Sie schaut mir einfach nur in die Augen, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste im Rose zu nehmen, und strich mir über mein bläulich gefärbtes Auge. Ich hatte wirklich schon bessere Zeiten erlebt.
„Was soll ich dir bringen?“, fragt Selmer, ohne ihren besorgten Blick von meinem verbeulten Gesicht zu wenden. Sie hatte schon längst aufgehört, nach all den Wunden zu fragen. Innerliche wie äußerliche. Da in ihren Gegenwart so gut wie keinen sinnvollen Satz über meine Lippen geht, zeige ich wahllos auf eine der vielen Kaffeesorten. Sie nickt und geht hinter den Tresen, nicht ohne mich noch einmal von oben bis unten zu mustern. Es tut so gut, sich endlich wieder halbwegs normal zu fühlen. Es tut so unendlich gut, wieder jemandem in die Augen sehen zu können. So unendlich gut, als hätte ich es nie verlernt. Aber vor allem liebte ich es, wieder im Rose zu sitzen, wenn auch allein. Und obwohl die meisten anderen Frauen mich kannten, sagen sie kein Wort mehr über das Geschehene. Es ist wie ein stilles Einverständnis zwischen uns, mit dem Wissen, dass sie diese Last nicht von meinen Schultern nehmen können. Für sie bin ich immer noch das Mädchen, das zu spät kam. Und das werde ich wohl auch für immer bleiben. Erschrocken fuhr ich zusammen als Selmer die Kaffeetasse auf meinem Tisch abstellte. Ich versuche schnell ein halbes Lächeln aufzusetzen, damit sie nicht sieht, wie schreckhaft ich bin. Sie bemerkt es trotzdem. Meine Überzeugungskraft ließ schon immer zu wünschen übrig. Also schaue ich sie einfach nur an, das erste Mal an diesem Nachmittag, ihre grünstichigen Augen betrachtend. Eigentlich weiß ich so gut wie nichts über sie. Sie hat eine natürliche Schönheit an sich, ohne Frage. In ihren Zügen steckt noch ein Stück Kindlichkeit und ihre langen rotbrauen Haare fallen meist wie von einem Windstoß getroffen auf ihre Schultern. An ihren fließenden Bewegungen lässt sich leicht das Damenhafte erahnen und ich wusste schon vom ersten Augenblick an, dass sie nicht wusste, ob sie lieber Mädchen oder Jungs küsst. Trotz alledem will sie sicher wirken, denn wer arbeitet als Hete in einem Lesben Café?
Ich mag sie sehr, sie ist immer freundlich, wirklich immer. Sie kann Menschen mit ihrer Freundlichkeit erschlagen. Überragend und zerbrechlich zu gleich. Da ich wohl die ganze Zeit verträumt in die Luft gestarrt hatte, bedankte ich mich einfach für den Kaffee und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Selmer sah mich trotzdem, und in ihren Augen spiegelte sich meine Traurigkeit, als wäre es ihre eigene. Langsam wandte ich mein Gesicht ab. Ich konnte förmlich spüren, wie verletzt sie war, allein durch die flackernden Bilder in meinen Augen. Ich würde niemals mit ihr sprechen können, und egal wie hart und stolz meine Maske sein würde, die Wörter aus meinem Mund würden sie umbringen. Und das würde mich umbringen. Nicht das ich einen besonders starken Selbsterhaltungstrieb habe, aber Selmer war das einzige Mädchen, das mich auch an meinem zerschunden Herz getroffen hatte, allein mit Blicken. Und an das immer weiterschlagende Ding kam sonst niemand ran. Seit einem Jahr schon nicht mehr.
Ich schätze, es ist kurz vor sieben. Eigentlich müsste ich bei meiner Lehre antanzen. Landschaftsgestalterin. Allerdings werde ich sowieso nie lange meine Vergangenheit, geschweige denn meine sexuelle Orientierung, geheim halten können. Es ist schon abzusehen, dass ich mir wieder eine neue Stelle suchen muss. In Kleinstädten bleibt nichts verborgen. Und du kannst ihnen auch nicht entfliehen. Also saß ich weiter auf einem verdammt bequemen Sessel in einem Lesben Café in der größten Stadt in der Umgebung und schrieb. Ich schrieb und schreib und schrieb.
Und ich suche immer noch mit jedem meiner Worte nach ihr.