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Nach dem Prompt „Darwins Rindenspinne [Tierische Geschichten mit Bungee-Jumping]“ der Gruppe „Crikey!“
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Ein weiteres Mal prüfte Kim die Seile und Knoten, obwohl er wusste, dass er lediglich Zeit schindete. Die Seile waren stabil und elastisch wie immer, die Knoten, die diese an die hohe, im Wind schwankende Plattform banden, perfekt. Hunderte Male hatte er den Männern dabei zugesehen, wie sie diese knüpften, hatte ganz ähnliche Knoten genutzt, um die Bretter und Bambusstangen zusammenzubinden und den Kletterern anzureichen. Er hatte auch hunderte Male beobachtet, wie sich ein Mann vom höchsten Turm fallen ließ, an Seilen auf die andere Seite schwang, um die Tragseile zu spannen.
Momentan war die Leine lang. Auf beiden Seiten war sie am höchsten Turm befestigt. Kim musste nur noch springen, die Seile vom Turm gegenüber in der Luft verkürzen und bis auf jene Plattform auf der anderen Seite des Flusses schwingen.
Schluckend sah er in die Tiefe und auf die braunen Fluten. Die Wasser des Zlang waren schlammigbraun und weit über die Ufer getreten, rauschend donnerten sie von den Bergen herab, eine schäumende, regenträchtige Brühe, in der mit Sicherheit Krokodile lauerten.
Kim schluckte. Jetzt bereute er seine mutigen Worte. Vor seinen Freunden hatte er geprahlt, dass er eine Affenbrücke bauen konnte. So schwer konnte das ja nicht sein. Er kannte inzwischen jeden Handgriff. Er hatte ihnen versprochen, dass sie heute auf der anderen Flussseite abhängen konnten. Irgendwo zwischen den Karsten, fern der wachsamen Augen der Dorfältesten.
Der Schwindel wurde stärker. Kim taumelte zurück und richtete den Blick stattdessen nach oben, auf das Laub der Esche, in deren Krone die Ankerplattform schaukelte. Ihr Laub war verfärbt, wurde schmaler und spröde. Der Wind war stürmisch. Vielleicht war es ja zu spät im Jahr, um noch eine Brücke zu bauen. Was, wenn sie überflutet wurde, während sie auf der anderen Seite waren? Was, wenn er zu langsam war und fiel?
Eine Bewegung fing seinen Blick ein. Kim bemerkte eine kleine, braune Rindenspinne, die knapp über ihm über einen dünner werdenden Zweig krabbelte. Instinktiv hielt er den Atem an, als der stürmische Wind den Ast schüttelte. Die Spinne würde abgeworfen werden!
Aber stattdessen hielt sich das Tier fest und wagte sich bis zur Spitze vor. Dort verharrte sie einen Moment, die vorderen Beinchen ausgestreckt, als würde sie den Wind fühlen.
Dann sprang sie.
Mit angehaltenem Atem sah Kim den silbrigen Faden aufblitzen, an dem sich das Tierchen befestigt hatte. Die kleine Spinne wurde sofort vom Wind erfasst und nach vorne gerissen, über den Fluss. Eine Weile konnte er den winzigen Punkt irgendwo vor und über sich erkennen, ehe dieser im Himmel verschwand.
Kim blinzelte. Er packte die Seile fester, in denen er hing, trat zur Kante und ließ sich darüber kippen, ohne noch länger nachzudenken. Wenn eine Spinne diesen Sprung schaffte, dann ja wohl auch ein beinahe Erwachsener!
Wind brauste in seinen Ohren. Seine Augen tränten fast sofort von der kalten Luft, die ihm entgegenschlug. Der Sturz schien endlos zu dauern. Mit beiden Händen zog er an dem Seil, das vor seiner Brust hing. Griff um Griff. Er zerrte das Seil durch einige Schlaufen.
Dann kam der Ruck. Kim verlor den Halt am Seil. Er wippte auf und ab, hing blind und ohne Orientierung im Sturm. Hielten die Knoten? Oder stürzte er?
Dann beruhigte sich das Wippen. Er blinzelte und atmete auf.
Ein ganzes Stück über dem Wasser hing er im Geschirr, gehalten von den Seilen beider Seiten. Das Seil vor seiner Brust war feucht und klamm, da es wochenlang im Wasser gelegen hatte. Schon lange, bevor die Brücken eingestürzt waren, hatten die Männer es drüben befestigt und die Enden auf dem diesseitigen Ufer mit Steinen beschwert. Jetzt brannte Kims Haut vor Kälte, als er die durchtränkten Seile zu sich zerrte. Mit jedem Handgriff rückte er ein Stück höher und näher zur anderen Seite. Sein Atem ging schnell. Er bemühte sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Doch nach und nach spülte noch ein anderes Gefühl durch seine Adern. Ein Gefühl, das zu Stolz wurde, als seine Freunde eintrafen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er, zitternd vor Erschöpfung und Höhenangst, das Seil installiert. Erstaunte Rufe von drüben verkündeten den Unglauben seiner Freunde, die nach und nach begannen, ihm Bambusstangen und Bretter herüberzureichen.
Innerhalb von Minuten wuchs die Brücke nun. Kim erwartete den Rest am Ende des luftigen Stegs, ein breites Grinsen auf den Lippen, während er langsam zu Atem kam.
Ja! Es hatte geklappt! Er würde nur die nassen Seile drüben wieder auslegen müssen, wenn sie zurückgingen, und niemand würde je etwas merken. Nur seine Freunde würden für immer wissen, dass er nicht gelogen hatte. Er konnte eine Brücke bauen.
Eine ganze Länge über der Affenbrücke aus Holz und Tauen schimmerte ein breiter, silbriger Faden im diffusen Weiß des wolkenverhangenen Himmels. Eine dünne Linie, an der der Wind zupfte, geschaukelt von den wogenden Ästen auf beiden Seiten.
Aber der Spinnfaden hielt. Und die kleine Rindenspinne wob fleißig ihr großes Netz, unberührt von den lachenden Jugendlichen unter sich.