gras nicht zu sehen", flüsterte Hiaxu zurück.
David schüttelte jedoch den Kopf. "Ich weiß, wie sich ein Wesen mit Beinen bewegt, auch wenn sie kurz sind. Das ist eine Schlange - eine große Schlange, aber trotzdem nur eine Schlange."
Zweifelnd sah Hiaxu zu den Wellen, die durch das dunkle Gras glitten, nur daran zu sehen, wo der Schimmer des Mondes auf den Halmen verschwand, da das Gras niedergedrückt wurde. Es war eine wirklich große Schlange. Wäre sie eine Würgeschlange, würde sie noch einem castianischen Elefanten gefährlich werden können. Besaß sie Gift, wollte er sich dessen Wirkung nicht vorstellen. Glücklicherweise kroch das Tier von ihnen weg. Sie sahen nur gelegentlich den mehrreihig bedornten Rücken, wenn die Schlange einen gefallenen Baum oder ein ähnliches Hindernis überkroch.
Hiaxu wandte sich an Đàm, als die Schlange außer Sicht war. "Gibt es mehrere dieser Tiere? Oder nur eines?"
"Nur sie", antwortete Đàm. "Sie war eine Drachin, aber als ihre Jungen bedroht wurden, nutzte sie zu viel Magie. Sie verfiel dem Lockruf der Macht und wäre beinahe gestorben. Erst die Rufe ihrer Schlüpflinge, in Todesangst, brachten sie zur Vernunft. Doch damals hat die Drachin ihre Magie verloren und kann seitdem nicht mehr fliegen. Sie zog ihre Jungen groß, die gemeinsam mit den anderen Drachen fortflogen, als die Zeit dafür gekommen war. Nur sie musste zurückbleiben. Der letzte reale Drache." Die Zehulanerin lächelte wehmütig. "Jetzt liebt sie den Fluss wie ihre Kinder und beschützt ihn und das Tal."
Hiaxu fand die Legende wunderschön, obwohl es wohl kaum die wahre Geschichte war. Drachen beherrschten zwar Magie, wie alle Fabelwesen, doch soweit er wusste, hatten diese Wesen nicht wie Erdwesen mit dem Sog zu kämpfen. Und auch dann würde ein Drache mit der Magie nicht auch Mähne und Beine einbüßen. Doch die Geschichte verriet ihm, dass diese große Schlange wohl schon sehr lange Zeit hier lebte, sodass sie Eingang in die Folklore gefunden hatte. Weitere Studien waren nötig, viele weitere Studien! Er sah zu David, in dessen Augen der gleiche Eifer glänzte.
'Nur eine Schlange', hatte der Drachenjäger gesagt. Doch es war niemals nur eine Schlange.