„Mein Prinz...“ Voller Erstaunen wich der ältere Mann zurück. Als er die Tür öffnete, hatte er keinen Gedanken an diese Art von Besuch verwandt. Nie hätte er erwartet, einem Mitglied der königlichen Familie zu begegnen. Noch weniger, das eben jenes Mitglied vor seiner Eingangstür wartete. „Ver... verzeiht, dass ich Euch nicht sofort erkannt habe.“ Eilig verbeugte er sich, ohne den jungen Prinzen aus den Augen zu lassen.
Dieser lächelte etwas verschämt, kratze sich am Nacken und setzte die schäbige Mütze ab, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Generell sah er nicht so aus, als sei er offiziell unterwegs. Seine Begleiter fehlten und seine Kleidung wirkte wie die eines Straßenjungen.
Andersen selbst war in Armut aufgewachsen und hatte in seiner Jugend erfolglos versucht, ein Schauspieler zu werden. Er wusste, dass der löchrige Mantel dem jungen Mann lediglich als Verkleidung diente. Eine Verkleidung, die nicht ganz zu ihm passte.
„Wie es aussieht, bin ich nicht gut darin, nicht erkannt zu werden“, gab der junge Prinz zu. Ein Seufzen begleitete seine Worte.
Sofort verbeugte der ältere Mann sich erneut. „Dann verzeiht mir, mein Prinz, dass ich Euch erkannt habe."
Der Prinz schüttelte den Kopf und lachte leise. „Seid unbesorgt. Ihr seid doch der Schreiber, nicht wahr?"
Andersen warf einen Blick in seine Räumlichkeiten, als der Prinz seinen Beruf erwähnte. Seine Unterkunft sah nicht gerade stattlich oder gar sicher aus. Für einen Schriftsteller vielleicht mochte es angemessen sein, jedoch nicht für höher geschätzte Schichten. Schon gar nicht für einen Prinzen. Außerdem sah es fürchterlich unordentlich aus. Er war gerade erst von seiner Reise aus dem dänischen Helsingor zurückgekehrt und hatt seine Bleibe vernachlässigt. Eine Haushälterin konnte er sich nicht leisten und zum Aufräumen fehlte ihm die Muße. Seine Wohnstätte vermittelte einen wahrlich katastrophalen Eindruck.
„Zu Euren Diensten, Prinz Eric.“ Etwas schwungvoller verneigte Andersen sich erneut, dieses Mal mit einem Schmunzeln in der Stimme. Der Prinz war in Verkleidung unterwegs, da dürfte ihn die Unordnung eines Reisenden nicht stören. „Wie kommt es, dass Ihr einen einfachen Mann wie mich kennt und sogar aufsucht?"
Wieder entwich dem Prinzen ein verlegenes Lachen, dann sah er sich kurz um. Sein Blick glitt suchend die Straße hinauf und hinab. Für einen Moment verengten sich seine Augen. Es war interessant, zuzusehen, wie der junge Prinz überlegte, zu raten, worüber er nachdachte und was sein Blick auf der zu dieser Zeit überfüllten Straße suchte. Schließlich schob Prinz Eric sich an ihm vorbei in die kleine Hütte. Gerade noch so wich Andersen ihm aus, damit er durch die schmale Eingangstür passte, musste sich allerdings an dem Türknauf festhalten, um nicht vom Schwung des Prinzen mitgerissen zu werden.
„Tut mir leid. Ich möchte niemanden sonst die Gelegenheit geben, mich zu erkennen“, entschuldigte sich dieser schnell und fuhr sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare. „Mein verehrter Grimbsby meint, ich sei ein Träumer. Aber Sie wissen es doch auch, nicht wahr?"
„Was weiß ich?" Verwirrt schloss Andersen die Tür und zog die Vorhänge bei Seite, um wenigstens die letzten Strahlen des Abendlichtes in sein trautes Heim einzuladen. Kurz darauf bereute er es, da das warme Abendlicht jedes Staubkorn hervorhob, das sich in den letzten Wochen angesammelt hatte.
Prinz Eric setzte sich in einen alten Sessel, erhob sich wieder und zog unter seinem Mantel ein Buch hervor. Mit Erstaunen erkannte er, dass es eine seiner Märchensammlungen war.
„Es ehrt mich, dass Ihr Interesse an meinen Geschichten zeigt, mein Prinz."
Prinz Eric grinste. „Grimbsby sagt, Ihr würdet nur Geschichten für Kinder schreiben."
„Oh, nein, keineswegs." Andersen erlaubte sich ein Lächeln. „Ich schreibe nicht nur für Kinder, habe jedoch den Anspruch, dass meine Erzählungen für jedes Kind verständlich sind."
„Wie die Geschichte über die Meerjungfrau?", erkundigte sich der Prinz mit einem leichten Grinsen.
Andersen seufzte. „Wer hat sie Euch nur erzählt, mein Prinz? Ich habe sie noch nicht vollständig zu Papier gebracht, denn das Ende gefällt mir nicht. Es ist zu einfach."
„Mir gefällt es", erwiderte der Prinz.
„Es ist aber noch kein richtiges Ende", hielt Andersen nachdenklich dagegen. Mit einer Hand strich er durch seine Haare. Einige seiner Freunde sprachen davon, dass er an diesem Märchen nichts mehr verändern müsse, doch seitdem er die erste Fassung niedergeschrieben hatte, entfernte sich das Ende mit jedem Lesen weiter von dem, was er als Ideal für seine Märchen ansah. Es wäre zu schlicht, wenn die Meerjungfrau unbeschadet aus ihrem Pakt hervorgehen würde. Sie würde schwach erscheinen. Es müsste mehr passieren, er wusste nur noch nicht, was. Eine Wendung wäre ihm lieb, eine Wendung, die auch er als Autor noch nicht vorhersagen konnte.
Prinz Eric schüttelte den Kopf. „Mir gefallen glückliche Ausgänge.“ Er schob einen Stapel ungeordneter Blätter zur Seite und quetschte sich erneut in den schmalen Sessel, der mehr Flicken als ursprünglichen Stoff besaß.
Ganz ähnlich seiner Geschichte. „Es würde glücklich bleiben, gewissermaßen.“
„Darf ich euch über etwas anderes befragen als das Ende?" Der Prinz erhob sich und ging zum Fenster. Schnell wandte er sich wieder ab, musterte ein eingestaubtes Bild an der Wand und dann ihn. „Ich möchte wissen... woher Ihr die Ideen zu Euren Geschichten nehmt. Speziell zu dieser."
Andersen war froh, dass der junge Prinz zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt schien, als die Natur seiner Reaktion zu bemerken. Er erinnerte sich noch zu genau an den Tauchgang in dem fischförmigen Unterwasserboot. Er erinnerte sich daran, wie das Blut vor Aufregung in seinen Adern pulsiert hatte. Wie er knarzend und ächzend zu Wasser gelassen wurde. Wie er den Deckel schloss und in die blauen Tiefen hinabtauchte, auf der Suche nach den Geheimnissen des Meeres. Eine Schraube war nicht richtig festgezogen. Es hätte fast sein Leben gekostet. Wenn nicht-
Er konnte dem Prinzen doch nicht sagen, wen - oder was - er gesehen hatte. Es war ihm, als höre er wieder, wie das Wasser in das Boot strömte und als spüre er, wie er die Kontrolle über die Steuerung verlor. Wie er durch den Ozean schoss und schließlich scheppernd an einer Klippe verendete. Er wäre beinahe ertrunken, am Grunde des Ozeans. Wenn nicht -
Andersen seufzte. „Zum Märchen der kleinen Meerjungfrau?“, wiederholte er die Frage des jungen Prinzen, um sich selbst aus seinen Erinnerungen zu befreien.
Prinz Eric nickte. In seine Augen trat ein verträumter Ausdruck. „Ja.“ Er seufzte leise. Seine ganze jugendliche Energie schien sich in Träumerei gewandelt zu haben. „Sie ist wunderschön. Ich habe sie gesehen."
„Wurde es an Eurem Hof aufgeführt? Ich wusste nicht, dass meine Märchen sich hier großer Beliebtheit erfreuen."
Prinz Eric blinzelte. Langsam kehrte er in die Gegenwart zurück. Andersen konnte ihm mit jedem Wimpernschlag mehr und mehr die Ernüchterung der Realität ansehen. „Was wurde am Hof aufgeführt?"
„Das Märchen der Meerjungfrau? Ihr sagtet doch eben, dass sie schön gewesen sei.“ Jetzt sah der Prinz ihn fragend an. Seine Lippen wiederholten tonlos die Frage. „Spracht Ihr nicht von einer Aufführung?“, half Anderson ihm nach.
„Oh, nein. Nein, verzeiht. Nein. Ich sprach von...“ Wieder legte er eine Hand an seinen Nacken und zupfte an einer der dunklen Strähnen. „Ihr seid ein Schriftsteller, Romancier und Poet... Ihr seht die Welt anders... vielleicht wie ich. Glaubt Ihr daran, dass sie wirklich existieren?“
Andersen schluckte. „Ob... sie wirklich existieren?", wiederholte er.
Prinz Eric nickte. „Ja. Glauben Sie daran?“
Andersen suchte nach Zweifel oder Spott im Gesicht des Prinzen. Doch sein Ausdruck war gespannt, seine Augen glänzten vor Neugier. Es erinnerte ihn an ein Portrait des Prinzen, das er vor vielen Jahren auf seiner ersten Reise durch das Land einmal gesehen hatte. Das Portrait hatte einen Jungen gezeigt, der es nicht aushielt, still zu sitzen. Einen Jungen, der die Welt mit seinen Fragen begrüßte. Der Prinz mochte erwachsen geworden sein, aber in seinem Körper schlug das Herz eines Kindes. Andersen konnte sich vorstellen, dass der Prinz, gewiss ebenfalls ein Entdecker geworden wäre, würde sein Stand es ihm nicht verbieten. Aber es wäre verrückt und unverantwortlich, gerade diesem jungen Mann Flausen in den Kopf zu setzen - wenn sie auch der Wahrheit entsprachen.
„Nun...“ Andersen schluckte seine Nervosität herunter. „Das Meer ist unbekannt. Ich kann es nicht sagen.“
Der junge Prinz seufzte und ließ sich in den Sessel sinken. „Vielleicht ist es hoffnungslos.“ Frust schien aus ihm zu sprechen, dann Sturheit. „Aber ich habe sie gesehen!“ Er ruhte seinen Kopf in seinen Händen und schloss die Augen. „Wir wurden von Piraten auf hoher See angegriffen, doch deren Schiff drehte ab und sie beschossen sich selbst." Prinz Eric schmunzelte. „Es sah beinahe komisch aus, auch wenn es das ganz bestimmt nicht ist... und als sie abdrehten mit dem Wind, da habe ich sie gesehen. Es ging so schnell, nur einen Augenblick, aber ich bin mir sicher, dass es eine Meerjungfrau gewesen ist. So, wie die Seemänner es erzählen." Der Prinz erstarrte und schlug sich die Hände über den Mund. „Oh, verzeiht! Ich hätte nicht so unbedacht sprechen dürfen.“ Doch er lächelte schon wieder. „Sie ist vom Schiff in den Ozean gesprungen. Gewiss hat sie die Piraten aufgehalten und uns gerettet."
„Eine Meerjungfrau hat Euch gerettet, mein Prinz?"
Er nickte überzeugt. "Und ich werde sie suchen. Auch, wenn Grimbsby mich davon abhalten will und die Seemänner ihre Schauergeschichten erzählen. Meermenschen sind bestimmt friedlich und haben ein großes Herz."
„Meint Ihr, dass das eine gute Idee ist, mein Prinz? Das Meer ist gefährlich..." ...vor allem unter der Meeresoberfläche. „...aber auch unbeschreiblich schön."
„Ihr seid ein Meister der Worte, Herr Andersen. Ihr könntet diese Schönheit beschreiben, wenn Ihr sie mit euren eigenen Augen sehen würdet. Ihr habt sie sogar schon beschrieben in Eurem Märchen.“
„Ich habe sie auch gesehen auf einer meiner Reisen.“
„Die Meerjungfrau?“ Prinz Eric richtete sich auf.
Anderson hielt inne. Er wollte ihn nicht enttäuschen, aber es schien ihm gefährlicher, dem Prinzen die Wahrheit zu sagen. Er würde sich selbst in ein Boot setzen, das tauchen konnte. Er würde sie suchen wollen. Außerdem wollte er nicht, dass die kleine Meerjungfrau der Neugierde des Prinzen ausgesetzt worden wäre. Das wäre wohl zu viel, selbst für die kleine Meerjungfrau, die ihm nicht minder neugierig vorgekommen war.
„Nein, ich habe das Meer gesehen und die bunten schillernden Fische.“ Er lächelte sanft als der Prinz beinahe enttäuscht wieder in den Sessel zusammensackte. „Ich habe gesehen, wie das Wasser mit den Lichtstrahlen tanzt, wie die Sonne aus dem Ozean betrachtet so strahlt wie eine Kornblume.“
Der Prinz seufzte. „Sagt Ihr auch, dass ich ein Träumer bin und es die Meermenschen nicht gibt?“
„Vielleicht etwas.“ Anderson setzte sich neben den Prinzen, der niedergeschlagen wirkte. „Ich halte Euch tatsächlich für einen Träumer, aber einen Träumer guter Träume und einen, der sie verwirklichen wird.“
Ein leises Lachen entgegnete ihm und ein Seufzen. „Vielleicht habt Ihr Recht. Und Grimbsby auch. Er sagt mir ständig, dass ich zu schnell an Märchen glaube.“
Beide schreckten auf, als sie das Bellen eines nahen Hundes vernahmen. Keinen Augenblick später kratzten Pfoten an der Tür und ein Hecheln drang zu ihnen herein.
„Das ist Max. Mein Hund“, erklärte der Prinz leise, beinahe etwas schuldbewusst. „Grimbsby wird mich suchen!" Mit einer Hand verdeckte er seine Augen. „Und finden", murmelte er gequält.
Ihr seid wohl ausgerissen, dachte sich Andersen, und treibt Euren Grimbsby in den Wahnsinn. Andersen streckte sich und schwang sich auf seine Füße. „Ich möchte Euch keine falschen Hoffnungen machen, mein Prinz, was Eure kleine Meerjungfrau betrifft.“ Er sah den jungen Mann sanft an. „Jedoch habe ich einen Hinterausgang., so könnt Ihr Euch ein eigenes Märchen ausdenken, das Ihr Eurem verehrten Grimbsby erzählt."
Der Prinz lachte leise, knöpfte seinen Mantel zu und zog sich die Mütze über die wirren Haare. „Das hört sich fabelhaft an. Wenn Ihr verzeiht, dass ich mich so ungalant verabschiede. Ich danke Euch vielmals, Herr Andersen."
„Nicht doch, mein Prinz. Ich werde Euch auch nicht gesehen haben", versprach Andersen und wandte sich an die vordere Eingangstür. Als er einen Blick über seine Schulter warf, war der junge Prinz bereits verschwunden.