Rating: P16 (CN: Tod, Trauer, Erwähnung von Krieg, Erwähnung von Mord)
Nach dem Doppelprompt „Annamitische Streifenkaninchen“ bzw. „Morle“ der Gruppe „Crikey!“
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In Memoriam
to all that passed
the rainbow bridge.
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Der alte Liễu Xuân Khoa hatte den Anfang des Krieges noch erlebt. Er war gebeugt und mager. Er sollte wohl auch traurig sein, doch er lächelte oft und viel. Manchmal, da berichtete er den drei Mädchen davon, wie die Welt früher gewesen war. Vor den Angriffen, vor den Bomben und dem Gift.
"Damals gab es hier überall Eisenbahnen, die die Berge überwanden. Nachts wurde es nie wirklich dunkel, denn überall waren Lichter. Man musste sich nicht um Essen sorgen. Alles brachten die Schiffe vom Festland, und hier wurde es in Schränken gelagert, die immer kühl blieben."
Für Thái Thụy Trinh klang das alles wie Märchen, und das hatte sie dem alten Khoa auch gesagt.
"Ja, kleine Trinh", hatte er lächelnd erwidert. "Damals lebten wir wie im ewigen Paradies! Aber natürlich haben wir es nicht erkannt."
Und dann schwand sein Lächeln wieder. Trinh und die beiden anderen Mädchen kannten das und es brach ihnen das Herz. Zuerst um Khoa, doch als sie älter wurden, war es auch ein wenig Selbstmitleid, das sie erfasste. Khoa trauerte um eine Welt, die rettungslos verloren war. Sie drei würden diese Welt jedoch niemals erblicken! Für sie würde die alte Welt so mythisch bleiben wie Ab Ti Kav, das Reich der Götter.
Ach, Ab Ti Kav! Das Land des goldenen Weizens, durch das sich der Lebenweg schlängeln würde, dunkel von dem fruchtbaren Vulkanboden, auf dem all die Früchte dieses Landes gediehen. Ein Land, wo es keinen Hunger gab.
Thái Thụy Trinh, Phạm Mai Chi und Đỗ Trúc Vy jedoch kannten viel Hunger. Es war nicht nur körperlicher Hunger, sondern auch die Sehnsucht nach Frieden und Liebe.
Die drei Mädchen hatten nur den alten Veteranen Khaos, der sie aufgenommen hatte. Trinh war die erste gewesen. Er hatte sie als Findelkind in einer Hütte gefunden, die nach einem Bombenabwurf abgebrannt war. Ihre Eltern waren tot gewesen, sie selbst noch ein Baby. Das war in gewisser Weise noch das beste Schicksal.
Chi erinnerte sich an ihre Eltern. Ihr Vater war noch im Krieg. Ob er zurückkommen würde, wussten sie nicht. Vielleicht war er bereits tot, einer der vielen Männer, die einfach im Chaos versanken. Chis Mutter war an Hunger und Krankheit zugrunde gegangen. Sie hatte Khaos ihre Tochter gebracht und ihn gebeten, auch auf sie aufzupassen. Von ihrem letzten Besitz hatte sie eine Handvoll Phan zusammengekratzt. Er hätte die Bezahlung nicht angenommen, doch Chis Mutter hatte darauf bestanden. Sie hatte sich geweigert, Essen für sich zu kaufen. Vielleicht hätte sie es sonst schaffen können ...
Vys Vater war ein Deserteur gewesen. Doch die Soldaten hatten ihn aufgespürt. Ihre Mutter und ihre Geschwister waren als Mitwisser verurteilt worden. Nur Vy hatten sie nicht gefunden, die sich versteckt hatte. Doch sie hatte alles mit angesehen. Sie hatte in einem Schrank gesessen. Sie hatte gehört, wie ihre Schwestern um Gnade flehten. Sie hatte gesehen, wie ihr jüngster Bruder eine Flucht versucht hatte. Und sie hatte schweigen müssen, um zu leben. Vielleicht war sie deshalb jetzt die Lauteste von ihnen dreien.
"In Ab Ti Kav werden wir sie eines Tages wiedersehen", sagte Khao ihnen immer. "Und dann werde ich ihnen sagen, was für wundervolle Mädchen ihr drei geworden seid."
Trotzdem hatten sie ein gutes Leben bei dem alten Khao. Trinh, Chi und Vy waren Kinder des Krieges. Sie fanden einen Spielplatz in den Trümmern der Dörfer. Sie hatten Lieder für die Zeit im Bunker, die den Lärm der Bomben draußen übertönten. Wie alle Kinder kannten sie Verbote. "Geht nicht in den Wald, bleibt nicht nach Einbruch der Nacht". Nur war es, weil der Wald voller Minen lag und sie diese in der Dunkelheit nicht sehen würden. Aber spielte das eine Rolle? War es denn wichtig, dass sie mit Fangen und Versteckspielen für den Ernstfall trainierten? War es denn wirklich wichtig, dass ihre Salate aus Blättern und Erde oft tatsächlich gegessen wurden?
Sie waren glücklich. Sie lachten viel. Gerade Khao hatte fast immer ein Lächeln auf den Lippen. Er erzählte ihnen mit einer Leichtigkeit seine Geschichten, als wäre die Welt schwerelos.
⁂
Dann, eines Tages, fing Trinh in ihrer Schlingfalle ein kleines Tier. Ein bisschen wie ein Hase sah es aus, doch mit kürzeren Ohren und Läufen. Sein Fell war beige-braun mit einer dunkleren Zeichnung. Aus großen, feuchten Augen sah es zu ihr auf, und seine Flanken zitterten.
"Oh je, du armes Kleines", sagte sie mitleidig. Das Tierchen musste in der Nacht in die Falle geraten sein. Es hatte sich ein Bein verdreht, vermutlich bei einem vergeblichen Fluchtversuch. Sofort tat es Trinh leid, dass sie die Falle gestellt hatte. Sie mussten doch essen! Aber das Leid des kleinen Tieres ging ihr nah.
Sie setzte sich neben das Kaninchen. Das Tier zuckte zusammen und wollte vor ihr zurückweichen, doch die Schnur ließ das nicht zu. Trinh, die die Hand schon ausgestreckt hatte, zog die Finger zurück.
"Ich tue dir nichts", sprach sie sanft auf das Wesen ein. "Ich will dir helfen."
Die Flanke des Kaninchens bebte. Es hatte die Ohren fest angelegt und sah sie unverwandt an, ohne zu blinzeln.
Also blieb Trinh sitzen. Sie wandte den Blick ab und rührte sich nicht. Endlos lange sah sie über die grünen Berghänge, auf die grasgedeckte Hütte weiter unten, auf die stufenförmigen Felder, wo Chi und Vy spielten und Khao auf seiner Bank sitzen musste - sehen konnte sie ihn nicht, nur den Rauch seiner Pfeife.
Lange saß sie so. Schließlich hörte sie ein leises Rascheln neben sich und drehte den Kopf. Da hatte das kleine Kaninchen sich auf die Seite gelegt, um das verletzte Bein zu entlasten. Noch immer zuckte die Nase voller Furcht, doch nach und nach gewann das Tier Vertrauen. Sie wartete, bis sie sich bereit fühlte.
Vorsichtig bewegte Trinh den Arm. Sofort zuckte das Kaninchen zusammen und sprang auf.
Sie sah ihm tief in die dunklen Augen und streckte die Hand weiter vor, bis sie sah, wie das Seil sich spannte. Dann hielt sie inne.
"Sieh, ich habe keine Krallen. Ich kann dich gar nicht verletzten." Sie drehte die Hand hin und her, um zu zeigen, dass auf keiner Seite Krallen waren. Dann hielt sie die Hand still und drehte den Kopf. Blind streckte sie ihre Finger noch ein Stückchen vor.
Nichts geschah. Unten bespritzten sich Chi und Vy mit Wasser, während sie die Ernte einholten. Es war Spiel und Arbeit zugleich.
Da kitzelte etwas ihre Finger. Sie widerstand dem Drang, sich sofort umzudrehen, und hielt den Atem an. Tasthaare glitten über ihre Haut. Dann spürte sie weiches Fell und direkt danach eine neugierige Nase.
Langsam, um ihren neuen Freund nicht zu erschrecken, drehte sie den Kopf. Das Kaninchen saß noch immer da und stupste fragend gegen ihre Finger.
Sie lächelte. "Ja. Jetzt mache ich dich wieder gesund."
⁂
"Aber wir müssen essen!", rief Chi. "Wir können nicht noch so ein Vieh durchfüttern! Du bist so dumm!"
"Selber dumm!" Trinh blinzelte die Tränen aus ihren Augen und sah hilfesuchend zu Khao und Vy. Doch beide schwiegen.
Chi ergriff ein Messer. "Geh aus dem Weg, Trinh. Ich mache es."
"Nein! Nein!" Trinh ballte die Fäuste, dann lief sie in die Hütte. Sie riss das kleine Tier aus seinem Käfig, in dem sie ihm ein Nest aus einer alten Decke gebaut hatte.
Sie hörte, dass Chi ihr folgen wollte, doch dann erklang Khaos Stimme.
"Warte."
Und Chis Schatten vor dem Vorhang in der Türöffnung verschwand.
Schluchzend drückte Trinh das kleine Tier an ihre Brust, vorsichtig, um es nicht zu verletzen. Sie vergrub das Gesicht in dem weichen, warmen Fell.
Schließlich hörte sie schwere Schritte und dann ein Ächzen, als Khao sich auf das Bett setzte.
"Trinh."
Sie sah langsam auf, barg das Tierchen wie einen Schatz.
"Es ist nur ein Streifenkaninchen."
"Ist es nicht." Sie schniefte.
Khao schwieg. Er schwieg manchmal sehr lange. Vielleicht als Ausgleich dafür, wie viele Geschichten er erzählte. Dann schien er sich entschieden zu haben und beugte sich unter Mühe vor. Sanft strich er ihr über den Kopf.
"Hast du denn einen Namen? Wenn wir deine Schwestern überzeugen wollen, braucht es einen Namen."
Trinh schniefte noch einmal. Schweigend sah sie auf ihren neuen Freund hinab und strich durch das weiche Fell. Hellbraun war es, fast golden, mit einem dunklen Streifenmuster.
Dunkel ... im Gold ... Kav und Ti.
"Ab Ti Kav", murmelte sie wie in Trance. Das kleine Tier sah auf und spitzte die Ohren, als begriff es, dass es einen Namen erhalten hatte. Einen Namen und damit eine Familie. Jetzt gehörte Kav zu ihnen.
"Nun ... gut", murmelte Khao überrascht. "Dann sage ich es ihnen." Er erhob sich schwerfällig und schlurfte nach draußen.
Trinh und Kav blieben alleine im kleinen Zimmer zurück. Sie streichelte das Kaninchen und versprach ihm leise, dass sie es beschützten und sein Bein heilen würde.
An diesem Abend erfuhren sie, dass der Krieg vorbei war. Der Bote war schon den ganzen Tag geritten, um so viele Dörfer wie möglich zu informieren. Während Khao mit diesem vor der Hütte saß, kauerten Trinh, Chi und Vy auf dem Bett und verspürten ein seltsam leeres Gefühl. Chi und Vy klammerten sich aneinander, Trinh strich durch Kavs weiches Fell. Sie merkte, wie das kleine Wesen in ihrem Arm die Angst etwas linderte, die sich nun in ihr erhob.
Der Krieg war vorbei? Aber sie hatten doch nie etwas anderes gekannt! Was würde jetzt nur passieren?
⁂
Ihr Versprechen Kav gegenüber konnte sie nicht halten. Wie sich zeigte, heilte das verletzte Bein des Streifenkaninchens nicht. Vielleicht war es zu kaputt gewesen. Oder ihnen fehlten einfach das nötige Wissen. Jedenfalls humpelte Ab Ti Kav auch noch einige Jahre später. Das schien ihn aber nicht groß zu stören.
Er lebte längst nicht mehr in seinem Käfig, sondern hoppelte frei durch die Wohnung und die Felder. Wenn die Mädchen draußen spielten, folgte er ihnen, und nachts kuschelte er sich an Trinh.
Besonders Trinh und Kav waren unzertrennlich. In den Jahren nach Ende des Krieges war er ihr einziger Halt in einer Welt, die plötzlich fremd und kompliziert geworden war.
Der Krieg war vorbei, hieß es. Nun kamen Leute, die Steuern verlangten, um Straßen zu bauen. Es gab wieder etwas, das sich Gesetz nannte. Es wurden viele Versprechungen gemacht. Aber die Minen im Wald waren immer noch da, und sie blieben. Die Menschen, Zwerge und Elfen, die nun aus dem Krieg heimkehrten, brachten ihn mit sich. Er lag in ihrem Blick, in ihrem Zittern. Der Krieg war viel deutlicher zu sehen als in all den Jahren davor.
Chis Vater war nicht unter jenen, die heimkehrten.
Die Ernte ihres kleinen Hofes musste plötzlich für viel mehr Leute reichen, die alle herkamen. Einige halfen auch auf dem Hof, doch das Essen war weiterhin knapp. Es war überall laut. Trinh war nicht glücklich damit. Sie wünschte sich den Krieg zurück.
Dann wurde immer mehr von Geld gesprochen. Plötzlich waren Phan das Wichtigste der Welt. Ohne Münzen bekam man bald nichts mehr.
Khao und die Mädchen würden untergehen, wenn sie kein Geld fanden.
Es wurde hart. Es wurde sogar sehr hart. Sie verloren die alten Lieder, weil sie nicht mehr in Bunker laufen mussten, und sie spielten nicht mehr, denn es gab zu viel Arbeit.
Eines Tages hatte Trinh sich davongestohlen. Sie saß im Gras entlang des Weges und spielte mit Kav. Er hoppelte - ein wenig ungeschickt, wegen des verletzten Beins - um sie herum und machte kleine Sprünge. Sie fütterte ihn mit Körnern und Gräsern.
Da kam eine Kutsche vorbei, die direkt neben ihr hielt. Aus dem Fenster spähte ein Gesicht unter einem großen, runden, spitz zulaufenden Hut.
"Sag, Kind, gibt es in der Nähe einen Pass über die Berge?"
Sie sah den Fremden an. Er sprach mit einem schweren Akzent. Der Akzent der anderen Seite, wie sie wusste. Die Bösen.
Aber den Krieg gab es ja nicht mehr. Und auch weder Böse noch Gut.
"Ja." Sie deutete auf einen Gipfel. "Dort, etwa eine halbe Tagesreise." Sie pfiff Kav zu sich, damit er nicht unter die Räder geriete.
"Oh, was hast du denn da?"
"Das ist Kav." Sie hob die Hand und das Streifenkaninchen machte gehorsam einen Sprung.
"Ist der niedlich!" Der Fremde kicherte. Es war ein merkwürdiger Laut aus dem Dunkeln der Kutsche, und der Fremde wirkte selbst verwundert, wie er darauf zusammenzuckte. "Wo hast du ihn her?"
"Ich habe ihn gefunden. In den Bergen. Er war verletzt."
Schweigen. Der Träger wartete stumm, dass es weiterginge. Dann jedoch streckte der Fremde eine Hand aus der Kutsche. Ehe Trinh sich versah, fiel eine runde, rote Scheibe herunter.
Ein Phan! Sie sah auf die große Münze.
Bis sie sich aus der Starre gerissen hatte, war die Kutsche lange fort. Doch da wusste sie, wie sie Khao und ihre Schwestern retten konnte. Kav würde sie retten!
⁂
Khao wurde krank.
Es geschah eines Tages, als sie auf den Feldern arbeiteten. Inzwischen arbeiteten sie den halben Tag hier, den Rest der Zeit ging Trinh mit Kav in die Stadt und führte Kunststücke für Geld auf. Heute aber waren sie auf den Reisfeldern.
Da fiel Khao um. Er stürzte in das Wasser wie von einem Schuss getroffen und zuckte und keuchte.
Die drei Mädchen rannten zu ihm und zogen ihn zurück an die Luft. Sie versuchten, ihn aufzuwecken. Vy brüllte wie von Sinnen. Dann zogen sie ihn auf einen Karren und brachten ihn zum Heiler.
Sobald die Tür der Hütte hinter Khao zugefallen war, verloren Trinhs Beine jede Kraft. Sie sank auf die Knie, zitternd und schluchzend. Kav drückte sich an sie und sie grub die Finger in sein weiches Fell, während Tränen ihre Haut kühl werden ließen.
Vy und Chi zogen sie an die Seite. So saßen sie lange Zeit auf einer Bank, dicht zusammengedrängt. Ihre zitternden Finger suchten Kavs Wärme. Das Streifenkaninchen knabberte sorglos an einem grünen Blatt und das beruhigte die Mädchen.
Schließlich ging die Tür auf. "Er wird es schaffen. Ihr könnt jetzt zu ihm."
Khao seufzte, als er sie sah. "Aber Mädchen! Ihr sollt nicht weinen. Bitte, nicht um mich." Er konnte sich noch nicht aufsetzen, doch er schloss sie in seine Arme. "Bitte versprecht mir, dass ihr nicht traurig sein werdet, wenn ich einmal gehe. Wir trennen uns ja nur kurz. In Ab Ti Kav sehen wir uns alle wieder."
Nun jedoch würden sie sich noch nicht trennen. Schließlich konnte Khao zurück nach Hause. Doch er würde nie wieder derselbe sein.
Es war Gift im Wasser. Von den Bomben des Krieges war es bis zu ihnen gekrochen. Sie ließen das Dorf zurück, und die Felder. Nun zogen sie in die Stadt.
Wie Khao waren viele krank geworden. Und viele hatten weniger Glück als sie. Andere blieben am Leben, wie Khao, doch sie hatten Schmerzen und immer wieder diese Anfälle. Sie wurden schwach und verlernten, zu gehen.
Trinh und Kav machten nun viele Vorstellungen. Chi und Vy arbeiteten beide sehr hart. Am Ende reichte es schließlich für ein kleines Häuschen am Rande der Stadt.
Doch das Haus war leer. Und ebenso leer fühlte sich Trinh, als sie zum ersten Mal hier saß. Ihre Schwestern waren ausgegangen, um Arbeit zu suchen. Sie selbst würde mit Kav arbeiten. Aber zunächst hatte sie etwas Reis gekocht. Und nun passte sie auf Khao auf, der schlief.
Es gab nichts in dieser Hütte. Keine Möbel, nicht einmal Decken. Khao lag auf der kalten Erde.
Man hatte ihnen gesagt, dass sie alles zurücklassen sollten, was aus ihrer Heimat stammte. Wegen des Gifts. Sogar den Karren mit ihrem Essen hatte man vor der Stadt verbrannt. Einen Reistopf hatten sie kaufen können, und Reis ohne irgendwelche Beilagen. Nun gab es diesen Topf, den schlafenden Khao und die Schatten unter der Decke.
Trinh sehnte sich wie noch nie zuvor den Krieg zurück. Damals war alles anders gewesen. Besser. Damals hatte die Welt einen Sinn ergeben. Hier, zwischen all diesen Leuten, fühlte sie sich verloren. Es gab in dieser Stadt nichts für sie, nur unendliche Fragen.
Etwas stupste gegen ihre Hand. Sie sah hinab und erkannte Kav, der auf ihren Schoß krabbelte. Unbeeindruckt von dem kalten Raum drehte er sich dort im Kreis, trampelte, bis ihre Hose ihm weich genug erschien, und setzte sich dann, die Beine unter den Körper gezogen. Nur eine Pfote streckte er aus, fast, als wolle er nach ihr greifen. So saß er da und wirkte so glücklich, ein Sinnbild an Gemütlichkeit, dass ihre Tränen versiegten, bevor sie strömten. Lächelnd kraulte Trinh das Kaninchen, bewunderte den stolz erhoben Kopf des Tieres. Es könnte ebenso gut ein Tiger sein, der auf einem Gipfel seines weiten Reviers thronte, und nicht ein kleines Streifenkaninchen in der fremden Stadt. Kav hatte seine Heimat bei sich, er war zuhause, wo er eben war.
Und er war Trinhs Heimat. Sie strich durch sein Fell und verspürte Zuversicht.
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Langsam, ganz langsam, fanden die drei Mädchen sich hier ein.
Chi lernte einen jungen Mann kennen, dem sie sehr zugetan war. Vy fand Anstellung in einer Schule. Als Kav wirkte, als würden ihm die Vorführungen keinen Spaß mehr machen, suchte Trinh sich eine andere Arbeit und lernte in einem Tierpark, wo sie ein sehr gutes Gehalt bekam und bald aufstieg.
Khao lernte Chis jungen Mann kennen und fand ihn würdig. Vy hatte bald viele Umwerber der jungen Männer, die mit ihr arbeiteten. Trinh, die lieber für sich blieb, fand gute Freunde. Ihr kleines Haus bekam einen Anbau für Chis Kind. Im Garten wuchs ein kleines Bäumchen immer größer und trug bald Früchte. Vy schien sich auf einen Bewerber einzustellen, der bleiben würde. Trinh übernahm den Tierpark als neue Leiterin. Khao, der längst nicht einmal mehr den Abwasch machen konnte, hatte mit Chis Familie viele, die für ihn sorgten.
In einer Ecke des Gartens wuchs Salat für Kav. Immer wieder dachte Trinh daran, rechtzeitig nachzupflanzen. Sie musste ihren alten Freund nun oft alleine lassen, da er sie auf der Arbeit nicht begleiten konnte.
Das Gift im Wasser verflüchtigte sich allmählich. Nach und nach zogen die Truppen durch das Land, welche die Minenfelder entschärften. Es war wie eine heilende Salbe für Zehula. Das Land konnte sich erholen.
Endlich ... endlich geriet der Krieg in Vergessenheit. Auch wenn Vy den Kindern jene alten Lieder beibrachte, ihren Nichten und Neffen. Sie sang sie jetzt als ein Schlaflied, leise und ruhig.
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Eines Tages kam Trinh nach Hause und sah Vy auf der Bank im Garten sitzen. Als ihre Schwester sie bemerkte, sprang sie auf und kam ihr entgegen. Dann hielt sie.
Ein trauriger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht und alles in Trinh krampfte sich zusammen.
"Trinh", sagte Vy leise. Nur dieses eine Wort, ihren Namen. Nicht mehr.
Ihr erster Gedanke galt Khao. Doch er trat gleich darauf aus der Tür. Immer hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht gehabt, doch heute sah er ernst aus.
Vy nahm ihre Hand und führte sie in den Garten. Dort lag Kav.
Er sah aus, als würde er schlafen. Mit ordentlichem Fell, die Augen geschlossen und die Pfoten angezogen, so wie sonst, wenn er auf ihrem Schoß saß und schlief. Er lag inmitten seiner Salatblätter, auf der weichen, warmen Erde.
Aber er rührte sich nicht. Als Trinh sich zu ihm kniete und sein weiches Fell streichelte, spürte sie Kälte. Er hob den Kopf nicht, sah sie nicht an, hoppelte nicht zu ihr. Er lag nur da.
Khao setzte sich schwerfällig neben sie. Sprechen konnte er seit einigen Monaten nicht mehr. Doch er legte den Arm um ihre Schultern und wiegte sie leicht. Mehr brauchte es nicht.
Lange Zeit war das alles, was sie tat. Sie saß im Vorgarten ihres kleinen Hauses, neben der Straße, die von der Stadt aus bis ins Gebirge führte, neben Khao, und Vy und Chi standen bei ihnen. Trinh weinte. Die Tränen sperrten alle Worte in ihr ein.
Schließlich kam die Nacht. Sie atmete durch und fand nun doch Worte.
"Ab Ti Kav", flüsterte sie.
Khao drückte ihre Hand und nickte beruhigend.
Und dann weinte sie wieder. "Ich habe ihm doch versprochen, sein Bein zu heilen. Aber ich habe ihn enttäuscht!"
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Bevor es ganz dunkel wurde, hoben sie ein Grab aus. Direkt hier, zwischen den Salatpflanzen. Als sie Kav hineinbetteten, wollte Trinh ihm etwas mitgeben, das ihn an seine Heimat erinnern würde, oben in den Bergen. Eine Pflanze vielleicht. Ein Erinnerungsstück aus jenem kleinen Haus. Ein Blatt einer Reispflanze.
Doch in ihrem Haus gab es keine Erinnerung an diese Zeit mehr. Alles war ausgetauscht worden, unmerklich, jedoch gründlich und unaufhaltsam.
"Ich habe eine Idee", sagte Chi lächelnd. Sie ging ins Haus und kam mit einem Messer zurück.
"Das können wir ihm doch nicht mitgeben!", rief Trinh.
"Erinnerst du dich, wie wir ihn zuerst essen wollten?"
"Stimmt. Aber das ist eine schlechte Erinnerung. Der arme Kav!"
"Nein, Trinh. Er wird sich so immer daran erinnern, dass du ihn beschützt hast."
Also wurde es das Messer. Und dann machten sie noch einen Kranz aus Blumen, jede Blüte ein Beweis dafür, wie sehr sie Kav geliebt hatten.
Trinh strich ein letztes Mal über den weichen Kopf ihres Freundes, jenen Kopf, der sie damals so zögerlich angestupst hatte.
"Wir sehen uns in Ab Ti Kav."
Dann verschlossen sie das Grab mit Erde, als wäre es eine weiche Decke und nichts weiter als ein warmes Bett für die Nacht.
⁂
In dieser Nacht hatte Trinh einen Traum.
Zunächst sah sie nur Farben. Ein verschwommenes Meer, golden und hellbraun. Dazwischen dunkle Streifen. Dann waren da die Düfte fruchttragenger Bäume.
Die folgte einem Pfad aus dunkler Vulkanerde durch ein fruchtbares Land. Melodien schwebten in der Luft. Sie hörte Stimmen, die ihren Namen riefen und lachten. Da standen viele Menschen und grüßten sie. Ganz vorne standen sechs, drei Pärchen. Eines hatte viele Kinder um sich. Ein anderes lag sich glücklich in den Armen, als würden sie einander niemals mehr loslassen.
Das letzte Paar stand einfach nur da und sah sie an. Der Mann hielt ein Tier auf dem Arm, das sich ohne Furcht an ihn schmiegte.
Noch mehr Personen waren da, verschwommen und immer verschwommener, je weiter sie zurückreichten. Sie glaubte, manche zu erkennen. Chis Schwiegereltern vielleicht. Den verschollenen Vater eines guten Freundes. Auch ohne diese Personen je gesehen zu haben, erkannte sie Großeltern, Tanten, Verwandte, Freunde dieser Verwandten ... Jeder kannte jemanden, der vor ihm hergegangen war. Die Erinnerung band sie zusammen. Wie auch die Liebe der Lebenden. Längst waren die Eltern der drei Mädchen zu einer Familie verschmolzen, wie auch Trinh, Chi und Vy zu Schwestern geworden waren.
Doch ihr Blick hing an jenen drei, die ganz vorne standen. Vater, Mutter und ... "Kav."
Er drehte den Kopf, blinzelte sie mit seinen warmen, braunen Augen an.
"Trinh", sagte ihre Mutter. "Wir sind so stolz auf dich."
Sie war bei ihnen. Sie konnte sie berühren, sie umarmen. So vieles wollte sie sagen, und brachte doch kein Wort hervor.
"Mach dir um deinen Freund keine Sorgen, mein Schatz." Ihr Vater streichelte das Streifenkaninchen. "Wir werden gut auf ihn achtgeben. Ich freue mich, dass wir ihn kennenlernen dürfen. Er ist ein ganz besonderes Tier."
Und Kav blinzelte, als wollte er diese Worte bestätigen. Hier würde er alle Streicheleinheiten bekommen, die er sich nur wünschen konnte. Vielleicht war er ein bisschen verwirrt. Auffordernd stupste er sie an, um zu fragen, warum sie so traurig war. Dann sprang er vom Arm ihres Vaters und um sie herum.
Trinh lächelte. "Dein Bein ist ja heil!" Ganz langsam, ganz vorsichtig kroch dieses Lächeln auf ihre Lippen. Es wurde immer breiter und breiter. Wie eine unaufhaltbare Macht. Sie streckte die Arme aus und lief mit Kav über den Weg, der übermütige Sprünge machte, und sie tanzte mit ihren Eltern.
Sie wollte bleiben. Hier, bei ihrer Familie und Kav. Am liebsten für immer. Doch ihre Eltern merkten es, als der Wunsch sich in ihr regte.
"Habe Geduld, Trinh. Wir sehen uns bald genug, und dann haben wir die Ewigkeit zusammen", sagte ihr Vater. "Wir werden noch viel Zeit haben, aber deine Zeit auf Zehula, sie ist kostbar."
Ihre Mutter strich ihr über das Haar. "Wir sind so glücklich, Trinh. Bitte finde noch viele andere Freunde, wir wollen sie alle kennenlernen. Dieses Land aus Gold ist so weit, hier ist viel Platz für Freunde und Familie. Sie alle werden Kav lieben."
Gleichsam verblasste die Welt um sie herum. Die Musik wurde leiser. Das Gelächter verhallte. Farben wurden matt und grau, bis sie die Augen öffnete und sich in ihrem Bett wiederfand.
Doch das Bild der dunklen Pfade im goldenen Feld würde sie nie verlassen. Tief in ihrem Herzen bewahrte sie diesen Traum auf. Ein Geschenk, das ihr Herz mit warmem Licht erfüllte.
"Ab Ti Kav. Wir sehen uns bald wieder."