Während der folgenden Wochen hatte sie mehr als genug Gelegenheiten ihre Theorie auf die Probe zu stellen und tatsächlich: sie machte Fortschritte, wenn auch kleine. Ihre erste Maßnahme war es gewesen sich anzugewöhnen mehr als vorher zu zaubern, um sich eine gewisse Routine anzueignen. Ihre Sachen rief sie mit dem Accio, ihren Zauberstab ließ sie bei jeder Gelegenheit mit Lumos erleuchten, ob hell oder nicht, und wieder erlöschen. Seit sie erkannt hatte, dass möglicherweise nicht der Stab oder ihre Fähigkeiten, sondern ihr eigener Kopf Schuld an ihren Engpässen war, ging ihr das Zaubern immer besser von der Hand.
Es war, als wäre ein Knoten in ihr geplatzt, dessen Stränge jedoch noch voneinander getrennt werden mussten; und das war keine leichte Aufgabe.
Immerhin glaubte sie nun zu wissen, woran sie arbeiten musste, was auch ihre Nachhilfestunden bei William Booth um einiges erträglicher machten. Sie hatte niemandem von ihrer Schlüsselerfahrung mit dem Terrarium berichtet, nur Millicent als anwesende Beobachterin war eingeweiht. Booth hatte sie erzählt, sie hätte über die Ferien geübt und, Hufflepuff wie er nunmal war, glaubte er ihr jedes Wort ohne nachzufragen. Ihre Klassenkameraden staunten hingegen nicht schlecht, als sie während der ersten Zauberkunststunde beinahe mit ihnen mithalten konnte.
Die verblüfften Blicke der anderen Mädchen, die noch immer weder mit ihnen noch untereinander Worte wechselten, waren mehr als befriedigend gewesen. Im Gegensatz dazu wollte Blaise es nicht bei stupidem Starren belassen, und verlangte Antworten.
"Das kann nicht sein. Wie kannst du von heute auf morgen plötzlich zaubern?"
Beinahe jeden Abend im Gemeinschaftsraum versuchte er ihr das Geheimnis zu entlocken, so auch heute. Dieses Mal hoffte er die festliche Stimmung der Slytherin einen Tag vor Samhain würde Evelyns Zunge ein wenig lockern.
"Ich sagte doch schon, ich kann es dir nicht erklären. Ganz ehrlich, ich hinterfrage es auch gar nicht."
Immer wieder sagte sie ihm dasselbe, und stets schüttelte Blaise frustriert den Kopf. Das meiste war natürlich gelogen, sie hinterfragte so einiges. Die Sache mit dem Erklären war ein bisschen komplizierter, sie hatte selbst noch keine schlüssige Formulierung gefunden, und ein Teil ihrer Theorie war auch nicht für fremde Ohren bestimmt.
"Es ist der Stab, oder? Dein Großvater hat irgendwas mit deinem Stab gemacht. Deshalb auch all die Bücher." Blaise deutete auf den Stapel neben Evelyn, durch den sie sich seit Wochen las. Sie wäre vielleicht schon durch, wenn sie nicht ständig Blaises nagende Fragen versuchen müsste zu beantworten.
"Er hat nichts gemacht. Ich habe mich nur an einige Dinge erinnert, die er zu mir gesagt hat, und die haben geholfen. Ein Aha-Moment, wenn du es so willst."
Blaise Augen wurden groß und voller Hoffnung rutschte er näher an sie heran. "Was hat er gesagt?"
"Familiengeheimnis", sagte sie nur, den Blick auf das Buch gerichtet und mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Blaise schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ließ sich dramatisch gegen die Lehne des Sofas fallen.
Evelyn hatte gleich am nächsten Morgen nach dem Terrarium-Vorfall einen langen Brief an Ollivander geschickt, den sie während ihres Nachmittagunterrichts verfasst hatte. Weder Professor Binns noch Lockhart hatten sich daran gestört. Zusammen mit der Bestellung für Futter an die Magische Menagerie hatte sie eine Schuleule in die Winkelgasse geschickt.
In dem Brief hatte sie versucht zu formulieren, was sie beim Zaubern gefühlt hatte, und wie ihr die Arbeit mit ihm geholfen hatte auf die mögliche Lösung ihres kleinen Problems zu kommen. Ein beinahe genauso langer Brief voller Glückwünsche und zusätzlichem Lesematerial war seine Antwort gewesen.
Eine klare Erklärung hatte sie noch immer nicht, aber sie war auf der richtigen Spur. Sie wusste sicher, dass es mehrere Faktoren waren, die sie nun einen nach dem anderen angehen musste; ihre eigenen Stränge des Knotens. Die Methode, wie sie von Alexander des Großen benutzt worden war um den Gordischen Knoten zu lösen, würde sie hier nicht weiterbringen. Statt mit roher Gewalt hindurch zu schneiden, musste sie geduldig sein und sich vorsichtig mit viel Fingerspitzengefühl herantasten - im wahrsten Sinne des Wortes.
Ollivander und die Lehrstunden zu magischen Hölzern waren sicherlich eine große Hilfe gewesen und hatten sie daran erinnert, ihren Zauberstab nicht als fremdes Wesen zu sehen, sondern als einen Teil von ihr. Etwas, das sie gerne vergas. Sie hatte irgendwann während des letzten Jahres einfach aufgegeben zaubern zu können, es zu versuchen, denn egal wie sehr sie sich angestrengt hatte, das Ergebnis war immer dasselbe gewesen. Ein demoralisierendes Gefühl.
Im Gegensatz zu ihren Mitschülern, hatte sie eine ganz andere Ausgangslage auf mehreren Ebenen. Für sie war Magie ein Mythos, eine Legende, etwas Irreales. In ihrer Welt und in ihrem Leben, das ihr nun wie ein ferner Traum vorkam, gehörte Magie nicht dazu. Sie war aufgewachsen mit dem Wissen, dass Magie nicht existierte und wenn, alles nur als Taschenspielertricks entlarvt werden konnte. Die muggelgeborenen Kinder, denen es ganz ähnlich erging wie ihr, machten zwar dieselben Erfahrungen, aber sie waren trotzdem noch Kinder. Kinder glaubten schnell an ihre Umwelt und an das, was man ihnen erzählte. Sie hingegen wusste mit Sicherheit, dass Magie nicht existierte, dass all das um sie herum - der Gemeinschaftsraum, das Schloss, der See - nicht real war, wo sie herkam.
In diesem Moment, in dem sie erschöpft auf dem Boden des Mädchenschlafsaals gelegen hatte, war ihr einiges klar geworden und ein Gefühl hatte sie überkommen, an das sie nun festhielt. Das Wissen, dass alles nicht real war, und gleichzeitig die Akzeptanz, dass es real war. Manchmal machte es Sinn in ihrem Kopf, und dann gab es wieder Momente, in denen sie selbst zweifelte. Um zaubern zu können, reichte es nicht hier zu leben, sie musste ihre Umgebung akzeptieren und alles, was sie mit sich brachte. Doch das war einfach gesagt als getan.
Sie wünschte sie könnte sagen, sie hätte den Wissenstands der anderen aufgeholt, indem sie jede freie Minute alte Zauber und Stunden aufarbeitete, doch dem war nicht so. Zwar kam sie sich nicht mehr wie ein nutzloser Muggel vor, aber genau genommen hatten sie alle ein Jahr Vorsprung und das war leider nicht in wenigen Wochen auszugleichen. Trotzdem gab sie ihr bestes und statt die Lücke größer werden zu lassen, glaubte sie sie schrumpfen zu sehen.
Wenigstens das konnte sie beobachten, wenn sie auch ihre Klassenkameraden kaum noch sah, die sich weitestgehend verstreuten. Draco bekamen sie kaum noch zu Gesicht seit er seine Drohung wahr gemacht hatte und nun der Sucher des Quidditch Teams geworden war. Die ersten Wochenenden war er auffällig oft mit seinem neuen Besen durch den Gemeinschaftsraum gelaufen, um zum Training zu gehen. Evelyn hatte sich nie die Mühe gemacht ihm zu folgen und beim Training zuzuschauen, wie es manch andere aus ihrem Haus gerne taten. Dafür hatte sie gar keine Zeit. Während sie jeden Nachmittag, den Booth für sie entbehren konnte, übte, verbrachte Daphne immer mehr Zeit bei der Quidditch Mannschaft und damit auch mit Draco, sehr zu Pansys Leidwesen. Evelyn vermutete, dass Daphne absichtlich zu jedem Training ging, um Pansy mit ihrer Nähe zu Draco zu ärgern. Pansy dankte es ihr mit konsequentem Schweigen, was auch alle anderen mit einschloss. Sie wohnten zusammen, gingen zusammen zum Unterricht, aber sie hielt ständig eine Mauer aufrecht, die niemanden zu ihr durchließ. Millicent versuchte es sporadisch mit freundlichen Worten am Morgen, oder mit einer Einladung abends zusammen zu essen, was Pansy stets mit der kalten Schulter beantwortete. Sie aß mit anderen Schülern und grüßte, wenn, nur Draco und die Jungs. Trotzdem hatten sie einen Status Quo erreicht, wie Evelyn fand. Es half, dass die Malfoys noch immer keine öffentliche Stellungnahme gemacht hatten, und das blieb hoffentlich auch so.
Millicent machte ebenfalls immer öfter ihre eigenen Streifzüge, und es hatte nicht lange gedauert, bis Evelyn herausgefunden hatte, wohin, oder besser zu wem diese führten: Lockhart.
Lockhart war ein zu groß und bunt gewordener Moskito, der ständig summend um die Köpfe der Bewohner Hogwarts' flog. Man musste ihn nicht sehen um zu wissen, dass er da war und egal wie oft man zuschlug, man bekam ihn einfach nicht zu fassen. Passend dazu hatte sich eine Gruppe junger Damen und Herren gebildet, aus allen Altersgruppen und Häusern, die die Frösche zu dem Moskito namens Lockhart bildeten.
Überall lauerten sie ihm auf: nach dem Essen, auf den Gängen, auf dem Gelände und sicherlich sogar beim Gang auf das Klo. An Lockharts Stelle hätte Evelyn jeden einzelnen von ihnen über das Kliff hinein in den See geschubst, aber er genoss es immer umringt und das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu sein.
Lockhart nutzte Hogwarts als seine große Bühne. Im Gegensatz zu den meisten Lehrern, trug er täglich etwas anderes und Evelyn stellte sich bereits die Frage, wie groß sein Gepäck gewesen sein musste. Jeder Lehrer bevorzugte einen Kleidungsstil, von dem sie kaum abwichen und an dem sie alle gut zu erkennen waren. Gilderoy war wie ein zwitschernder Kanarienvogel, was er jeden Morgen aufs Neue unter Beweis stellte, wenn er regelrecht in die Halle einzog. Anfangs hatte ihn noch Beifall begleitet, doch nun jubelten nur noch die eingefleischten Fans, wann immer er sie mit seiner Präsenz beschenkte.
Seine Lehrmethoden waren mehr als dubios und würde der Großteil der Klasse zuhören, was er sagte oder vorlas und ihn nicht einfach nur starren, würden sie eher Fragen stellen wie: "Macht es Sinn einen Yeti mit dem Glacius zu verhexen, wodurch er dann Schnupfen bekam?" Stattdessen fragten sie sich, wo sie dieselben Handschuhe kaufen konnte, die er trug.
Sie hatte nicht viel von ihm erwartet und wurde sogar trotzdem noch enttäuscht. Was er zuverlässig lieferte, waren Gelegenheiten über ihn zu lachen. Evelyn liebte es die anderen Lehrer zu beobachten, wann immer Gilderoy mit ihnen sprach. Manche, wie Pomona Sprout, bemühten sich um diplomatischen Respekt unter Kollegen, doch auch das hatte sich geändert, nachdem Lockhart ihr, wie so vielen anderen auch schon, seine Hilfe angeboten hatte. Das war darin resultiert, dass Professor Sprout ein ganzes Beet voller Federkraut neu anlegen musste. Entgegen ihrem Namen, wuchs Federkraut in dichten Büschen voller Dornen, in die Lockhart in seinem Eifer, wie es hieß, aus Versehen gefallen war. Drei Wochen lang versteckte Lockhart die Hälfte seines Gesichts hinter einer filigranen Maske, um die ihn Erik, das Phantom, sicherlich beneidet hätte. Angeblich hatte das Federkraut ihn entstellt und Pomfey würde Zeit benötigen, sein Gesicht narbenfrei zu heilen. Evelyn vermutete dahinter eher einen Mann mit Hang zur Dramatik; Erik also gar nicht so unähnlich. Insgeheim trauerte sie Quirrell hinterher, der im direkten Vergleich ein weitaus besserer Lehrer gewesen war, als der Hochstapler namens Gilderoy, dessen gutes Aussehen ihn in Evelyns Augen nur so weit brachte. Sprout hingegen trauerte noch immer um ihre Federkräuter.
Erst letzte Woche hatte ihnen Sprout während eines verregneten Vormittages ihre jungen Mandragoras gezeigt und sie diese während ihrer Doppelstunde umtopfen lassen. Mit dicken Ohrschützern bewaffnet hatte Evelyn die Pflanzen mit größter Vorsicht behandelt, deren knollige Auswüchse unangenehm detailgetreu einem Baby ähnelten. Wirklich beunruhigend waren aber die Augen gewesen, deren Lider sich im lauten Geschrei geöffnet und geschlossen hatten, darunter sich aber nur weitere wild gewachsene Wölbungen ohne Pupillen befunden hatten. Während der ganzen Zeit hatte Evelyn versucht sich auf die wenigen Blätter am "Kopf" der Pflanze oder auf die dickeren ineinander gewachsenen Wurzeln zu konzentrieren. Der Teil, der unter der Erde verwurzelt lag, war eher als Pflanze zu erkennen gewesen.
Durch die vielen Lernstunden und zusätzlicher Arbeit hätte man meinen können, dass dies ein normales Jahr sein würde, dessen größte Höhepunkte die gelegentlichen Quidditch Matches werden würde. Trotz des kälteren und stürmischeren Wetters trainierte die Mannschaft der Slytherin hart, wobei Blaise gerne behauptete, sie würden nur jede Gelegenheit nutzen mit den neuen Besen zu fliegen. Evelyn konnte ihm in dem Punkt nicht recht geben. Es war für jeden offensichtlich wie ernst die gesamte Mannschaft das bald anstehende Spiel nahm, das die Saison eröffnen würde.
Ihre aller Tage waren geprägt von Lernen, Arbeit, Quidditch Training und Hausaufgaben, was scheinbar mit einem Mal zum Halt kam, sobald Samhain in greifbarer Nähe war. Kindliche Freude kehrte zurück in den Gemeinschaftsraum und bewegte scheinbar auch Pansy und Daphne zu einem vorsichtigen Waffenstillstand.
Statt auszuschlafen, wie es Samstags normalerweise der Fall war, beeilten sich alle zum Frühstück zu kommen, wo Pansy ihnen sogar ein knappes Nicken zum Gruß zu warf, sobald sie an ihr vorbei gingen. Millicent wertete das als Fortschritt, war aber schon bald abgelenkt von Lockharts neuster Mode.
Zur Feier des Tages hatte er einen nachthimmel blauen Umhang umgeworfen, auf dessen Robe goldene Punkte leuchteten. Evelyn musste mehrmals hinschauen bis sie erkannte, dass die Punkte sich langsam bewegten und in regelmäßigen Abständen an Leuchtkraft verloren, nur um wieder nach wenigen Sekunden hell zu erstrahlen. Vor ihm stand bereits ein ungewöhnlich goldenes Gebilde voller Blumengestecke und satt grüner Blättern, das Evelyn als seine Coinnlear erkannte. Kein anderer Lehrer besaß eine.
"Idiot, das Ding ist viel zu groß, die wird abstürzen wie eine tote Eule", murmelte Blaise ungehalten mit Blick auf Lockhart, was Evelyn zum Schmunzeln brachte. Sie hatte die Szene bildlich vor Augen, als zum Glück lebende Eulen die Halle bevölkerten und etliche Pakete lieferten, darunter auch die Coinnlear der Slytherin. Evelyn eingeschlossen.
Noch vor einem Jahr hatte sie damit nichts anfangen können, schloss sich nun aber der Vorfreude an und war Neugierig darauf, wie ihre Coinnlear aussehen mochte.
Sie stürzte sich gedanklich auf Samhain und die bevorstehende Zeremonie um zu verdrängen, was Mrs Norris passieren, und was damit ins Rollen gebracht werden würde. Unterbewusst hielt sie sich bereits längere Zeit von den Wänden weg, hinter denen sich der Basilisk bewegen konnte, hielt ihren Blick gesenkt und ihre Ohren gespitzt, wann immer sie durch die Gänge ging, was sie versuchte auf ein Minimum zu reduzieren. Bücher, wie die, die Ollivander ihr empfohlen hatte, lieh sie sich tagsüber in der Bibliothek aus und arbeitete sie im Schutz des Gemeinschaftsraumes oder ihres Schlafsaales durch. Die Übungsstunden mit Booth versuchte sie niemals zu spät werden zu lassen, schon alleine, weil Booth selbst Zeit für sich und seine bald anstehenden UTZ benötigte.
Bisher war die Gefahr nie akut präsent gewesen, was sich heute ändern würde.
"Hoffentlich verirrt sich dieses Jahr kein Troll nach Hogwarts, ich hätte gern ein ruhiges Samhain", meinte Millicent grinsend, während sie den Inhalt ihres Pakets in Augenschein nahm. Evelyn nickte mit einem schwachen Lächeln, blieb aber stumm, selbst mit ihrem Paket beschäftigt.
"Ich bezweifle, dass Lockhart der Typ wäre ein Monster in Hogwarts loszulassen." Blaise Bemerkung amüsierte die anwesenden Slytherin, wurde von Millicent hingegen nur mit einem strengen Blick bestraft, den ihn nicht zu stören schien. "Wobei, vielleicht hat er ja noch ein paar Wichtel übrig."
Das ging für Millicent nun zu weit und quittierte sich mit einem Tritt unter dem Tisch, den Blaise zufrieden entgegennahm.
Das Warten auf etwas Schönes, wie Samhain, konnte man eher mit dem freudigen Erwarten vergleichen und machte die Zeit erträglich, währenddessen das Ausharren auf ein unvermeidliches Ereignis quälende Tortur war. Evelyn hatte mittlerweile Erfahrung darin, was die Sache nicht einfacher machte. Trotzdem musste sie sich gestehen, dass es durchaus einfacher war alleine und still etwas entgegen zu gehen, statt ständig nervös giggelnde und ebenfalls aufgewühlte Menschen um sich herum zu haben. Ohne Unterricht hatten die Schüler nichts besseres zu tun, als ihre Zeit im Schloss zu verbringen, vor allem, da das Wetter uneinladend und zu kühl geworden war, um sich lange draußen aufzuhalten.
Auf Bücher konnte sie sich nicht konzentrieren, wie sie schnell feststellen musste, als sie ein und dieselbe Seite mehrmals lesen musste um ihren Inhalt zu verstehen, und so versuchte sie sich mit einige Spielchen abzulenken, zu denen die anderen sie eingeladen hatten. Blaise stellte ihr einige Koboldsteine zur Verfügung, was ihn nicht daran hinderte Runde um Runde zu gewinnen. Vor dem Essen war Evelyn daher gezwungen erneut zu duschen, um die eklig klebrigen Flüssigkeiten aus dem Haar zu bekommen, die die explodierenden Koboldsteine auf ihr hinterlassen hatten. Als sie schließlich ihre Coinnlear abholte, die sie neben ihr Bett gestellt hatte, warf sie einen Blick auf Paimon, der unbeeindruckt von all dem Trubel unter einem Stein versteckt die Welt Welt sein ließ.
"Hoffentlich benimmt sich dein Vetter und tötet niemanden aus Versehen. Wäre ja nicht das erste Mal."
Die Coinnlear aus duftenden Kräutern und ineinander verschlungenen Zweigen unter Arm, folgte sie dem Großteil ihres Hauses zum Essen, das zwar einladend duftete, von dem Evelyn aber nicht viel aß, was nicht unbemerkt blieb.
"Nervös? Dieses Jahr wird schon niemand Samhain stören. Willst du was von meinem Essen?"
Millicent bot ihr ihren Teller an, der gefüllt war mit Pommes, undefinierbarem Gemüse und einer guten Portion getrockneten Früchten, die alle die Form fratzenartiger Kürbisse hatten. Angewidert angesichts der seltsamen Mischung, lehnte sie dankend ab.
"Wo sind eigentlich die Geister? Die schwirren doch für gewöhnlich während großen Ereignissen herein?"
Nicht nur Blaise, der als erstes die Abwesenheit der Geister bemerkt hatte, schaute sich nun in der geschmückten Halle um, sondern auch Millicent und Evelyn, die selbst noch gar nicht bemerkt hatte, dass die Geister fehlten. Für einige Herzschläge war sie verwirrt, wie die anderen beiden auch, und dachte schon, die Ereignisse hätten ihren Lauf genommen. Doch dann realisierte sie, fast schon erleichtert, den Grund für die Abwesenheit der Geister.
"Die werden schon irgendwo stecken", sagte Evelyn und lehnte sich zurück um zu warten, bis Dumbledore sich vor ihnen allen erhob. Sein purpurnes Gewand rivalisierte mit dem von Lockhart, der trotz leuchtender und schwebender Dekoration in der Halle noch auffiel, wie der Vogel, der er nunmal war.
Er nickte den Schülern zu und verschwand ohne ein weiteres Wort zu sagen, was Evelyn und die anderen eher unwissend zurück ließ. Besorgt schaute Millicent auf Snape, der sich ebenfalls kurz nach Dumbledore erhob, um mit den anderen Lehrern die Halle zu verlassen.
"Hoffentlich führt er uns nicht wieder zum Steinkreis. Ich mochte nicht, wie er letztes Mal abseits stand und uns beobachtet hat. Das war seltsam."
"Ich glaube unsere Vertrauensschüler sind dir schon einen Schritt voraus." Evelyn deutete auf Faraah Mustaq und Kegan Cram, die bereits Posten am Ausgang der Halle bezogen. Desweiteren sah sie, wie zwei Figuren am Ravenclaw Tisch es ihnen nachmachten.
Aufgeregt klatschte Millicent in die Hände. "Endlich!" Ihre Hoffnung, Lockhart könnte sich ihnen anschließen, wurde aber schnell zunichte gemacht. Lockhart hatte eine Coinnlear gehabt, aber er schien nicht die Absicht zu haben, sie steigen zu lassen.
Anders als letztes Jahr waren sie nicht nur eine kleine Gruppe bestehend aus ein paar Slytherin, sondern es schlossen sich ihnen auch einige Schüler aus anderen Häusern an. Ravenclaw war ebenfalls gut vertreten und einige Gryffindor Roben waren auch zu sehen. Insgesamt zählte Evelyn aber nur drei Hufflepuff, unter denen William nicht dabei war, was nicht verwunderlich war. Stattdessen entdeckte sie Dracos blonde Mähne, zusammen mit zwei großen Gestalten, die sie als Vincent und Gregory identifizierte. In ihren Händen wirkten ihre Coinnlear eher winzig.
"Lumos!", sagte Evelyn zusammen mit einigen anderen und trat hinaus auf die nach Morast duftenden Ländereien, den Stab direkt vor sich, um den Boden zu sehen.
Der lang anhaltende Regen, der selbst jetzt noch in feinen Tropfen auf sie niederging, hatte den Weg hinunter zum Steinkreis glitschig und matschig werden lassen, sodass es mehr ein gemeinsames Gerutsche war, als ein gemütlicher Marsch. Millicent hielt sich hin und wieder an Evelyn fest, die ihrerseits mit ihrer Balance zu kämpfen hatte und ständig fürchtete, sie könne die ihre Kerze fallen lassen.
Sowohl an der Spitze, als auch am Ende der Prozession wachten Vertrauensschüler aller Häuser über die marschierenden Schüler und ließ Evelyn sich an frühere Schulausflüge zurückerinnern.
Aus den Lichtkegeln, die dutzende Zauberstäbe warfen, tauchten die verwitterten Steine auf, die noch still vor ihnen lagen. Das Licht der Fenster des Schlosses wurde durch den feinen Nieselregen gedämmt, und so mussten sie sich auch hier ihren Weg mit ihren Zauberstäben suchen.
Hier am Steinkreis wurde deutlich, wie viele Schüler tatsächlich anwesend waren, und Evelyn hatte eine Ahnung, dass die Zeremonie dieses Mal länger dauern dürfte. Sie erinnerte sich daran, wie Snape sie gewarnt hatte nicht den kompletten Stammbaum aufzuzählen, und sie hoffte inständig, dass auch ohne seine Anwesenheit niemand auf die Idee kam jeden ihrer Familienangehörige zu nennen.
Frierend reihte sie sich umringt von Slytherin in den Kreis ein, der sich um die Steine gebildet hatte. Ihr Umhang war bereits klamm vor Nässe und bald würde der feine Regen völlig von den Textilien aufgesogen sein.
Niemand sagte ein Wort, während sie alle, Kerzen in der Hand, auf die Steine schauten und warteten. Evelyn wusste, was sie erwartete, doch die Runen in blauem Schimmer aufleuchten zu sehen, war noch immer beeindruckend. Noch während viele die rohe Schönheit des Gebildes bewunderten, trat ein Gryffindor nach vorne und eröffnete das Ritual, das sich von da an reihum fortfuhr. Dutzende, hunderte Namen, so kam es Evelyn vor, wurden an diesem Abend geehrt. Trotzdem gab es auch einige, die wie Evelyn die Familie als "Unbekannt" angaben.
Mit dem Höhepunkt des Rituals, dem Aufsteigen der verbrennenden Kerzen, endete schließlich der Abend und man begann sich leise zu verabschieden, als Dracos Stimme laut wurde.
"Wer kommt mit auf den Astronomieturm?"
"Malfoy!", sagte Cram streng. "Niemand geht jetzt noch irgendwo hin, außer direkt in die Gemeinschaftsräume."
"Komm schon, Kegan. Wir haben noch ein bisschen Zeit und auf dem Astronomieturm könnten wir die Kerzen sehen." Dass Draco ihn mit dem Vornamen angesprochen hatte, gefiel dem Vertrauensschüler gar nicht, dafür sprangen einige andere umso mehr auf die Idee an.
"Da oben hätten wir wirklich einen guten Ausblick", meinte ein junger Ravenclaw stellvertretend für viele Anwesende mit hoffnungsvollem Blick an seinen Vertrauensschüler, die ihrerseits flüchtig Blicke tauschten. Der Gedanke jetzt noch durch das Schloss zu wandern gefiel widerstrebte Evelyns bis ins Mark.
Sie lehnte sich zu Millicent. "Lass uns gehen." Die schüttelte aber vehement den Kopf.
"Nein, ich will auch auf den Astronomieturm!"
Mit ihr gab es immer mehr solcher Stimmen, sodass die Vertrauensschüler bald nachgaben. Evelyn vermutete, dass sie selbst angetan waren die langsam schwebenden Kerzen vom Astronomieturm zu betrachten.
"Na schön, aber bitte in geordneten Reihen. Wir müssen uns beeilen, sonst sind die Coinnlear völlig verstreut."
In nassen Klamotten jetzt auch noch die sieben Stockwerke und mehr hinaufzuklettern, nur um ein paar brennende Kerzen zu sehen - und das mit einem möglichen Basilisk um jeder Ecke - war nicht gerade Evelyns Vorstellung eines perfekten Abschlusses. Sie ging mit der Masse den Weg zurück, der dank Dutzender Paar Füße mittlerweile völlig durchgetretener war und nun den Saum ihres Umhanges mit dickem Schlamm beschmutzte. Jeder Schritt schmatzte unter ihren Schuhen, die sie nach dieser kurzen aber ekligen Wanderung wohl zunächst im Wasser einweichen musste; sich selbst eingeschlossen.
Unter ihnen gab es einige, die ähnlich dachten, wie Evelyn, und sich aus der Menge lösten, um in ihre Häuser zurück zu kehren, sobald sie die warme und trockene Eingangshalle Hogwarts' erreicht hatten. Eine braune Spur aus Dreck folgte ihnen, und Evelyn beneide in diesem Moment den Hausmeister nicht, der das alles wieder sauber machen dürfte.
Filch!, ging es ihr durch den Kopf, und unwillkürlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Er würde größere Sorgen haben, als hinter ihnen herzuräumen und auch wenn Filch nicht die Freundlichkeit in Person war, so hatte er das nicht verdient.
Ihre Lust auf schwebende Kerzen war nun mehr denn je vergangen, und sie trat kurz vor der Treppe aus der noch immer beachtlich großen Masse aus.
"Ich geh schlafen, Millicent, sei mir nicht böse."
Millicent wurde vom Strom der Schüler gezwungen weiter zu laufen, rief ihr aber noch hinterher, dass sie bald nachkommen würde.
Auf ihrem Weg nach unten wich sie jedem Teppich aus, so gut es ging und hielt ihre Hand erhoben, um beim Vorbeigehen ein wenig Wärme von den Fackeln einzufangen. Die Kälte war ihr durch ihre nasse Kleidung mittlerweile in ihre Knochen gewandert, und so war ihr die einhüllende Wärme des Gemeinschaftsraumes samt loderndem Feuer gerade recht.
Der Gemeinschaftsraum war völlig verwaist, also entledigte sie sich ihres Umhangs schon im Gehen, allerdings erreichte sie noch nicht einmal die Treppen zum Schlafsaal, als jemand regelrecht hereingefallen kam. Evelyn kannte ihn nicht, es war ein Junge, etwas älter als Millicent und die anderen. Sein Kopf war völlig blass, obwohl er keuchte, als wäre er hunderte von Meter gerannt. Hinter ihm erschienen andere völlig außer Atem geratene Schüler, die es eilig hatten den Gemeinschaftsraum zu betreten. Evelyn umklammerte ihren Umhang und wrang einige Tropfen aus, als die Ankommenden aussprach, was sie bereits vermutete.
"Es ist etwas passiert!"
Die Kammer des Schreckens und der vermeintliche Erbe war für jeden auf die ein oder andere Weise das Gesprächsthema. Die einen waren geschockt und derart verängstigt, dass sie ihre Häuser nicht mehr verließen. Andere glaubten an einen schlechten Scherz eines Schülers und nahmen die Sache wenig ernst; immerhin war nur eine Katze versteinert worden. Wie die Lehrer darüber dachten war nicht klar, da sie normalen Unterricht abhielten und auf keine Frage reagierten.
Viele unter ihnen hatten von der Kammer des Schreckens gehört, die für einige Kinder zur Gute-Nacht-Geschichte gehört hatte. Sei brav, oder das Monster der Kammer wird dich holen, hatte Millicent ihr einmal gesagt. Wie wahr das doch nun wurde. Die Angst ging für viele sogar so weit, dass die montags nicht zum Unterricht erschienen, was in harte Abmahnwellen resultierte. Pansy vergaß für einen Moment sogar ihren Stolz und fragte abends mit Nervosität in der Stimme, ob sie an das Monster glaubten.
Von einem Moment zum anderen änderte sich die Stimmung der Schule, die nur noch zusammen gehalten wurde durch die Ruhe, die die Lehrer ausstrahlten. Sie gaben den Schülern das Gefühl die Lage unter Kontrolle zu haben, und die dankten es ihnen, indem sie fünf Tage nach dem Angriff einigermaßen zurück zur Normalität fanden. Hausaufgaben und unveränderter Unterricht hatten manchmal etwas Gutes. Morgens diskutierte man nicht mehr darüber, was das Monster der Kammer sein könnte oder wer unter ihnen der Erbe war, sondern man nahm Wetten entgegen für das erste Spiel der Saison zwischen Slytherin und Gryffindor. Trotz allem überraschte es Evelyn, wie schnell der Angriff nicht vergessen war, aber dennoch hinter sich gelassen wurde.
Am Morgen des Spiels waren die neuen Besen und die damit erhöhten Erfolgschancen endgültig in aller Munde und vertrieb jeden Gedanken an Gefahr. Professor McGonagall trug leuchtend rote Farben als solidarisches Zeichen, während sich Draco sichtlich wohl in den grünen Roben fühlte.
"Ich werde Potter zeigen, wie man richtig fliegt!", hörte sie ihn sagen, was zum Großteil schweigend angenommen wurde.
Der Regen der letzten Tage hatte nachgelassen, doch eine ungewöhnliche Warmfront hatte sich über das Schloss gelegt. Dicke Wolken hingen drohend über ihnen und man spürte die mit Elektrizität aufgeladene Luft. Ein Gewitter stand bevor.
Mit dem Blick gen Himmel gerichtet, wenn auch nur kurz, versammelte sich die Schülerschaft bestens gelaunt und voller Energie auf den Tribünen, doch während Evelyn eher die bedrohlichen Wolken beäugte, konzentrierte sich der Rest auf das Quidditch-Spiel vor ihnen. Wenn man ihr die Wahl gelassen hätte, hätte die auch dieses Event lieber sein gelassen und die anderen ihr Vergnügen gegönnt, doch es war zu einer stummen Vereinbarung unter ihnen geworden, Draco während seines ersten Einsatzes zu unterstützen.
Die Meinungen zu seinen Fähigkeiten mochten auseinandergehen, aber auf dem Platz repräsentierte er ihr Haus und dahinter würden sie stehen.
Jubelrufe und lautes Gelächter begleiteten das Spiel, das Slytherin klar dominierte und sich für Evelyns Geschmack zu lange zog. Die Wolken wurden immer dichter und trotz Lärm der Menge, glaubte sie nahenden Donner zu hören, der aber kaum einer zu stören schien, ebenso wenig wie die dicken Tropfen, die allmählich auf sie niedergingen. All das interessierte die Zuschauer kaum, die die meiste Zeit Draco und den Klatscher anfeuerte, der es auf Harry abgesehen hatte.
"Ah, knapp daneben!"
Plötzlich kam Bewegung in ihre Tribüne, als die Sucher, und damit Draco, gleichzeitig vorschossen. Gegen den dunklen Himmel war der Schnatz sogar für Evelyn sichtbar, der wie eine goldene Murmel durch die Luft schoss, verfolgt von beiden Suchern.
Nun wurde es tatsächlich auch für sie interessant, die in diesem Moment beide Flieger für ihre Manöver und Wendigkeit bewunderte. Draco mochte durch das Geld seines Vaters in der Mannschaft aufgenommen worden sein, aber er zeigte in diesem Moment, dass die Entscheidung gar nicht so dumm gewesen war. Selbst Blaise pfiff anerkennend, als Draco neben Harry eine weitere enge Schraube flog.
Slytherin sah sich schon als Sieger, doch in diesem Moment reagierte Draco zu langsam und blieb mit seinem Besen in einem der Balken hängen, während gleichzeitig ein hässlicher Schlag durchs Stadion ging, der von Harry ausging.
Kollektives Aufstöhnen, gefolgt von Buh-Rufen schallten in Evelyns Ohren, als Harry mit einer letzten Parade den Schnatz fing und das Spiel doch noch zu Gunsten von Gryffindor beendete.
"Verdammt! Er war so gut", fluchte Daphne und schmiss ihren grün-silberne Mütze gegen das Geländer. "Draco darf nicht so übermütig sein!"
"Schau dir Potter an, sein Arm! Urgh, wie eklig."
Unten im nassen Schlamm lag Harry, den Schnatz in der einen Hand, und die andere in seltsamen Winkeln abstehend. Evelyn wandte ihren Blick ab. Das ist wirklich eklig.
Der Anblick und die schmachvolle Niederlage ließ die Slytherin-Bühne sich schnell leeren, weshalb sie eilig Richtung Schloss zogen. Ohne es zu sagen war Pansy zurückgeblieben, um nach Draco zu sehen, der ebenfalls vom Besen gefallen war, wenn auch nicht so spektakulär, und möglicherweise verletzt war. Auch Blaise wollte auf den jungen Malfoy warten und ihn für seinen ersten Einsatz beglückwünschen, sodass Daphne, Millicent und Evelyn die einzigen waren, die sich in den Schutz des Schlosses zurückzogen. Höchste Zeit, wie Evelyn fand, da schon annähernd ein Sturm tobte.
Während das Gewitter über Hogwarts fegte, saß Evelyn mit Paimon in der Hand am Fenster ihres Schlafsaales. Das Wasser des Sees wurde heftig aufgewirbelt, sodass es trüber war als sonst und Evelyns Stimmung widerspiegelte.
Sie war allein, die Mädchen waren im Gemeinschaftsraum und diskutierten die Niederlage. Für Evelyn war es beruhigend zu wissen, dass sie alle oben waren, in Sicherheit, und nicht in diesem Moment durch die Gänge streiften.
"Paimon, dein Vetter macht mir wirklich Sorgen." Sie hatte ihm gerade erst eine Maus gefüttert, sodass er nun träge und mit rundem Bauch auf ihrer Hand lag, die Augen jedoch offen hielt. Den Zauberstab in der anderen Hand lenkte sie sich ab, indem sie die Kissen durch den Raum schweben ließ, nur um sie seufzend wieder dumpf fallen zu lassen. "Das wird wieder eine lange Nacht."
Eine lange Nacht war es, die unerwartet früh von Mustaq unterbrochen wurde. Mit lautem Klopfen weckte sie jedes Zimmer, mit der Anweisung sich sofort im Gemeinschaftsraum zu versammeln. Den Luxus ihre Schlafkleider gegen ausgehfertige Sachen einzutauschen wurden ihnen trotz Proteste einer noch müden Daphne nicht gewährt.
Der Gemeinschaftsraum war bereits gut gefüllt, als sie die Treppen erklommen hatten. An die Siebzig Schüler, sie eingeschlossen, drängten sich in dem Raum, der nun viel zu klein wirkte. Die bunten Pyjamas brachten eine ungewohnt bunte Mischung mit sich, da hier normalerweise die Farben ihrer täglichen Schuluniform dominierten. Evelyn hätte sich vielleicht über den Geschmack manch eines Schülers amüsiert, wenn sie in diesem Moment nicht die groß gewachsene Figur vor dem Ausgang entdeckt hätte. Sofort spannte sie ihren Körper an.
"Leider", sagte Snape mit lauter Stimme und kurzer Pause, wodurch er die Aufmerksamkeit jedes einzelnen in diesem Raum einforderte, "hat es in der Nacht auf heute einen weiteren Angriff gegeben. Dieses Mal ist ein Schüler betroffen."
Es dauerte einige Wimpernschläge, bis die zum Teil noch verschlafenen Anwesenden begriffen hatten, was Snape mit Angriff und Schüler meinte, doch dann begann sich die Atmosphäre schlagartig zu ändern, die schon zuvor aufgewühlt gewesen war, nun aber gefüllt war mit Panik.
"Wer?"
"Ein Angriff? Schon wieder?"
"Wen hat es erwischt?"
Sofort schauten sich die Schüler um und suchten instinktiv nach ihren Zimmergenossen, Freunden oder Klassenkameraden aus Angst, jemand von ihnen könnte fehlen und damit das Opfer sein. Auch Millicent reckte den Kopf, wohl auf der Suche, ob sie jemanden nicht sah. Evelyn hielt hingegen den Blick starr auf Snape gerichtet, der kaum sichtbar unter seiner schwarzen Robe, ein aufgerolltes Pergament bei sich hatte.
"Der Schüler stammt nicht aus diesem Haus, sondern aus Gryffindor", erklärte er mit ungewohnt stoischer Miene. Viele atmeten erleichtert auf und sogar die Worte "Achso" und "Zum Glück", fielen, wofür Snape aber niemandem über den Mund fuhr. Stattdessen erklärte er weiter: "Zwar existiert keine makabre Schrift, doch es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass auch dies die Tat des Erben Slytherins ist." Er spuckte den Titel angewidert aus, während er seine Augen über die Versammelten gleiten ließ, die sich abermals verängstigt anschauten.
Erbe Slytherins. War einer der ihren möglicherweise der Täter? Dies waren die Worte, die den meisten in diesem Moment durch den Kopf gingen und sich in ihren Mienen spiegelten.
"Bisher wurde niemand ernsthaft verletzt. Der Gryffindor Junge ist ebenfalls wie die Katze von Mr Filch lediglich versteinert. Die Schulleitung nimmt diese Vorfälle jedoch äußerst ernst, daher werde ich Ihnen nun die einzige und letzte Gelegenheit geben vorzutreten."
Evelyn seufzte und blickte in die Gesichter einiger umstehender Schüler. Jeder ahnte bereits, was Snape gleich fragen würde und Evelyn war sich nicht sicher wen diese Frage mehr anwiderte: die Schüler, dass sie verdächtigt wurden, oder Snape, dass er diese Frage überhaupt erst stellen musste.
"Ist einer von Ihnen ... der Erbe Slytherins?"
Betretenes Schweigen füllte den Raum, während dem niemand es auch nur wagte zu husten oder sich zu bewegen, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Hauslehrer zeigte Geduld und ließ eine ganze Minute verstreichen, die für viele wie Stunden gewesen sein mussten, ehe er knapp nickte.
"Das dachte ich mir." Er hob mit einer Bewegung seinen Zauberstab und die ersten in der Reihe direkt vor Snape begannen instinktiv zurück zu weichen, sodass die Menge, die nirgendwo hinkonnte, um einiges zusammengestaucht wurde. Snape richtete den Stab aber nicht auf die Schüler, sondern hielt ihn erhoben und murmelte einige Worte, die Evelyn nicht hören konnte. Nur sein Mund bewegte sich, woraufhin ein erdrückendes Gefühl ihr die Luft aus den Lungen presste, sodass sie kurz keinen Atem hatte. Millicent neben ihr fasste sich mit aufgerissenen Augen an die Brust; scheinbar spürte sie es auch.
Er ließ seinen Zauberstab wieder verschwinden und richtete sich erneut an die Schüler. "Niemand von Ihnen wird diesen Raum heute verlassen, ehe ich ihm nicht die Erlaubnis gegeben habe. Ich werde nun mit den Einzelbefragungen beginnen, die Siebtklässler machen den Anfang. Mr Cram, Miss Mustaq, schicken Sie die Schüler zu mir; Sie selbst eingeschlossen." Er reichte den vorne wartenden Vertrauensschülern das Pergament, das er in Händen gehalten hatte und richtete sich dann, bevor er den Raum verließ, an die verängstigte Schar Slytherins.
"Ich hoffe für Sie, dass meine Untersuchung nur zu einem Ergebnis kommt: dass sich der Erbe Slytherins nicht unter uns befindet. Sollte ich den Täter hingegen finden, der sich hier einen schlechten Scherz erlaubt, wird es keine mildernden Umstände mehr geben. Auch nicht für diejenigen unter euch, die bewusst Informationen verheimlichen. Ich warte in meinem Büro."
In den folgenden Sekunden bekam Evelyn immer weniger Luft, und der Rest des Abendessens drohte ihr wieder über die Lippen zu kommen. Für Millicent, die ähnlich weiß im Gesicht war, eine nachvollziehbare Reaktion, doch für Evelyn ging die Lage viel tiefer, als nur blasse Haut. Die Worte ihres Hauslehrers sickerten in ihr Bewusstsein und verursachten den ersten Schwall an Übelkeit, die so stark war, dass sie sofort den Weg Richtung Schlafsäle einschlug. Mehrmals blieb sie auf der Treppe stehen, die zitternden Finger gegen die Wand gedrückt, da sie glaubte der spärliche Inhalt ihres Magens würde sich vor ihr entleeren.
Irgendwie, und mehr stolpernd als laufend, erreichte sie den Schlafsaal, wo sie keuchend unter ihre Bettdecke kroch, das Pfeifen des eigenen Atems im Ohr.
Einzelbefragung! Er untersucht den Vorfall?
Ihr Körper schüttelte sich unkontrollierbar, als würde sie frieren.
Das war nicht vorgesehen. Nirgends wurde gesagt, dass die Slytherins befragt wurden.
Neben der Übelkeit überkam sie Wut, und mit einem Ruck Riss sie die Decke zurück, öffnete ihre Schublade und griff nach dem blanken Buch, das leichte Brandspuren hatte. Es war völlig leer, immer noch, und trotzdem blätterte Evelyn so als hätte sie ein Ziel durch die Seiten. Sie wusste, sie würde nichts finden, doch der Drang nach einer Lösung zu suchen war größer, als rationales Denken.
"Argh!" Frustriert schmiss sie das halb geöffnete Buch mit aller Kraft zurück in die Schublade, wo es krachend zum Stillstand kam. Sicherlich hatte es einige Schäden davon getragen. Ein eingedrückter Umschlag, umgeknickte Seiten, doch der Zustand war ihr in diesem Moment völlig egal.
Sie starrte ins Leere, als Daphne, gefolgt von Millicent den Raum betraten. Sie alle schwiegen, tauschten noch nicht einmal Blicke, während sich die beiden routiniert ihre Schuluniformen anzogen. Evelyn saß derweil unbewegt auf ihrer Matratze.
"Alles in Ordnung?", fragte Millicent schließlich mit deutlich hörbarer Unsicherheit.
"Ich bin noch müde." Ohne sich umzudrehen ließ sich Evelyn zurück auf ihr Bett fallen, ehe sie tonlos weitersprach. "Die Siebtklässler sind zuerst dran. Es dauert also noch eine Weile, bis wir dran sind. Weckt mich, wenn ihr mich braucht."
Natürlich kam niemand, um sie zu wecken, und natürlich machte Evelyn auch kein Auge zu, im Gegenteil. Nach dem anfänglichen Schock begann sie sich eine Strategie zurechtzulegen, wie sie die Befragung am besten hinter sich brachte. Ihre Gefühlslage wechselte dabei zwischen optimistischen Denken und resignierter Panik.
Ihr bester Plan war momentan das unschuldige Kind zu spielen, das er erwartete. Seine Priorität mit den Siebtklässlern anzufangen war keine Willkür. Die Art der Angriffe und die Ausführung zeugten von magischem Geschick, das jüngere Zauber noch nicht hatten. Er ging die Liste der Kandidaten systematisch ab, beginnend mit den wahrscheinlichen Tätern hin zu den unwahrscheinlichen. Ironisch wenn man bedachte, dass der wahre Täter ein Erstklässlermädchen namens Ginny Weasley war, wobei sie zugegebenermaßen von einem fast fünfzig Jahre altem Geist kontrolliert wurde.
Ihre beste Chance war es also, die unschuldige junge, im zaubern viel zu unfähige Evelyn zu spielen. Das meiste davon war gar nicht so weit von der Wahrheit weg.
Unfähig noch länger im Schlafsaal zu sein, gesellte sich Evelyn in Schuluniform gekleidet zu den anderen im Gemeinschaftsraum, wo es schon deutlich leerer geworden war. Gott, er ist schon bei den Drittklässlern.
Keiner der älteren Schüler war zu sehen, es war ihnen wohl verboten zurück zu kommen. Mit erneut zitternden Knien steuerte sie auf die Gruppe ihrer Klassenkameraden zu, die schweigend auf den Sofas saß. Vor ihnen standen einige Platten mit Obst und Brötchen, was scheinbar ein provisorisches Frühstück sein sollte. Evelyn wollte nichts davon, außer einem Glas Wasser.
"Kommst du also auch schon", sagte Pansy wobei Evelyn sofort die Hand hob und ihr mahnend den Finger zeigte.
"Nicht heute, Pansy."
"Nervös, Evelyn? Du bist doch nicht etwa der Erbe? Hast du etwas zu verheimlichen?" Um der Frage von Blaise zu entgehen nahm sie einige zaghafte Schluck, die wenig für ihren trockenen Mund taten.
"Quatsch, dazu ist sie nicht begabt genug." Es war Draco, der mit seiner charmanten Art direkt auf den Punkt brachte, was viele unter ihnen dachten.
Nun hatte Blaise aber ihn im Visier. "Sei ehrlich, Draco? Bist du es? Wir waren schon immer beste Kumpel, das weißt du doch."
"Netter Versuch, Blaise, aber nein. Ich würde nie meine Zukunft und Karriere aufs Spiel setzen. Du beleidigst mit, dass du mich für so unverantwortlich hältst, Kumpel."
Blaise grinste und Evelyn dachte, dass er wohl der einzige war, der in so einer Situation gut gelaunt sein konnte. Sogar Vincent knetete nervös die Hände. "Aber du musst doch eine Vermutung haben."
"Nein, woher? Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es niemand von uns ist. Das letzte Mal, als jemand den Scherz gebracht hat, wurde der Verantwortliche ohne Ehre aus Hogwarts geworfen. Niemand mit rechtem Verstand würde dieses Risiko eingehen, vorausgesetzt, jemand hat die Kammer wirklich geöffnet."
Gregory runzelte irritiert die Stirn. "Du glaubst, es ist alles nur ein Trick?"
"Ich weiß es nicht. Es muss aber ein Hufflepuff oder Gryffindor sein. Wenn einer das Risiko eingeht, ob im Scherz oder nicht, dann jemand aus deren Häusern."
Um sie herum wurde die Debatte fortgesetzt, doch Evelyn versank erneut in ihren Gedanken. Ihr Mund war trotz Wasser völlig trocken und sie schluckte ständig, ohne Spucke zu haben, die sie hinunter bekommen könnte.
Mehrmals öffnete und schloss sich die Wand, bis außer der Hand voll Erstklässler nur noch Millicent, Daphne und sie selbst übrig waren. Snape hatte Draco zuerst aus ihrer Stufe rufen lassen, und darauf war der Blonde sogar stolz gewesen. Evelyn hingegen glaubte von Sekunde zu Sekunde immer mehr Stücke ihres Verstandes zu verlieren, bis der Vertrauensschüler schließlich ihren Namen aufrief.
Mechanisch lief sie im entgegen und konnte sich noch nicht einmal darüber wundern, dass ihre Knie nicht sofort nachgaben. Auch nicht, als sie vor Snapes Büro standen und man ihr die Tür öffnete. Sie spürte den Schlag ihres Herzen in ihrer Kehle, während sie Snape, der hinter seinem Schreibtisch auf sie wartete, entgegen ging. Zunächst registrierte sie das neue Möbelstück, ein einfacher Stuhl, gar nicht, sondern blieb wie sonst auch einfach vor ihm stehen.
"Setzen, Harris", sagte er, den Finger leicht erhoben und auf den Stuhl gerichtet.
Langsam versuchte sie ihre Atmung zu kontrollieren und konzentrierte sich auf den Schreibtisch, der weitestgehend leer war. Keine Stapel Pergament, keine Bücher, oder Tintenfässer. Nur ein einziges leeres Blatt vor ihm, mit Feder, und zwei leere Tassen. Voll Horror beobachtete sie, wie er eine dieser Tassen ihr entgegen schob.
"Tee oder Wasser?" Bei jedem anderen wäre das eine höfliche Frage, eine soziale Norm dem Gast etwas zu trinken anzubieten. Evelyn hatte die Abstände zwischen den einzelnen Schülern, die abgeholt wurden, gezählt. Im Schnitt dauerte eine Befragung etwa 1563 Sekunden, umgerechnet 26 Minuten. Lange genug, dass einem der Lehrer auch etwas zu trinken anbieten würde.
Ihr Blick ging von der Tasse weg hinauf ins Gesicht von Snape. Jeder Lehrer würde so handeln, außer Severus Snape. Solche Annehmlichkeiten kümmerten ihn nicht, außer er konnte sich einen Vorteil verschaffen.
Sie spürte, wie ihre kalten Hände in ihrem Schoß schwitzig wurden. In dem Getränk würde Veritaserum sein. Sie konnte nicht, sie durfte nicht aus dieser Tasse trinken und in diesem Moment schien ihr der Magen abzusacken, als sie sich ihrer Lage bewusst wurde.
"Scheitern Sie schon an der ersten Frage?", drängte Snape erneut und zwang Evelyn dadurch zu antworten.
"Ich möchte nichts, danke."
Halb verdeckt durch die langen Haare verengten sich Snapes Augenbrauen. Er war sichtlich ungehalten. "Ein Angebot abzulehnen ist äußerst unhöflich und - ich will meinen - respektlos."
"Dafür entschuldige ich mich."
"Ich insistiere."
"Und ich lehne ab." Sie hatte weitaus selbstsicherer geklungen, als sie sich fühlte. In Wahrheit schwirrten ihr die Worte im Kopf, sodass es ein Wunder war, dass ihre Sätze Sinn ergaben.
Snape wischte mit der Hand einen Kreis durch die Luft und ließ beide Tassen verschwinden. Seine Miene verriet, dass diese Befragung bereits denkbar schlecht und zu Evelyns Ungunsten verlief.
"Wären Sie so freundlich mir einen Grund für ihre Unhöflichkeit zu nennen, Miss Harris?"
"Ich habe keinen Durst."
"Miss Harris, ich habe 7 Stunden Befragung hinter mir, ersparen Sie mir ihre Lügen, solch schlechte noch dazu." Er lehnte sich vor und schüttelte langsam den Kopf. "Mir stellt sich nun die Frage, was Sie zu verbergen haben, wenn Sie annehmen, ich hätte etwas in das Getränk gemischt?"
"Haben Sie nicht?" Unwillkürlich schloss sie die Augen, der Ausbruch blieb aber aus.
"Antworten sie auf meine Frage!"
"Ein wenig misstrauisch, ja." Nur die Hälfte der Worte, die sie gedacht hatte, brachte sie heraus, doch es war genug um den Sinn zu verstehen. Schon beinahe beleidigt hob er einen Mundwinkel an.
"Glauben Sie ich vergifte Sie?"
"Nein, Sir." Nicht so offensichtlich.
"Was haben Sie also in dem Getränk vermutet."
"Veritaserum, Sir." Sie spürte, wie sie innerlich einbrach und hielt es für das beste auf ihren ersten Plan zurückzuweichen: Die Wahrheit sagen wo sie konnte.
Ob er überrascht war, dass sie den Trank kannte, zeigte er nicht. "Was ist es also, das ich nicht erfahren darf, und das sie so schlampig versuchen zu verheimlichen? Ihnen ist klar, was der Sinn dieser Befragung ist?"
Quälende Sekunden blieb sie still, in denen sie mit aller Kraft versuchte den Blick des Professor zu halten, und gleichzeitig eine schlüssige Erklärung für ihn zu finden. Alles, was sie sich zurechtgelegt hatte, war aus ihrem Kopf gefegt.
"Antworten Sie!"
Sie zuckte zusammen und brach den Kontakt, sodass sie nun nur noch die Kante seines Tisches sah.
"Ich habe nichts zu erzählen." Ein schwacher Versuch, der auch nicht erfolgreich war.
"Das reicht, ich habe genug gehört und in Anbetracht der Umstände geben Sie mir Grund zum Verdacht, dass Sie etwas über die Angriffe wissen." Zufrieden mit sich dehnte er die Worte, ehe er sich von seinem Platz erhob. "Ab hier ist es ein Fall für den Schulleiter, de -"
"Nein!", schoss es aus ihr heraus, ohne an die Konsequenzen zu denken Snape unterbrochen zu haben. Ihre Füße begannen unkontrollierbar zu zitiert, als sie erneut seinen Blick suchte, dort aber nur Härte sah. "Nicht Professor Dumbledore, bitte." Alles was sie tun konnte, war flehen.
Doch auch das, prallte an Snapes schwarzen Roben ab. "Warten Sie hier, bewegen Sie sich nicht von der Stelle. Freunden Sie sich aber schon mit dem Gedanken an schneller als erwartet nach Hause zu fahren." Unter Evelyns glasigem Blick lief er Richtung Tür.
"Stopp!", entgegen allen Anweisungen und Vernunft sprang sie auf und packte nach wenigen Schritten den Saum seines Ärmels. Die plötzliche Bewegung und die Berührung kamen auch für Snape unerwartet, und so zog er in der Drehung seinen Stab, den er nun unter Evelyns Kehle hob.
Noch nie hatte jemand mit derart offensichtlicher Wut seinen Zauberstab auf sie gerichtet; eine Waffe, wie ihr in diesem Moment mehr denn je bewusst wurde. Ein mehr als beängstigendes Gefühl. Wieder schluckte sie nicht vorhandene Spucke hinunter.
"Setzen Sie sich, Miss Harris." Evelyn nahm ihren Mut zusammen und blieb, die Spitzes des Holzes gegen ihre Kehle gedrückt, stehen.
"Ich kann Sie nicht Dumbledore holen lassen, Sir." Wie um sich zu ergeben hob sie beide Hände und präsentierte sie ihrem verärgerten und zunehmend verwirrten Professor. Sie bemühte sich nicht mehr in kindlicher Stimme zu reden. Ein Fakt, der Snape nicht entging.
"Finite", sagte er, doch nichts geschah. Überrascht neigte er den Kopf. "Sie haben eine Chance sich zu erklären."
"Sie würden mir nicht glauben."
"Das haben nicht Sie zu entscheiden."
Ihr Herz klopfte und sie glaubte, er müsste es durch die Vibration seines Stabes an ihrem Hals spüren. Sie wünschte, er würde ihn endlich senken, doch es sah nicht so aus, als würde Snape seine Stellung aufgeben.
Sie unternahm einen letzten Versuch der anstehenden Katastrophe zu entgehen. "Meine echten Eltern waren mächtige Propheten, Wahrsager. Ich habe ihr Talent geerbt und kenne die Zukunft."
Snapes Blick, der auf ihr geruht hatte, schweifte in den Raum ohne etwas zu fixieren, während er ohne Humor lachte. "Chance verspielt, Miss Harris." Seine Hand griff an den Henkel der Tür. "Sie kommen mit, wenn Sie hier nicht warten können."
Tränen standen in ihren Augen, die ihr Hauslehrer nicht beeindruckten. Etwas brach in ihr.
"Ich bin nicht ... ich bin nicht die, die Sie glauben." Jeder Buchstabe kostete sie Kraft um ihn auszusprechen.
"Sind Sie der Erbe Slytherins?"
"Nein, Sir. Das bin ich nicht."
"Wer sind Sie dann? Und überlegen Sie sich ihre nächsten Worte gut." Er musste sie nicht daran erinnern, dass noch immer eine Waffe auf sie gerichtet war, doch sie wünschte sie könnte sagen, dies wäre ihr größtes Problem.
"Mein Zuhause, ist nicht ...", sie fühlte sich verrückt für beides. Für die Worte, die sie sagen würde und dafür, dass sie sie aussprach. "Mein Zuhause ist nicht hier. Es ist nicht in dieser Welt. Das ist nicht meine Welt."
Sie merkte, wie sie hastig zu brabbeln begann wie ein Kind, doch nun hatte sie den Stein ins Rollen gebracht. Sie musste es beenden, bevor Snape es tat. "In meiner Welt existieren Sie nicht, keine Magie, kein Hogwarts. All das, ist eine Erfindung einer einzigen Frau. Ein Buch, eine Kindergeschichte."
"Sie spekulieren auf St Mungo, um Askaban zu entgehen. Klever, Harris, muss ich zugeben. Eine nette Geschichte, aber -"
"Es ist wahr!"
"- der Schulleiter wird sicherlich ebenfalls amüsiert sein. Man wird Sie an die Behörden -"
"Aufhören."
"- ausliefern, die sich Ihrer mit Freuden annehmen werden."
"Wenn Sie das tun, wird möglicherweise eine Welle ausgelöst, an deren Ende Voldemort alle tötet."
Die Erwähnung seines Namens hatte den gewünschten Effekt, dass Snape aufhörte stoisch seine Rede zu halten. Ein Klicken durchbrach die Sekunde vorherrschende Stille, doch bis Evelyn realisierte, dass Snape den Raum soeben magisch abgeschlossen hatte, hörte sie das Wort, das sie am meisten fürchtete.
"Legilimens!"
Sie schrie auf, hörte aber ihre eigene Stimme nicht mehr, als alles um sie herum weiß wurde. Als wäre sie unbeteiligte Zuschauerin flogen scheinbar willkürliche Erinnerungen an ihr vorbei. Von ihr als Kind um Garten, wie sie ihrem Großvater beim Akkordeon spielen zuhörte, wie sie Eulen malte schief und krumm, ein Weihnachten mit der Familie oder eine zufällige Schulstunde. Kinderlachen und weit entferntes Gemurmel dröhnte in ihren Ohren.
Welche Szenen sich vor ihr abspielten, oder was sie hörte, konnte sie nicht beeinflussen. Es wär, als würde jemand sich Diaszenen ihres Lebens herauspicken und diese ohne Reihenfolge abspielen.
Plötzlich stand sie in einem weißen Raum, niemand war zu sehen, auch nicht das Ende. In jede Richtung erstreckte sich das Licht in die unendliche Ewigkeit. Ohne Ziel lief sie drauf los und ihr Gefühl sagte ihr, dass sie gerade durch die Küche ging, vorbei am Esstisch und durch das Wohnzimmer. Sie sah nichts und doch war sie sich sicher in ihrem Haus zu sein. Etwas neben ihr erweckte ihre Aufmerksamkeit, und sie blieb stehen.
Das ist nicht dein Zuhause.
Vor ihr befand sich ein schmales Brett, scheinbar in der Luft schwebend, mit einer Reihe blanker Bücher; es waren sieben. Sie wusste, was das für Bücher waren, ohne lesen zu müssen, was nicht auf dem Rücken stand.
Wehr dich.
Sie sah, wir ihre Hand nach dem Buch ganz rechts griff.
Nein!
"Nein", sagte ihre Stimme, doch machtlos musste sie zusehen, wie die Hand, die nicht die ihre war, das Buch herauszog. Ein Hämmern erfüllte den Raum und Evelyns Geist wurde klarer.
Unbewusst krallte sich ihre Hand in den Arm, schnitt sich mit den Finger ins Fleisch bis sie blutete, doch der Schmerz war nicht genug, um die Verbindung zu lösen. Sie musste den Legilimens brechen, ehe es zu spät war, und noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, brüllte Evelyn einen Namen in den Raum.
"Lily!"
Das Licht verschwand, das Hämmern wurde leiser, und Evelyn fiel kraftlos vor Snapes Füßen zu Boden. Ihr Kopf schmerzte und übertünchte die Stiche in ihrem Arm. Sie wagte es nicht den Blick zu heben aus Angst, was sie vorfinden könnte.
Wieder ertönte das Klicken und Snape riss die Tür auf. "Raus", sagte er heiser, ohne sich zu bewegen.
Langsam kämpfte sich Evelyn auf die Beine, die sich unendlich schwach anfühlten. "Es tut mir leid ... ich wusste nicht, wie-"
"RAUS!"
Zwei Arme, die weitaus stärker waren, als sie selbst, griffen nach ihrer Schulter und zwangen sie das Büro zu verlassen. Hinter ihr schlug mit einem scharfen Luftzug die Tür zu, und Evelyn brach an Ort und Stelle zusammen, den Kopf in ihren zitternden Händen vergraben. Was habe ich getan?
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AN:
*drops dead* We did it. Das Ende von Part 3 *schmeißt Konfetti vom Boden aus* Dieses Kapitel existiert so nun schon seit einem Jahr und hat nur darauf gewartet endlich an die Reihe kommen zu dürfen. Ich habe Blut und Wasser beim Schreiben geschwitzt, weil ich so große Erwartungen an mich selber hatte. Ich hoffe, ich konnte dem allen ein bisschen gerecht werden.
Danke, dass ihr immer noch dabei seit. Dann, auf auf zu Part 4!