Kennt ihr dieses wohlige Rauschen, das man hört, wenn hunderte Regentropfen auf die Pflastersteine fallen? Dann wisst ihr, was ich gerade höre, während ich mit geschlossenen Augen in meinem Häuschen liege. Nun, ich wohne nicht in einem großen Haus, wie ihr euch das vielleicht vorstellt. Denn wisst ihr, ich bin kein Mensch wie ihr. Dafür bin ich zu klein, viel zu klein. Und weil ich so klein bin, brauche ich auch kein großes Daheim. Ich wohne an der Rosengartenstraße siebzehn direkt unterhalb der Eingangstreppe. Dort fehlt ein Ziegelstein und es gibt ein kleines Loch im Gemäuer, wo einst eine Mausefamilie wohnte. Ich weiß auch nicht, wo die abgeblieben sind, jedenfalls war diese Unterkunft frei, so bin ich gleich dort eingezogen. Es ist sehr gemütlich hier, seht euch ruhig um!
Dort in der Ecke steht mein Bett. Es ist eine leere Streichholzschachtel, wenn man sie etwas aufschiebt, dann kann man hineinschlüpfen und es sich gemütlich machen. Ich habe ein Taschentuch hineingestopft als Bettdecke und Stoffstücke, die ich zu einer Art Sack zusammengenäht und mit einem Wattebausch gefüllt habe, dient mir als Kopfkissen.
Ein Bierdeckel, an den ich vier Streichhölzer montiert habe, ist mein Tisch. Mein Stuhl ist ein alter Fingerhut, den ich mal irgendwo gefunden habe.
Wie ihr seht, bin ich handwerklich sehr geschickt, wenn ich das so sagen darf. Die Ausstattung ist vielleicht nicht so luxuriös wie bei euch Zuhause, aber ich bin zufrieden.
Die Welt ist für mich ein sehr gefährlicher Ort, deshalb traue ich mich auch kaum nach draußen. Katzen, dicke Ratten, Greifvögel und anderes Getier haben es stets auf mich abgesehen. Glücklicherweise muss ich nicht weit gehen, wenn ich Besorgungen machen muss. Die Familie, die hier an der Rosengartenstrasse siebzehn wohnt, hat nämlich einen hervorragenden Vorratskeller und das Kellerfenster ist oft nur angelehnt. Ich schlüpfe also hindurch und stehe schon auf dem Regal. Ganz so einfach ist es trotzdem nicht. Für euch Menschen mag das Regal vielleicht vergleichsweise klein sein, doch für mich ist selbst die Distanz zwischen zwei Fächern so hoch wie für euch das Stockwerk eines Hauses! Wenn ich da hinunterstürzen würde… ich will es mir gar nicht vorstellen! Zum Glück habe ich ein Stück Schnur gefunden, das mir eine große Hilfe ist. Am Ende dieser Schnur habe ich einen Angelhaken befestigt. Wollt ihr wissen, wie ich in den Besitz dieses Hakens kam? Ich will es euch sagen! Der Vater der Familie geht am Wochenende gerne Angeln. Eines Morgens stellte er seine Angelrute vor dem Eingang ab, gewissermassen direkt vor meine Wohnung. An der Rute baumelte der Haken, direkt vor meiner Haustür. In einem günstigen Moment habe ich meine Scherbe genommen und zack! habe ich den Haken abgeschnitten und stibitzt. Naja, das war vielleicht etwas gemein von mir, aber irgendwie muss ich ja auch überleben…
Nun stehe ich also auf dem Regal, den Haken habe ich an einem Nagel, der im Regal steckt, befestigt und so hangle ich mich zum darunterliegenden Fach. Dort stehen Einmachgläser mit Oliven! Ich liebe Oliven! Für euch sind Oliven vielleicht klein, doch für mich sind sie so groß wie für euch Kürbisse! Doch wie komme ich an diese Oliven heran? Ich muss das Glas nur etwas anschieben, damit es hinunterfällt. Dann zerbricht es und die Oliven kullern heraus. Also ganz vorsichtig… klirr.. schon liegt das zerbrochene Glas auf dem Boden. Doch ich bin vorbereitet, ich habe noch eine weiter Schnur am Regal festgebunden, daran habe ich einen alten Fingerhut festgeknotet, der mir als Eimer dient. Ich hangle mich hinunter, lege eine Olive in den Fingerhut und ziehe ihn am Faden wie einen Flaschenzug nach oben. Ich muss mehrere Male hinauf- und hinunterklettern, um die Olive oben auf den Regal wieder aus dem Fingerhut zu holen, das ist ziemlich anstrengend. Beim dritten Abstieg höre ich plötzlich Schritte auf der Kellertreppe. Der Vater der Familie hat wohl das Klirren gehört! Schnell hangle ich mich wieder die Schnur hinauf und schlüpfe aus dem Kellerfenster, noch bevor der Mann mich sieht. Ich höre ihn noch über die Mäuse und Ratten schimpfen, ehe er die Sauerei entfernt. Ich kann es ihm nicht verübeln, schliesslich sind es ja eigentlich seine Oliven.
Jedenfalls bin ich mit meiner reichen Beute von drei Oliven wieder Zuhause. Ich rolle die Oliven in eine kühle Ecke in meiner Wohnung. Diese Ecke ist gewissermassen mein Vorratsschrank. Ich habe diesen Raum auch mithilfe von altem Karton abgetrennt. In meiner Vorratskammer befinden sich auch noch Reste von Keksen und Zwieback, welche die Menschen fallen lassen. Manchmal finde ich auch ein Stück Pizzakruste, lecker!
Mit einer weiteren, kleinen Scherbe schneide ich mir sogleich ein Stück Olive ab und belege einen kleinen Brocken Zwieback damit.
Mir geht es doch ganz gut! Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Manchmal schaue ich aber schon etwas verträumt nach draußen und wundere mich, was für eine fantastische Welt dort sein könnte! Und ich hätte nie gedacht, dass ich sie eines Tages einmal entdecken würde! Aber ich greife vor, ich möchte euch diese Geschichte gerne der Reihe nach erzählen. Denn während ich meinen Oliven-Zwieback esse, bemerke ich, wie der Regen langsam nachlässt. Das ist immer ganz aufregend, denn kaum hört der Regen auf, verlassen die Menschen ihre Häuser wieder und tummeln sich auf der Strasse. Ich strecke vorsichtig meinen Kopf hinaus und beobachte zwei kleine Buben, die bei einer Pfütze spielen. Einer von ihnen hält ein Stück Papier in der Hand und scheint etwas daraus zu basteln. Das Konstrukt setzt er vorsichtig auf die Pfütze und die beiden Jungen freuen sich riesig darüber. Es sieht nun aus wie ein kleines Schiffchen, dass auf einem großen See umhertreibt. Die beiden Buben pusten abwechselnd, um das Schiffchen auf- und abfahren zu lassen. Nach einer Weile stößt noch ein dritter Junge zu den beiden und die Kinder beginnen eifrig miteinander zu schwatzen. Das Spiel mit dem Schiffchen gerät immer mehr in den Hintergrund, bis sie es schließlich ganz vergessen und die drei sich wer weiß wohin entfernen. Das Schiffchen treibt nun ganz herrenlos und traurig auf der Pfütze umher. Sanfte Windstöße schieben es allenthalben umher, bis es schließlich eine Wasserrinne hinuntertreibt, genau in die Richtung der Rosengartenstrasse Nummer siebzehn.