Der Wind weht sanft durch die Straßen und zehrt an meiner Kleidung. Meine Hände habe ich in den Taschen meines Mantels vergraben und schaue nervös umher. Aria läuft, in der gleichen Position, neben mir her und wirkt genauso nervös. Erneut haben wir uns für einen Tag vom Kampftraining befreit, um weiter zu forschen. Ich hatte die Zeit zu Hause genutzt, um mich noch ein wenig weiter mit Sarah auseinander zu setzen und herausfinden, ob wir wirklich Gemeinsamkeiten haben. Schließlich sind sich Zwilling, soweit ich weiß, ziemlich ähnlich. Ein paar Sachen habe ich gefunden, in denen wir uns ähneln, aber auch viele, die mich nicht überzeugt haben. Ich atme ruhig die frische Nachmittagsluft ein und entspanne mich. Das was wir jetzt vorhaben, wird nicht leicht, aber wir werden es versuchen. Nein, nicht nur versuchen. Wir werden es schaffen. Entweder tut man es oder man lässt es. Es gibt kein Versuchen. Diese Gedanken spulen sich in meinem Kopf, wie bei einer kaputten Kassette, ab und wirken sogar ein wenig bestärkend. Das Stadtkrankenhaus, mit seinen beiden großen Flügeln, ragt hoch vor mir auf. Unser Plan ist es ins Krankenhaus zu gehen und in die Leichenhalle zu gelangen, um die Unterlagen über meine Schwester zu finden, schließlich werden alle Leichen erst mal hierher gebracht, damit die Todesursache festgestellt werden kann.
Als sich die großen Türen vor uns automatisch öffnen, schlägt mir eine Lärmwelle entgegen. Überall wuseln Leute durch die Gegend und reden lauthals miteinander. Die Luft ist wie elektrisiert. Alle wirken aufgeregt und unruhig. Die Stimmung lässt mich noch nervöser werden, als ich meinen Blick langsam durch die große Eingangshalle wandern lasse. Auf mehreren Stühlen sitzen Seraphinen, die sich angespannt umblicken und unterhalten sich mehr oder weniger angeregt mit ihren Angehörigen. Nur wenige von ihnen Blicken starr gerade heraus. Es wirkt, als würden sich diese wenigen bereits innerlich auf den Schlag, der sie mit einer, zuvor nicht abschätzbaren, Wucht treffen wird und ihnen den Boden unter den Füßen nehmen wird. Aria steckt ihre Hand in meine Manteltasche und ergreift dann die Meine. Bevor wir los geritten sind, habe ich ihr erzählt, wie sehr ich Krankenhäuser verabscheue und nun hält sie ihr Versprechen an meiner Seite zu sein. Diese Angst hat mich auch dazu gebracht die ganze Nacht wach zu liegen, sodass ich ziemlich wenig Schlaf bekommen habe. Generell ist die ganze Situation also schwierig. Der Geruch von einem Gemisch aus mehreren verschiedenen Cremes steigt mir in die Nase und lässt mich diese rümpfen. An der Rezeption, am Ende des Raumes, angekommen, bleiben wir stehen. Dort, auf einem Stuhl an der Rezeption, sitzt eine Frau mit langem schwarzen Haar, welche ihr ungewaschen am Kopf kleben. Ich verziehe das Gesicht, woraufhin Aria mich sanft mit ihrem Ellenbogen anstupst. Als Aria sich laut räuspert, schaut die Frau von ihren Papieren auf und schaut uns über den Rand ihrer schwarzen Lesebrille, die stark an die einer Oma erinnert, zu uns hinauf. Sie trägt Bürokleidung und scheint ziemlich gestresst zu sein, dabei kann ich mir den Job als Rezeptionistin im Krankenhaus gar nicht so stressig vorstellen. Schließlich kann sie, im Gegensatz zu den Ärzten und Krankenschwestern hier, ständig herumsetzen und Akte lesen oder Leuten Auskunft geben. “Was kann ich für sie tun?“, fragt die Frau laut. Ihre Stimme klingt kratzig und gereizt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie genervt mit dem Stift in ihrer rechten Hand auf dem Tisch herum trommelt. Das soll wohl ein Zeichen dafür sein, dass wir uns ein wenig beeilen sollen. “Äh …wir würden gerne Einsicht auf die Akten der Familie Valerios erhalten“, erkläre ich schnell, bevor ich den Mut verliere. Die Frau bricht daraufhin jedoch sofort in lautes Gelächter aus, welches dafür sorgt, dass sich einige Leute zu uns umdrehen: “Wer sind sie denn, dass sie denken das Verlangen zu können? Die Präsidentin?“ “Nein, ich bin Stella Valerios. Die Tochter von Mr. und Mrs. Valerios, die ja leider verstorben sind“, erkläre ich verwundert. “Und deswegen denkst du, dass du Einsicht in streng vertrauliche Akten bekommst?“, fragt sie aufgebracht: “Ganz sicher nicht und jetzt schert euch hier raus. Das ist kein Spielplatz! Es gibt hier Leute mit echten Problemen und welche, die wirklich arbeiten, also lasst die Erwachsenen weiter arbeiten und geht ein Eis essen.“ Die Wut pulsiert plötzlich in meinen Knochen und ich spüre wie sich meine Fingernägel in das Fleisch meiner Hände graben, als ich meine Hände zu Fäusten zusammenballe? Echte Probleme? Meine Eltern sind tot und ich will herausfinden, ob da wirklich noch ein direktes Mitglied meiner Familie ist und das geht nur, wenn ich diese Akten sehen kann. Wenn das kein ECHTES Problem ist, möchte ich echt gerne mal eins sehen. Ich muss mich stark zusammenreißen, damit ich mich nicht über den Tresen vor uns beuge und dieser schrecklichen Person meine Faust ins Gesicht ramme. Normalerweise bin ich kein Mensch, der so etwas leichtfertig tut, doch in diesem Moment ist es mehr als schwer mich zusammen zu reißen. Sie sollte lieber ein Eis essen gehen und einer kompetenten Person den Job überlassen, den sie gerade tut. Tränen treten mir in die Augen. Wieso muss es mir immer noch schwerer gemacht werden, als es sowieso schon ist? Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie das Wasser im Glas neben den Papieren der Frau stark zu wackeln beginnt, doch es ist mir egal.
Auch Aria scheint es bemerkt zu haben, weshalb sie ihre Hand langsam um meine Faust schließt und einen Finger zwischen meine eigenen stark zusammengepressten drückt. Instinktiv öffne ich meine Faust und das Wasser hört auf sich wie das Meer, welches gleich von einem Hurrikan durchgeschüttelt wird, zu verhalten. “Natürlich, sie haben absolut Recht“, pflichtet sie der Frau bei, woraufhin mein verwirrter und wütender Blick auf ihren zufriedenen trifft: “Eine Frage hätte ich aber noch.“ Die Schwarzhaarige verdreht die Augen, erlaubt meiner Freundin aber eine einzige Frage. Erwartungsvoll sehe ich Aria an. “Wo sind die Toiletten?“, fragt sie mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Mir fällt die Kinnlade hinunter. Das hat sie gerade nicht wirklich gefragt, oder? Ich dachte, jetzt kommt irgendwas richtig clever, aber stattdessen fragt sie nach Toiletten. Enttäuschung macht sich in mir breit. Meine Knochen werden schwer und in meinem Gehirn breitet sich eine unbeschreibliche Leere aus. Aria jedoch scheint glücklich, als die Frau auf einen Gang rechts von sich zeigt und sich dann wieder ihrer Arbeit zuwendet, was ich gar nicht verstehe. Wieso ist sie so scharf darauf jetzt sofort auf die Toilette zu verschwinden? Mit einem leisen ‘Danke‘ zieht mich meine Freundin mit sich zum Gang.
Für einige Sekunden hetzen wir still durch den Gang. Ich weiß echt nicht, was sie vorhat, doch scheinbar scheint es wichtig zu sein. Nach wenigen weiteren Metern bleibt Aria stehen und sieht sich um. “Kannst du mir mal erklären, was das gerade war?“, frage ich leise, da ich keine Lust habe dabei erwischt zu werden, wie ich hier durch irgendwelche Gänge renne. Zwar haben wir noch nichts Verbotenes getan, aber das ist genauso wie im Supermarkt ohne etwas gekauft zu haben, an der Kasse vorbeizugehen, man fühlt sich immer ein wenig schlecht. “Wenn man uns die Sachen nicht freiwillig gibt, müssen wir sie eben kommen und jetzt halt die Klappe, sonst werden wir erwischt“, flüstert sie mir ins Ohr: “Einfach ganz cool rein und dann wieder raus!“ In ihrem Mund klingt das so viel leichter, als es ist, doch ich schlucke kurz und nicke dann. Aria scheint jedoch nicht einmal auf mein Einverständnis gewartet zu haben, da sie mich bereits wieder mit sich zieht. Ein leichtes Kribbeln entsteht in meinem Bauch. Ob aus Angst oder aus Aufregung kann ich nicht genau sagen.
An einem Aufzug angekommen, der ziemlich versteckt liegt, bleiben wir stehen und Aria drückt auf den Knopf, der den Aufzug zu uns herrufen soll. Es schien den ganzen Weg über so, als würde sich Aria hier merkwürdig gut auskennen. Wäre ich hier allein gewesen, hätte es sicher Stunden gedauert, bis sich hierher gelangt wäre. “Warst du schonmal hier?“, frage ich deshalb vorsichtig. Mir fällt sofort auf, dass das Mädchen, welches mich zuvor angeblickt hatte, schnell den Blick abwendet und nervös mit ihren Fingern herumzuspielen beginnt. Falten bilden sich auf meiner Stirn. Sie muss die Frage gar nicht beantworten. Das hat ihre Körpersprache schon zur Genüge getan. Aria scheint das jedoch anders zu sehen, als sie ihren Kopf wieder hebt und mich ansieht. Langsam öffnet sie ihren Mund und will zu einer Erklärung ansetzen, doch das ‘Ping‘ des Aufzuges unterbricht sie, was ihr ziemlich recht zu sein scheint. Schnell huscht sie in das Metallgehäuse und zieht mich mit sich. Drinnen angekommen schließen sich die Türen sofort, was für einen normalen Aufzug ziemlich untypisch ist. Als ich jedoch den seichten Wind spüre, wird mir klar, woran es liegt. Ich blicke zu Aria und kann gerade noch sehen, wie sie auf den Knopf drückt, der mit einem merkwürdigen Zeichen bedruckt ist, welches ich nicht kenne. Genau in diesem Moment wird mir klar wie groß die Schwierigkeiten sein werden, in die wir uns gerade begeben!