Raphael stieß wieder zu uns, als wir gerade dabei waren, uns in der Küche umzusehen. Lucian wollte mir alles zeigen, auch die Räume, in denen ich eigentlich nie sein würde. So auch die Küche.
Wir wurden freundlich von einer etwas rundlichen Köchin namens Anna begrüßt, die uns gleich zum Hinsetzen zwang und uns Essen vorsetzte.
Ich war immer noch satt vom Frühstück, doch Lucian und Raphael stürzten sich darauf, als hätten sie schon seit Tagen nichts mehr gegessen.
Anna erzählte mir unterdessen von ihrer Tochter, die sich wohl exzellent bei ihrem Kampftraining machte. Ich hatte bis dato noch nichts davon gehört, dass die Vampire hier ein Kampftraining absolvieren mussten. Sie schwärmte von ihrer Tochter und man merkte, wie stolz die war, dass ihre Tochter es geschafft hatte, sich gegen ihre männlichen Gegner durchzusetzen. Nur wenige weibliche Vampire lernten so ausgiebig das Kämpfen, für gewöhnlich sollte man als Vampirin einfach nur hübsch aussehen und Kontakte pflegen, ließ Anna mich wissen. Immer wieder hatte ich Blickkontakt mit Lucian und er lächelte mich an, sodass mir ein wenig flau im Magen wurde.
Als Anna begann, mir Komplimente für mein Aussehen zu machen und ausführlich zu erzählen, wie gut ich und Lucian doch als Paar aussehen würden, wünschte ich mir, ich könnte mit solchen Situationen besser umgehen und nicht direkt rot wie eine Tomate werden. Ich konnte Lucian nicht einmal ansehen, doch ich merkte, dass er es tat.
Sehnlichst wünschte ich mir, Anna würde aufhören, mich dafür zu beglückwünschen, dass ich für Lucian bestimmt war. Und ich wünschte mir, auf der Stelle im Boden versinken zu können, als sie ausführte, wie hübsch unsere Kinder einmal werden würden und wie neidisch sie auf mich war, dass ich Lucian nackt sehen durfte.
Irgendwann endeten die wohl peinlichsten 15 Minuten meines Lebens, als Lucan mir endlich aus der Situation half, indem er sagte, dass wir noch einiges vorhatten. Als ich ihn daraufhin ansah, sah ich, dass es ihn amüsiert hatte, zu hören, was Anna sagte – und vor allem, wie ich darauf reagierte. Am liebsten hätte ich ihn gegen den Arm geboxt aber ich hielt mich zurück, weil ich ihn nicht noch mehr anstacheln wollte. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg und verließen die Küche durch die Hintertür.
Wieder befanden wir uns in einem der unzähligen Flure, deren Aussehen nicht unterscheidbar war. Keine Ahnung, wie ich mich hier jemals zurechtfinden sollte.
„Ach Anna, ich liebe ihre Art“, brach Lucian das Schweigen.
„Ja, ich auch“, erwiderte ich sarkastisch und zog eine Augenbraue nach oben.
Lucian und Raphael begannen zu lachen.
„Sehr witzig“, ließ ich sie wissen. Ich hasste solche Unterhaltungen, wie die gerade eben mit Anna. Es war mir absolut peinlich, aber ich war zu nett und höflich, um irgendwas zu sagen. Also ertrug ich es anstandsmäßig. Die beiden merkten, dass ich keinen Spaß daran fand und Lucian kam zu mir, legte seine Hände auf meine Schultern und sagte:
„Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es dir so unangenehm war. Auch, wenn ich Anna in den meisten Punkten zustimme, hätte ich dir helfen sollen.“ Er schaute mich an, doch ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Mit einer Hand hob er mein Kinn und sah mir eindringlich in die Augen. „Wirklich.“
Ich nickte, da ich vor lauter Gefühlen nicht wusste, was ich sagen sollte. Er versuchte sicherzustellen, dass ich mich besser fühlte. Obwohl wir uns so gut wie gar nicht kannten, lag ihm mein Wohlbefinden am Herzen. Ich war ihm wichtig.
Raphael schien etwas davon mitzubekommen, denn er ließ uns wortlos allein.
Da standen wir nun. Lucian mit einer Hand auf meiner Schulter und einer Hand an meinem Kinn, die vorsichtig meine Haut liebkoste. Aus einer Emotion heraus, lehnte ich mich ein wenig nach vorn und küsste ihn auf die Wange. „Danke“, flüsterte ich.
Ein kleines Lächeln, zeigte sich auf seinen Lippen und seine Hand glitt von meiner Schulter, meinen Arm herunter und nahm meine Hand. Es fühlte sich gut an.
Hand in Hand liefen wir den Gang entlang. Nachdem wir um einige Ecken gebogen waren, erkannte ich den Flur, auf dem auch unser Zimmer lag.
„Ich glaube, du hast jetzt alles Wichtige erstmal gesehen“, sagte Lucian, während er die Tür zu unserem Zimmer öffnete, ohne meine Hand loszulassen. Drinnen sah alles unverändert aus.
Immer noch Hand in Hand standen wir einige Sekunden einfach nur da und genossen den Moment, bis ein Klopfen an der Tür mich zu Tode erschreckte. Gleichzeitig ließ ich Lucians Hand los.
Er öffnete die Tür.
„Da seid ihr ja endlich. Ich suche euch schon seit über einer Stunde. Zara muss zu ihrer Anprobe.“ Luciana Mutter stand vor der Tür. Ich mochte sie irgendwie, doch ich konnte mir gerade besseres vorstellen, als mit ihr zu einer Anprobe, für was auch immer, zu gehen. Lucian schien das zu merken.
„Muss das wirklich schon jetzt sein? Wir waren jetzt 4 Stunden unterwegs durch das Hotel, ich denke, wir brauchen erstmal etwas Zeit zum Entspannen. Gib uns noch zwei Stunden“, bat er sie.
„Ihr bekommt Eine. Dann muss es wirklich sein.“ Das war ihr letztes Wort und sie verschwand, ohne eine Reaktion abzuwarten.
Ich atmete einmal tief ein und aus, bevor ich mich auf eines der Sofas fallen ließ. Tatsächlich fühlte ich mich ein wenig erschöpft. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir so lange unterwegs waren. Lucian setzte sich in einen der Sessel, mir gegenüber und schloss die Augen. Seine Haltung entspannte sich und er wirkte, als würde er jeden Moment einschlafen. Ich beobachtete ihn, wie seine starke Brust sich hob und senkte. Seine Haare waren ein Chaos aus Locken und ich bekam das Bedürfnis, sie zu berühren.
„Gefällt dir, was du siehst?“ fragte Lucian mit rauer Stimme.
„Ich mag deine Haare“, gab ich zu.
Er schlug seine Augen auf und sah mich ungläubig an.
„Okay, dass hatte ich jetzt nicht erwartet, aber danke“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, das ziemlich hinreißend aussah.
„Bitte“, gab ich zurück und stand vom Sofa auf. Lucians Blick folgte mir als ich ins Bad lief. Dort ging ich kurz auf die Toilette, wusch mir die Hände und betrachtete mich einen Moment im Spiegel.
Auch, wenn ich ein wenig müde aussah, war dennoch erkennbar, dass ich strahlte. Ich war glücklich. Der gestrige Tag hätte eigentlich anderes bewirken sollen, aber ich war tatsächlich glücklich über die momentane Situation. Ich wusste nicht, wie es weiter gehen würde und was da noch auf mich zu kam, aber ich neugierig darauf. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat ich aus dem Bad und sofort spürte ich wieder Lucians Blick auf mir. Es schien ihm zu gefallen, dass ich so glücklich aussah. Als ich merkte, wie er mir in die Augen sah, wand ich schnell den Blick ab, auf die Regale hinter ihm.
Wie gestern faszinierten sie mich, so voller Bücher. Ich las die Titel und überlegte, welche davon ich schon gelesen hatte. Vor allem bei den Klassikern musste ich passen, da ich hauptsächlich Fantasy und Science-Fiction las.
„Hast du die alle gelesen?“ In meinem Bücherregal fanden sich einige noch ungelesene Exemplare und die Wahrscheinlichkeit, dass ich neben einem Stapel Bücher starb, die ich noch lesen wollte, war sehr hoch.
„So ziemlich“, antwortete er. Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war er aufgestanden und hatte sich hinter mich gestellt.
„Einige Exemplare waren Geschenke.“ Sein Atem kitzelte meinen Nacken und Gänsehaut breitete sich über meinen Rücken aus. So gut es ging ignorierte ich dieses Gefühl, doch er fiel mir wirklich schwer, mich nicht umzudrehen oder ein Stück zurückzutreten, damit unsere Körper sich berührten. Ich wusste selbst nicht so genau wo dieses Bedürfnis nach Nähe so plötzlich herkam, dem ich jetzt versuchte entgegen zu wirken, indem ich zum nächsten Regal ging, um die dortigen Bücher in Augenschein zu nehmen. Lucian schien zu bemerken, dass ich Abstand zwischen uns schaffen wollte, denn er blieb, wo er war. Mir war nicht klar gewesen, dass ich mich so nach menschlicher Nähe sehnte, aber in diesem Moment wünschte ich mir, dass Lucian den Abstand zwischen uns überbrücken würde.
Mir fiel das Buch „Die Mutter“ ins Auge und ich erinnerte mich wieder, dass seine Mutter da war, ich aber immer noch nicht wusste, was für eine Anprobe sie gemeint hatte.
„Wofür ist eigentlich die Anprobe, von der deine Mutter gesprochen hatte?“ Ich hoffte, dass er mir nicht schon wieder etwas Wichtiges verschwiegen hatte, was mich wieder ins kalte Wasser werfen würde.
„Nächste Woche ist ein Dinner, zu dem wir beide eingeladen wurde…beziehungsweise eher die Pflicht haben zu gehen. Ich habe es dir noch nicht gesagt, weil ich dich nicht wieder beunruhigen wollte. Außerdem werde ich dich nicht dazu zwingen dorthin zu gehen. Wenn du nicht möchtest, dann sorge ich dafür, dass man dich damit in Ruhe lässt.“
Ich wollte auf keinen Fall, dass er wegen mir Ärger bekam und etwas neugierig war ich schon auf diese neue Welt, die sich mir öffnete.
„Ich denke, ich bin dabei. Solange du und Raphael dabei sein werdet, wird mir ja hoffentlich nichts passieren.“
Er schien ein wenig überrascht davon, dass ich sofort eingewilligt hatte. Und auch ein bisschen stolz.
„Das freut mich. Und natürlich werden wir da sein und auf dich aufpassen. Wir lassen nicht zu, dass dir etwas passiert.“ Und er meinte es ernst.
„Lerne ich dann auch deinen Vater kennen?“ fragte ich.
„Ja, aber glaub mir, dass wird anstrengend.“ Ich wusste nicht so wirklich, was er damit meinte, hoffte aber inständig, dass sein Vater mich mögen würde. Zumindest so sehr, dass er mich nicht direkt als Nachspeise anbieten würde.
„Aber keine Angst. Er ist nett. Er will dich nur kennenlernen und dabei kann er manchmal etwas überschwänglich sein“, fügte er hinzu. Das erleichterte mich. Ich wollte auf keinen Fall als Vampirfutter enden.
Ich sah mir noch die restlichen Regale an, fragte Lucian über das ein oder andere Buch aus und unterhielt mich mit ihm über persönlich Dinge. So erfuhr ich davon, wie er sich als kleiner Junge eine Augenbraue abrasiert hatte, weil er so fasziniert davon war, wie sein Vater sich jeden Morgen rasierte, dass er es unbedingt auch machen wollte. Und da er ja noch keinen Bart hatte, naja, musste seine Augenbraue herhalten. Wir lachten gemeinsam über die Geschichte und ich erzählte ihm, wie ich mir als Kind die Haare geschnitten hatte und danach ein halbes Jahr mit kurzen Haaren herumlief, weil nur ein Kurzhaarschnitt noch etwas hatte retten können.
Irgendwann klopfte es wieder an der Tür und beendete damit unser Gespräch über Lucians, mir noch unbekannten, Künste im Klavier spielen. Er öffnete die Tür, hinter der, wie erwartet seine Mutter auf mich wartete. Mit einem Nicken verabschiedeten wir uns für die nächsten Stunden voneinander, bevor ich durch die Tür in den Flur trat und von seiner Mutter zu Anprobe geführt wurde.