Seit meine Mutter nicht mehr da war, war das Leben bei uns Zuhause unerträglich. Mein Vater trauerte, wenn er von der Arbeit kam. Er schloss sich im Schlafzimmer ein und verbat es mir ihn zu stören. Das Zimmer meiner Mutter war auch immer zugeschlossen, er wollte nicht, dass es offen war. So konnte er das Leben meiner Mutter länger behalten. Bis er soweit war, weiter zu leben.
Ich hatte zwar den Schlüssel, aber getraut hatte ich mich noch nicht in den Raum zu gehen, der das Leben meiner Mutter beinhaltete.
Ich lebte mein Leben weiter, nur mit der Tatsache, keine leitende Mutter zu haben. Es war schwierig, am Anfang holprig und anstrengend. Aber nach zwei Jahren der Trauer kann ich endlich wieder lachen. Auch wenn ich oft an sie denke, und dann kurz noch traurig bin, so hat sich mein Leben nicht von der Trauer beeinflussen lassen. Es geht weiter. Nur anders als ich es mir vorgestellt habe.
Ich weiß, dass meine Mutter immer sauer war, wenn ich schlechte Noten mit nach Hause brachte. Deswegen kremple ich jetzt mein Leben um, lerne und schreibe wieder gute Noten. Mein erstes Jahr im Abi steht mir bevor und ich fühle mich das erste Mal gut und der Herausforderung gewachsen.
Vor der Schule, zu der ich mit dem Bus gefahren bin, wartet schon meine beste Freundin Maria. Sie hat mir viel geholfen, hat mir zugehört, mich getröstet und einfach in den Arm genommen. Doch jetzt bin ich oben angekommen. Jetzt geht es wieder bergauf.
"Tata!" Ihre Freude höre ich schon 10 Meter vorher. Auch ich freue mich, ein Grinsen schleicht sich in mein Gesicht.
"Ria!", rufe ich genauso überschwänglich. Ich lache, und werfe mich in ihre Arme.
"Na, mein Sonnenschein? Heute geht es dir aber besonders gut!", stellt sie auch sogleich fest während wir ins Gebäude gehen. Ihre schwarzen Haare wirbeln umher als sie die Tür schwungvoll aufreißt. Ich beneide sie darum, auch wenn mir meine Haarfarbe gefällt, sieht es bei ihr so sexy aus, während meine Haare mich süß wirken lassen. Ich meine wo ist ein rot-braun auch sexy? Vor allem sind ihre Haare schön lang, wobei meine zum Bob geschnitten sind.
"Ja, das stimmt. Du weißt ja, das Mums Zimmer die letzten zwei Jahre zu geschlossen war. Heute Morgen hat Dad mich gebeten das Zimmer aufschließen. Ria, das ist ein Durchbruch! Es geht endlich aufwärts!" Ich freue mich so sehr für meinen Dad, dass ich gar nicht mitbekomme, wie wir schon in der Klasse angekommen sind. Wir setzten uns an den üblichen Platz - vorletzte Reihe - und ich hole meine Unterrichtsmaterialien raus. Biologie war früher mein Hass Fach. Aber ich glaube, dass dieses Jahr alles besser wird. Momentan bin ich so gut gelaunt, dass ich ignoriere, wie Jadon mich wieder mustert, wie Herr Krämer mich attackiert. Ich bin viel motivierter, sogar Marie ist besser drauf, fragt nicht ständig, ob alles ok ist.
Der Unterricht zieht sich wie ein zähes Kaugummi. Als es zur Pause klingelt, springe ich schnell auf, packe meine Sachen ein und warte vor der Klasse auf Ria. Sie braucht immer ziemlich lange, bis sie fertig ist. Oft gehe ich dann schon zu unserem Spind und hole unsere Bücher raus, da wir meist dieselben Stunden haben. Das ist praktisch, denn so haben wir mehr Zeit, um uns noch mit den anderen zu treffen. Unser Treffpunkt ist ziemlich abgelegen, sodass wir ungestört sind und niemand etwas mitkriegt, was nicht für ihn bestimmt ist.
Als wir an der Eiche ankommen, die noch gerade so auf dem Schulgelände ist, sind Eirin, Simon und Gabi schon da. Ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen sind auch sie nicht gerade erfreut, wieder Schule zu haben.
"Na, ihr?", begrüße ich sie grinsend. Ich weiß, wie sie alle das "Na" hassen, weswegen ich es immer wieder absichtlich mache.
Deswegen bekomme ich auch schon den ersten noch genervteren Blick zugeworfen.
"Tara...!", sagt Simon nur und ich lache. Das Gras ist durch die Sonne und den Wind schon trocken, so dass wir bequem in einem Kreis sitzen können, ohne am Ende nasse Flecken am Po zu haben.
"Wie war eure erste Stunde?", erkundigt sich Maria neugierig.
"Gabi, bei euch soll es doch einen neuen Lehrer geben, oder?"
"Ja, und er ist verdammt -", sie schaut sich sicherheitshalber um, "-heiß!", beendet sie ihren Satz mit glänzenden Augen. Gabi ist ein zwar hübsches Mädchen, obwohl sie sich nicht schminkt oder besonders betonende Kleidung trägt. Aber sie hat das, was die Schulbitches nicht haben: Natürliche Schönheit.
"War klar! Sobald der Lehrer jung ist..." Simon lässt den Satz in der Luft hängen; das Ende können wir uns aber schon denken.
Eirin schlägt ihm spielerisch auf den Oberarm und Gabi grinst nur. Sie ist solche Kommentare von ihm gewohnt.
"Ne, langweilig wie immer, ihr wisst schon", antwortet Eirin ebenfalls gelangweilt. So wie ich sie kenne, war sie mal wieder viel zu lange im Skaterpark und ist jetzt zu müde, um jegliche Emotionen zu zeigen.
"Heute shoppen?" Ich sehe alle erwartungsvoll an. Eirin sieht mich an und ich weiß Bescheid, dass sie nicht kommen würde. Wenn sie einmal einen neuen Move lernen will, kann man sie nicht davon abhalten. Ich muss grinsen, von ihrem Ehrgeiz sollte ich mir mal eine Scheibe anschneiden.
Simon zuckt mit den Schultern, also wird er dabei sein, genau wie Gabi kommt.
"Ich muss heute auf Ben aufpassen", entschuldigt sich Ria. Ben ist ihr kleinerer Bruder und da ihre Mutter sonst wenig außerhalb arbeitet, lohnt es sich nicht, eine Babysitterin einzustellen, deswegen muss sie dann einspringen.
"Okey, dann Simon und Gabi. Um... sagen wir... 16 Uhr? Wie üblich?" Da mir die Antwort klar war, stehe ich auf und klopfte mir den Dreck ab. Die andern tuen es mir gleich und im selben Moment klingelt es auch schon.
"Na dann! Auf in die Höhle des Löwen!", ruft Simon lachend. Dann fährt er sich durch seine strubbeligen Haare.
Hätte ich gewusst, dass dieses Shoppen mein Leben verändern würde, hätte ich mich wahrscheinlich nicht so gefreut.