Das Haus am Goldsteintalbach (Ankunft)
Endlich waren wir vor dem Ferienhaus angekommen. Die alte Jägervilla hatte erst vor kurzem eine Renovierung erfahren. Das mehrstöckige Haus gestaltete sich als eine Komposition von geziegelten Giebeldächern. Hier und da blitze ein rotbrauner Ziegel auf, doch waren die meisten unter einer Schneedecke begraben. Die zwei größten Dächer besaßen jeweils einen gemauerten Schornstein, während der Hauptbau noch einen kleinen schwarzen Holzturm, ähnlich einer Kirchturmspitze, sein eigen nennen durfte. Die Haustür war von Vandalen mit einem verwischten roten Graffiti, welches vielleicht ein Pferd dargestellt hätte, beschmutzt. Was die Holztür mit eingelassen Gläsern entwürdigte. Die grünen Holzverschläge waren geöffnet: Aus den entblößten Fensterscheiben trat ein warmes Licht hervor.
*
Die Balken des Fachwerkhauses waren schwarz wie Ebenholz... Die Fassade weiß wie Schnee...
und das Graffiti rot wie Blut...
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Die Tür öffnete sich noch ehe Stephen, Tea und ich, die von Laternen gerahmte Treppenstufen betreten konnten.
"Seid ihr Pias Freunde? Tea und ihr Detektiv?" Fragte uns eine brünette, mittelgroße Frau. Etwas unsicher, wer denn nun von uns der Detektiv sei. Ein kleiner Seitenblick von Tea auf Stephen genügte um ihr die Unsicherheit zu nehmen.
Tina Wegerich war eine junge Frau von etwa 35 Jahren. Sie hatte braunes langes Haar und ebenso braune Augen. Die Wangen und der Kopf waren ein wenig rundlich, was ihrem hübschen Gesicht nur mehr Präsentationsfläche lieferte. Ihre Begrüßung war herzlich und provozierte aufkeimende Lachfalten in ihren Mundwinkeln.
"Wegen der Anfrage. Wir haben die Vorkommnisse fotografiert um sie zu dokumentieren. Sebastian sagte er bringt sie mit."
Noch ehe einer von uns antworten konnte, kam ein großer Mann auf die Lichtung getreten.
Tina Wegerich begrüßte ihn: "Ah, Sebastian, da bist du ja. Hast du an die Bilder gedacht?"
Sebastian Birkenhain, eine imposante, aber schmächtige Erscheinung von einem Mann, näherte sich uns mit zielstrebigen und schnellen Schritt. Sein kurzes blondes Haar und seine blaugrünen Augen machten ihn für viele Betrachter mehr als ansehnlich.
An Stephen vorbeilaufend, drückte er ihm ein Kuvert in die Hand. Viel Glück Herr Detektiv murmelnd verschwand er ins Haus.
"Entschuldigt, Sebastian ist das Schweigen im Walde. Zumindest Fremden gegenüber. Nehmt es ihm nicht allzu übel."
Kaum war Sebastian im Haus verschwunden, erreichten zwei weitere Herren die Lichtung. Ein schmächtiger, kleiner Mann mit rotem Haar. Der, wenn er Bart und grüne Kleidung getragen hätte, ein irischer Leprechaun gewesen sein könnte. Ihm voranschreitend, ein Athlet mit schwarzem, stoppeligen Haar, dunklem Teint und Dreitagebart.
"Tobias, Ben ihr seid zusammen her gekommen?"
Der tatkräftige Athlet, Tobias Dill, antwortete mit bestimmter Disziplin auf Tinas Frage: "Nur die letzten Meter. Habe Ben im Wald aufgegabelt. Keinen Orientierungssinn hat er." verwies er auf seinen Gefährten.
Der Gnom, Ben(jamin) Blaustern, rebellierte gegen die Veröffentlichung seiner Schwäche. Dabei färbten sich die von der Kälte schon roten Ohren, noch röter. Was ihm einen noch komischeren Anblick verlieh.
"Das sind Pias Freunde?" setzte Tobias bestimmt den neuen Kurs fest. "Wer von euch ist der...?" Ein Fingerzeig meinerseits erübrigte die Frage.
*
Im Haus machte sich ein verführerischer Duft von warmen Essen breit. Die Kochkunst von Tina Wegerich brachte nicht nur die ganze Gruppe an den Tisch, sondern auch näher zusammen. Während wir uns in der Kälte beschnuppert hatten, war das Verhältnis in der Wärme des Hauses ein freundschaftliches. Sodass sich ein angenehmes Gespräch entwickelte.
"Warum habt ihr euch alle hier eingefunden?" fragte Tea mit ihrer typischen Neugierde.
"Wegen unserer Musik-AG." antwortete Sebastian, ohne aufzusehen, mit leiser Stimme. Seine Zurückhaltung schmolz nur langsam, wie Schnee in der kalten Frühjahrssonne.
"Wir gehen sonst auf Konzerte oder spielen selbst." Krächzte Ben, ehe er einen weiteren Bissen des Hackbratens verschlang.
"Das hier ist unsere Entspannungs-Residenz.", ergänzte Tobias. Der sich einen kräftigen Schluck aus seinem Glas genehmigte.
"Obwohl wir nur fünf Mitglieder waren, konnten wir immer alles realisieren.", führte Tina aus.
"Wir hatten auch einen Club in unserer Oberstufe. Stephen und ich kennen uns daher. Musiziert haben wir auch. Wobei wir eher eine Detektei für die Probleme unserer Mitschüler gewesen sind. Zwei unserer Mitglieder sind leider nicht hier, sonst könnten wir Geschichten erzählen.", einem Gedankenimpuls folgend, sprach Tea eine folgenschwere Frage aus: "Könnte die Person mit dem weiten Mantel und langem Pferdeschwanz, die wir vorhin im Wald gesehen haben, eigentlich ihr fünftes Mitglied sein?"
Gläser fielen zu Boden - gingen zu Bruch. Der Wind blies Schneegestöber am Fenster vorbei, er rüttelte an den Läden, sodass man fürchtete das Haus würde zerreißen. Die Gesichter der vier Musik-AG-Freunde wurden kreideähnlich bis aschfahl.
"W...Ww..Wo, war das?" stammelte Tina mit panisch aufgerissen Augen. Die Farbe ihrer Iris, war kaum noch zu sehen, so erweitert hatten sich ihre Pupillen.
"Hatte sie wirklich einen Pferdeschwanz?!" fragte Sebastian mit bebender Stimme.
"Jja." Antwortete Tea, sichtlich verunsichert. Jede neue Schreckreaktion verursachte ihr selbst einen inneren Schrecken, der sie bereuen ließ, überhaupt etwas gesagt zu haben. Mein Magen fühlte sich auch schon unwohl.
Stephen aß als einziger weiter, gänzlich unbeeindruckt. Kaute und schnitt einen weiteren Bissen von seinem Hackbraten ab. Lauschte dem Wind und der aufkeimenden Panik, wie einem Violinenspiel.
Unsicher erläuterte Tea: "Ich bin mir nicht sicher ob es ein Mann oder eine Frau war. Es war eine menschliche Gestalt, gehüllt in einen weiten Mantel. Ein Basecap war in das Gesicht gezogen, ich konnte es nicht erkennen. Aber sie hatte auf jeden Fall einen Pferdeschwanz."
"Könnte es nicht doch...?" Tobias konnte seinen Gedanken nicht ausführen, weil ihm Ben panisch ein UNMÖGLICH entgegen brüllte. "Unmöglich, dass Sonja noch lebt." Kreischte der kleine Gnom wieder, nun wild gestikulierend. Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Lippen bebten vor Furcht.
"Das meinte ich doch gar nicht.", erwiderte Tobias beschwichtigend, sichtlich verwundert, über die Panikattacke seines Freundes. "Ich dachte an diesen Juwelenräuber, den von vor zehn Jahren".
Eine Gabel und ein Messer wurden zur Seite gelegt. Stephen faltete die Hände aneinander: "Könnten Sie mir mehr darüber erzählen?"
Sein Wesen hatte den Raum in Sekundenbruchteilen eingenommen.
Die Personen, welche vor Schreck aufgestanden waren, setzen sich - Sie wurden eingehend gemustert.
Die Personen, welche vor Schrecken in den Stühlen sitzen geblieben waren, wagten nicht zu sprechen - Sie wurden gemustert.
Ein höfliches Lächeln zog sich über Stephens Lippen, der bedeutsame Teil der Unterhaltung hat nun, für ihn, begonnen.
"Es interessiert mich brennend, seien Sie doch so gut."
"Es geschah vor zehn Jahren. Ein Mord. Hier, in einem anderen Ferienhaus. Das Opfer war eine junge Frau, welche mit ihrem Geliebten ein paar schöne Tage, weg von Frankfurt und der Börse, erleben wollte. Doch das Haus, hatte sich auch ein flüchtiger Juwelendieb ausgesucht. Als die Dame ihn erblickte, hatte er auch schon zugestochen. Die Polizei wurde gerufen und überall soll Blut gewesen sein. Im ganzen Raum verteilt. Immer und immer wieder stach er auf sein Opfer ein. Sein Mantel vom Blut getränkt, zog rote Spuren hinter sich her. Selbst sein Pferdeschwanz soll vom Blut seines Opfers durchzogen gewesen sein. Man nannte ihn seitdem..."
"Roter Pferdeschwanz." Unterbrach Stephen nickend die Ausführung von Tina. Sich an das erinnernd, was ihm entfallen war. "Er hatte eine Vorliebe für allerhand rote Juwelen und ließ bei seinen Raubzügen andersfarbige Edelsteine zurück.", korrigierte der junge Detektiv die Namensherkunft. Der auch wusste, dass der Rote Pferdeschwanz, wenn auch ein Mörder, nicht ganz so blutrünstig gewesen war, wie es Tina darstellte. Sie hatte sich in das, ihrer Meinung nach, übernatürliche Wesen des bitterbösen und mordlustigen, Roten Pferdeschwanzes hineingesteigert.
"Wurde der Rote Pferdeschwanz gefasst?", fragte Tea besorgt, die der Geschichte, des perfiden Killers, schon eher Glauben schenkte.
"Nein.", entgegnete Tina betrübt den Kopf schüttelnd. "Er flüchtete nach seiner Entdeckung in diesen Wald", dabei zeigte sie mit zittrigem Finger aus dem Fenster, "und wurde nie gefasst."
*
Sieben Menschen waren in dem Haus...
Auch das Plappermaul.
Sicher hatte sie ihn schon erwähnt.
War es Zorn?
War es Freude?
Sieben Menschen waren in dem Haus...
*
Tobias setzte an, die Geschichte fortzuführen: "Vor vier Jahren sind wir dann hier in dieses Ferienhaus gekommen. Unser fünftes Mitglied, Sonja, behauptete sie habe den Roten Pferdeschwanz gesehen. Gegen alle Vernunft, haben wir uns dazu entschieden, ihn im Wald aufzuspüren. Als wir den Mann suchten, verloren wir Sonja. Wir konnten sie nicht wieder finden. Weshalb wir die Polizei alarmierten, weil es immer dunkler wurde. Deren Suche war erfolgreich, drei Tage später. Halb im schlammigen Grund eines Tümpels begraben, hatte sie die Polizei gefunden. Ertrunken war sie. Es war mehr Zufall, dass sie entdeckt wurde. Jeder, auch die Polizei, dachte es sei eine weitere Tat des Roten Pferdeschwanzes gewesen. Sonja wurde scheinbar in Richtung der Tümpel gejagt. Sie versuchte über die gefrorene Wasserfläche zu entkommen, brach im Eis ein und ertrank jämmerlich.
*
Sieben Personen waren durch seinen Wald gegangen...
Zahlen sollten sie für ihre Tat.
Die drei, die runde Frau, der Ansehnliche, der Athlet und der Gnom.
Sieben Personen waren durch seinen Wald gegangen...
*
Ein düsteres Schweigen hatte das Esszimmer eingenommen. Niemand wagte zu sprechen. Tea schaute wie die meisten, betroffen zu Boden. Gnom Ben zitterte noch immer
wie Espenlaub. Stephen genoss die Ruhe, sein Fall nahm endlich Form an.
"Wollt ihr, dass Stephen den Roten Pferdeschwanz schnappt?" Wagte ich das Schweigen zu brechen.
"Bitte? Nein, das ist Aufgabe der Polizei." Entgegnete Tina resigniert. "Es geht um etwas anderes. Wir kommen seit vier Jahren jährlich zum Clubtreffen her. Im zweiten Jahr waren die Laternen aufgebrochen und mit roten Glühbirnen besetzt worden. Im dritten Jahr war ein Fenster eingebrochen, es lagen bestimmt zwanzig rote Steine im Raum verstreut. Und dieses Jahr das Graffiti an der Eingangstür."
"Jetzt auch noch der Rote Pferdeschwanz." murmelte Sebastian.
"Ich halte es für banale Streiche. Aber wir wollen doch gerne wissen, was hier vor sich geht." Tobias blickt mit verschränktem Armen zu Stephen. "Weshalb wir hoffen, du kannst Licht ins Dunkel bringen."
"Verstehe." Äußerte Stephen. Ein kleines Stimmchen sagte ihm gerade, dass Pia wenigstens ein Mal etwas Nützliches geleistet hatte. "Jetzt kenne ich wenigstens die Ausgangssituation. Wir werden das Mysterium um den Roten Pferdeschwanz lüften."
"Aber der Rote Pferdeschwanz ist Aufgabe der Polizei." Protestierte Tobias. "Du sollst unseren Streichspieler ausfindig machen."
"Verstehe." Nickte Stephen "Roter Pferdeschwanz." sagte er, ohne auf Tobias Einwände Rücksicht nehmend. Wie vom Blitz getroffen, verließ er das Haus in Richtung eisiger Kälte. Tea wollte ihn noch aufhalten, aber Stephen war nicht zu bremsen.
"Seltsamer Kerl. Nimmt er mich nicht für voll?" Fragte Tobias, ein wenig beleidigt, durch Stephens Reaktion.
Tea versuchte ihren Gefährten zu erklären: "Wenn er so darauf beharrt, dass alles in Beziehung zum Roten Pferdeschwanz steht, sollten wir ihn nicht daran hindern. Er hat schon ausreichend Erfahrungen und detektivischen Spürsinn bewiesen." Sich zum Fenster drehend und den starken Schneefall beobachtend, führte sie zu sich selbst sprechend fort: "Ich hoffe nur seine Spürnase holt sich keinen Schnupfen, er hat schon wieder vergessen eine Jacke anzuziehen...
*
Ben, dem noch immer der Schreck in den Gliedern steckte, zog sich auf sein Zimmer zurück. Tobias wollte in Rambach noch eine Notfall-Besorgung erledigen, weil sein geliebter Weichkäse sich nicht im Einkaufsbeutel wieder fand. Tina kümmerte sich derweil um den Abwasch und die Vorbereitungen für ein weiteres Festmahl. Der Rest von uns half beim sauber machen, Betten beziehen und was sonst noch anstand...