Wo ich bin, selbst der Weise zum Narren sich wandelt,
wo Verlust, da Gewinn, doch nur unsichtbar,
und egal, was man tut und wie man mich handelt;
bleib’ ich stets größte Freude und ärgste Gefahr.
Wie man mich auch sucht, bin ich doch nie da,
auch wer mich verflucht, ist mir noch nah.
Die ewige Leere beende ich immer;
auch wenn mancher denkt, ich wäre gar schlimmer.
Zeit zieht vorüber wie Wolken am Strand,
vor der Hitze, brennend, fliehend in Lust.
Viel zu hastig enteilt deinen Fingern der Sand;
jeder Augenblick Wonne und auch voll Verlust.
Bin ich ohne Ende, mein Anfang ist wild,
bin ich ohne Anfang, kein Ende gewillt.
Doch wenn aller Welt Streit und Donner nur grollt;
bin ich die Erlösung, jenem Ende gezollt.
Und so stell’ ich die Frage im Abendrot:
Bin ich die Liebe?
Oder bin ich der Tod?
„Hm“, brummte Emra Aanh im letzten Flackern der Kerzen nachdenklich und zwirbelte die Spitze seines frisch gestutzten Bartes.
Auf seinem Schoß lag ein schlanker, in reich verziertes, silbernes Tuchleinen eingeschlagener Foliant in der Sprache der Albellyll. Langsam sah er von ihm auf und sein Blick wanderte zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem unter einem Tintenfass mit Schreibfeder und den drei erlöschenden Kerzen ein zur Hälfte beschriebenes Pergament lag. Wie immer, wenn er in alten Schriften las, hatte der Mann sich Notizen gemacht, und starrte nun sinnierend auf die beiden zuletzt geschriebenen Wörter: Liebe und Tod.
Sein Blick schweifte weiter zum Fenster und hinaus in die vergehende Nacht, die sich mit jedem Vers des Gedichtes ein Stück mehr der hellen Morgenröte hatte geschlagen geben müssen. Ein wunderschönes Schauspiel, das er an anderen Tagen mit gebührender Ergriffenheit genoss. Heute jedoch klebten seine Gedanken an den Zeilen des Buches wie Teer. Die Dichtkunst der Albellyll war faszinierend, atemberaubend und einzigartig. Kein anderes Volk konnte so meisterlich mit dem, was gemeinhin Sprache genannt wurde, umgehen wie die feingeistigen Hochalben. Allein der Klang der gesprochenen Worte war bezaubernd, ja regelrecht betörend. Ganz anders als der monotone Klang menschlicher Rede, mehr ein melodiöses Singen. Hinzu kam die große Bedeutungstiefe, die ein Mensch in ihrer Gänze wohl nie erfassen konnte. Die Albellyll waren berühmt und zugleich berüchtigt für die Vielschichtigkeit und mehreren Deutungsebenen ihrer Werke. Selbst dem profansten Poёɱ wohnte noch eine erhabene Weisheit inne, die sich nur dem Würdigen erschloss.
Emra Aanh dünkte sich bisher als zu jenen Glücklichen gehörig, wenngleich seine laienhafte Übersetzung den Zeilen mit Sicherheit stets einen Großteil ihrer Ästhetik geraubt hatte. Dennoch war er immer überzeugt gewesen, den Kern erfassen und die versteckten Lehren ermessen zu können. Dieses Gedicht mit dem klangvollen Titel „Sílmarìn Ayath“, was am besten mit „Ewiges Rätsel“ zu übersetzen war, rüttelte jedoch gehörig an diesem Glauben und stellte eine schier unlösbare Herausforderung für ihn dar. Unzählige Male hatte er das Poёɱ bereits gelesen und doch wollte sich ihm des Rätsels Lösung nicht erschließen.
„Hm“, brummte er erneut und strich mit den Fingern der rechten Hand mehrfach über seinen Bart, der ebenso grau meliert und kräftig war wie sein Schopf.
Er konnte sich einfach nicht entscheiden, denn wie er es auch drehte und wendete, beide Antworten konvenierten mit jeder einzelnen Strophe. Es war zum Haare raufen! Was er wohl auch durchaus getan hätte, wäre nicht sein Barbier zur Stunde mit dem Schnitt derselben befasst. Ob es an seiner Übersetzung lag? Zwar bedurfte es zum Verständnis profaner Texte der Albellyll nur mittelmäßiger Kenntnisse ihrer Sprache, doch ihre Lyrik und Poesie war ungleich schwerer in die Sprache der Menschen zu übertragen. Oder lag es daran, dass er das Rätsel nicht richtig verstand? Vielleicht aber gab es die eine richtige Antwort auch gar nicht?
„Was meinst du, Torvik?“, fragte er unvermittelt in den Raum hinein und das monotone metallische Scherenklappern an seinem Hinterkopf verstummte.
„Verzeihung?“, sah der augenscheinlich noch recht müde Mann ihn fragend an. „Stimmt etwas nicht, mein Herr?“
„Nein, nein, Torvik“, winkte er ab und lächelte milde ob des verunsicherten Gesichtsausdruckes des hageren Mannes, der wie er mittleren Alters war und sein aschblondes Haar stets zu einem langen, gepflegten Zopf zusammengebunden hatte. „Du machst deine Arbeit wie immer sehr gut, mein Lieber.“
Erleichtert lächelte der Barbier, den Emra Aanh auf Grund seiner fortgeschrittenen Unfähigkeit, länger als bis zu drei Sandgläsern des neuen Tages zu schlafen, noch vor dem Morgengrauen zu empfangen pflegte, zurück und entspannte sich sichtbar. Die Frühe des Tages war dem hageren Mann im Gesicht abzulesen und wenn er sich unbeobachtet fühlte, gähnte er hinter vorgehaltener Hand herzhaft.
„Ich habe dich nur nach deiner Meinung zu diesem Gedicht gefragt“, überging er dies und fuhr ebenso milde fort. „Ich kann es lesen und darüber nachdenken, so oft und so viel ich will, es erschließt sich mir nicht. Und glaube mir, ich brüte seit Tagen und Nächten über diesem faszinierenden Text. Allein, ich komme zu keinem Ergebnis. Beide Lösungen erscheinen mir plausibel. Was denkst du, Torvik: Liebe oder Tod?“
Ausdruckslos sah der Barbier ihn an, dann hob er entschuldigend die Hände und zuckte mit den Schultern. „Verzeiht, mein Herr, ich …“
Mit einem Knall schwang die Kammertür auf und ein Kind stürmte herein. „Alva, Alva!“
Überschwänglich warf sich das kleine Mädchen in seinen Schoß und auf das aufgeschlagene Buch, was ihn um die Unversehrtheit seines schöngeistigen Schatzes bangen ließ. So fest wie sonst nur an ihre strohgefütterte Stoffpuppe mit dem schönen Namen Ennya schmiegte die Kleine sich an ihn.
„E… Elea, was … was machst du hier?“, brachte er stockend heraus, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt und der frühen Tageszeit besonnen hatte. „Kinder deines Alters gehören um solche Zeit noch ins Bett, Kleines.“
Die Kleine erhob sich und mit Erleichterung stellte er fest, dass sein kostbares Buch ihren Überfall unbeschadet überstanden hatte.
„Männer deines Alters aber auch, Alva“, antwortete das Mädchen kess und zwinkerte ihm zu, worauf Torvik hörbar die Luft anhielt.
„Na, na, na, junge Dame, solch lose Rede ziemt sich nicht“, mahnte Emra Aanh seine Sohnestochter mit strenger Stimme und das Kind schlug schuldbewusst die Augen nieder.
„Tut mir leid, Altvater. Es kommt bestimmt nicht wieder vor.“ Artig knickste das kleine Mädchen zu seinen Füßen und große Kulleraugen, die es ihm unmöglich machten, seine ernste Miene länger beizubehalten, blickten zu ihm auf. „Ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Ich möchte dir unbedingt etwas zeigen und … Oh, was ist das?“
Noch ehe er reagieren konnte, hatte die Kleine das Buch entdeckt und danach gegriffen. Mit neugierigen Blicken studierte sie die geschwungenen Zeichen auf dem Deckel und formte tonlose Laute mit ihren Lippen.
„Wer ist Lawédan Aryao Varetha‘n?“, brachte sie stockend über die Lippen und legte das Buch beinahe verächtlichen Blickes wieder weg. „Das ist ja ein doofer Name.“
„Nun, es ist ein Anagramm, Liebes“, schmunzelte Emra Aanh und strich über den Kragen seines reich bestickten, samtenen Morgenmantels. Dann zwinkerte er dem Kind zu und senkte verschwörerisch die Stimme. „Ich wette, sein richtiger Name gefällt dir besser.“
Augensterne groß wie Silberlinge schauten ihn erwartungsvoll an und er lachte tonlos in seinen Bart hinein.
„Altorey Ar…“, begann er mit tragender Stimme, da fiel das Mädchen ihm aufgeregt ins Wort. „Arwéd Avana’h! Der Altorey Arwéd Avana’h? Der letzte Hohekönig der Albellyll?“
Erstaunt zog der korpulente Mann die Augenbrauen hoch. Wissen wie dieses war nicht für Kinder bestimmt. Genauso wenig wie Kenntnisse der altvorderen Schriftzeichen.
„Woher kennst du diesen Namen?“, fragte er.
„Ach, Alva“, lachte das Kind, ohne den besorgten Klang seiner Stimme zu bemerken, „du weißt doch: Ich lieeebe die Hochalben! Ihre Musik, ihren Gesang, ihre Bilder, ihre Kleidung, ihre Worte.“
Der Mann seufzte. So gern er die kindliche Wissbegierde des Mädchens schätzte und förderte, Neugier wie diese konnte schnell schmerzliche Folgen haben. Interesse an den Alten Völkern wurde nicht gern gesehen und das Studium gewisser Bücher, zu denen es offensichtlich Zugang gehabt hatte, stand gar unter Strafe. Er musste dringend mit der Mutter der Kleinen reden.
„Ich habe mir ihre Schriftzeichen selbst beigebracht. Gut nicht?“, grinste das Kind stolz und Emra Aanh vernahm deutlich das schockierte Atemgeräusch des Barbiers, dem offenbar vor Schreck die Schere aus der Hand gerutscht war.
„Nein, ganz und gar nicht gut“, antwortete er ruhig. „Elea Eluanda, ich habe dir schon einmal gesagt, dass du dich und deine Mutter in große Schwierigkeiten bringst, wenn du dein süßes, neugieriges Stupsnäschen weiterhin in Dinge steckst, die selbst Erwachsenen verboten sind.“
Insbesondere, wenn die Kleine es dann noch so unumwunden in die Welt hinausposaunte, dass ein jeder es hören musste, ob er nun wollte oder nicht. Es gab fürwahr hinreichend Personen, die seiner Sohnesfrau und ihrer Tochter wenig wohlgesinnt waren. Allein, dass das Mädchen vermessener Weise den yrdischen Namen der Hohen Mutter trug, war einigen Grund genug. Gelangten solch unbedachte Worte an die falschen Ohren, konnte dies für Elea und ihre Mutter ernsthafte Konsequenzen, vor denen er sie zu beschützen sich trotz seiner hohen Position außerstande sah, haben. Möglicherweise gar für ihn selbst. Doch das behielt er lieber für sich, denn offenbar war seine Ansprache auch so streng genug, dass dem Kind das Lachen schlagartig verging und ihre Mundwinkel zuckten.
„Elea“, seufzte er milde und breitete seine Arme weit aus, um das Mädchen darin aufzunehmen, „du bist meines Sohnes Tochter, Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blute. Ich liebe dich über alles, Kleines. Bitte bereite einem alten Mann wie mir nicht solchen Kummer und nimm Rücksicht auf mein ohnehin schon bleichendes Haupthaar.“
Ein schelmisches Schmunzeln und ein kurzes Augenzwinkern seinerseits, schon ertönte aus seinem Schoß wieder leises Kichern. Dann schnellte das kindliche Gesicht hoch und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Nase.
„Verzeih, liebster Altvater, ich wollte dich nicht sorgen. Ich weiß, deine Pflichten sind anstrengend genug. Sag, musst du heute wieder zu einer dieser furchtbar langen Sitzungen? Können die Ältesten nicht einmal ohne dich tagen? Du siehst danach immer so schrecklich müde und ...“
„Nein, Liebes, das geht leider nicht. Und ja, ich werde heute wieder einige Sandgläser im Ratssaal verbringen.“ Seufzend murmelte er ahnungsvoll in seinen Bart: „Sehr lange Sandgläser …“, bevor er sich des Mädchens besann und sie von seinem Schoß scheuchte. „Jetzt aber schnell zurück zu deiner Mutter. Die Ärmste erschreckt sich sonst noch zu Tode, wenn sie erwacht und dein Bett verwaist findet.“
„Ja, Alva. Darf ich dich wieder besuchen kommen?“
„Du bist jederzeit willkommen, Liebes. Solange die Sonne schon oder noch ein gutes Stück am Himmel steht“, antwortete er augenzwinkernd und genoss die herzliche Umarmung zum Abschied. „Jetzt aber los, mein Augenstern.“
„Hab dich lieb! Bis bald“, flüsterte das Mädchen ihm noch so laut, wie Kinder seines Alters eben flüstern, ins Ohr. „Aber sag, wenn Torvik schon einmal hier ist, kann er dir nicht ein wenig Jugend und Farbe ins Haar zaubern?“
Ein herzhaftes, brummiges Lachen ließ Emra Aanhs Augenwinkel tränen und im Scherz hob er drohend die Hand. „Na warte, du Lauserin, dir werde ich helfen!“
Ein manierlicher Knicks, wie er privilegierten kleinen Mädchen von ihren Ammen und Hauslehrerinnen beigebracht wird, dann huschte das Kind wie ein schillernder Schemen zur Tür seines Privatgemaches hinaus, während er sich die Augenwinkel trocknete.
„Ach, Torvik, was soll nur aus dem Mädchen werden?“, fragte er noch immer leise lachend in den Raum, doch sein Barbier vermied eine Antwort und nahm stattdessen seine Arbeit wieder auf.
Für einen Moment erlaubte Emra Aanh sich die Erinnerung an seinen Sohn und seufzte. Die Kleine war nicht nur das weibliche Ebenbild ihres Vaters, sie hatte dieselbe aufrichtige und treuherzige Art, den gleichen Schelm im Nacken und war dazu mit ebenso hervorragenden Geistesgaben gesegnet. Doch leider nannte sie auch einen nicht minder unbelehrbaren Eigensinn, denselben unstillbaren Wissendurst und die gleiche unheilvolle Vorliebe für die Zeit der Altvorderen, die seinem Sohn zum Verhängnis geworden waren, ihr Eigen. Die Geschichte drohte, sich zu wiederholen. Sobald der Pflicht Genüge getan war und er sein Tagwerk vollbracht hatte, dünkte ihm ein Gespräch mit seiner Sohnesfrau daher unerlässlich.
Unverhofft wurde die Kammertür erneut aufgestoßen und noch im selben Augenblick spürte der sinnierende Mann ein stechendes Brennen an der linken Wange.
„Ich bitte untertänig um Verzeihung, Ehrenwerter Aanh“, stammelte der erschrockene Barbier und tupfte ihm mit zitternden Fingern das Blut vom Gesicht. „Es tut mir unsäglich leid. Welch unverzeihlicher Fehler. Ich, ich …“
„Schon gut, Torvik, ich habe mich auch erschrocken“, antwortete Emra Aanh und bedeutete dem verängstigten Mann mit einer beschwichtigenden Handbewegung, dass er ihm nicht zürnte. Dann räusperte er sich betont laut und wandte sich mit gestrenger Stimme an den jungen Mann in Botenkleidung, der so unmanierlich sein Gemach betreten hatte.
„Klopft denn heutzutage niemand mehr an?“
„Verzeiht, Ehrenwerter Ratsvorsitzender! Ich war der Annahme, Ihr hättet mein Pochen vernommen. Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, antwortete der Sendbote hörbar beschämt und verbeugte sich tief, während sein Gesicht im Bruchteil eines Augenblicks eine äußerst lebendige Farbe annahm. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Das hoffe ich“, brummte Emra Aanh. „Noch so ein Überfall und ich fürchte, ich muss mir einen neuen Barbier suchen. Was ich äußerst bedauerlich fände.“
Augenzwinkernd blickte er zu Torvik, der jedoch wie üblich stoisch seinem Handwerk nachging und dem Gespräch der Herrschaft keine offenkundige Beachtung schenkte.
„Nun denn, Jooris, was führt Euch zu mir?“
„Hauptmann Krandt schickt mich“, antwortete der junge Mann. „Ich bringe Nachricht von der Burgwache.“
Mit einem Schlag war der Ratsvorsitzende ganz Ohr und sah den Sendboten erwartungsvoll an.
„Und?“
„Nichts, Ehrenwerter Aanh. Sie haben die ganze Nacht hindurch gesucht, doch keiner der Männer hat ihn gefunden.“
Verdrossen brummte er in seinen Bart hinein, verkniff sich aber, seiner Enttäuschung über diese Nachricht allzu offenkundig Ausdruck zu verleihen. Es wäre auch zu schön gewesen.
„Wurde auch in der obersten Etage des Westflügels nachgesehen und der Zweite General aufgesucht?“
„Ich … weiß nicht, Herr“, antwortete der junge Bote verunsichert. „Hauptmann Krandt hat dies nicht explizit erwähnt. Allerdings gehe ich davon aus, dass … Also, ich meine … Ich …“
Resigniert schüttelte Emra Aanh den Kopf. Gut, gemeinhin vergaß oder übersah man manches Mal gerne das Offensichtliche. Doch dass die Burgwachen anscheinend weder in der Kammer des wie eh und je vor dem Ältestenrat und seinen Pflichten flüchtenden Dritten Generals noch bei dessen Konfident nach ihm gesucht hatten, das grenzte fast schon an Torheit.
„Wenn Ihr es wünscht, wird dies umgehend veranlasst.“
Als wäre dies sein eigenes Versäumnis gewesen, waren die Wangen des jungen Mannes erneut rot angelaufen und er hielt den Blick gesenkt, während Emra Aanh geräuschvoll ausatmete und für einen kurzen Moment in Erwägung zog, selbst nach dem Rechten zu sehen.
„Ja, ich wünsche es“, erhob der Ratsvorsitzende sich nach einer Weile aus seinem Lehnstuhl und begutachtete sein frisch frisiertes Antlitz in dem kleinen Handglas, welches Torvik ihm reichte. „Sehr gute Arbeit, Torvik. Ich bin wie immer hochzufrieden.“
Ergeben verbeugte sein Barbier sich, packte Schere und Messer in einen kleinen Lederbeutel und fegte mit einem breiten Pinsel gewissenhaft sämtliche Haare von seinem Morgenmantel, während er sich wieder dem Boten zuwandte.
„Richtet Hauptmann Krandt aus, die Suche möge so lange fortgesetzt werden, bis er des Dritten Generales habhaft ist. Zuvor jedoch begebt Euch zur Ratsbotin. Sie möge die Neun Weisen umgehend unterrichten, dass die Sitzung des Ältestenrates wie geplant stattfindet. Ob nun mit dem Heermeister oder ohne ihn. Das war dann alles, Jooris. Danke.“
Mit einer kerzengeraden, tiefen Verbeugung verabschiedete der junge Mann sich und eilte zur Kammertür hinaus. Ein Räuspern ertönte und als Emra Aanh sich dem Barbier zuwandte, hatte dieser bereits die am Boden liegenden Haarbüschel in einen zweiten Lederbeutel gekehrt und verbeugte sich zum Abschied ein weiteres Mal.
„Stets zu Euren Diensten, Ehrenwerter Aanh. Schickt nach mir, wann immer Ihr meiner benötigt, Herr.“
„Meine Empfehlung an die Frau Gemahlin und die drei Kinder, Torvik.“
Die Augen des einfachen Mannes leuchteten dankbar ob des Silberlings, den er ihm zusätzlich zu seinem üblichen Lohn in die Hand drückte. Dann entließ er ihn aus seinen Diensten und blieb allein zurück in der Stille, vor der er des nächstens so oft floh. Ein letzter wehmütiger Blick auf das kostbare Buch, das im nun einbrechenden Licht des jungen Morgens zauberhaft silbrig funkelte, dann schlug er ein schwarzes Samttuch darüber, schloss es in einer Schublade seines wuchtigen Arbeitstisches ein und wandte seine Aufmerksamkeit der Pflicht zu.
Es war an der Zeit, seine Gedanken zu sortieren und sich vorzubereiten. Die anstehende Sitzung würde aufreibend werden und zu kontroversen Diskussionen führen, ganz gleich ob sie nun mit dem Gesuchten oder ohne ihn stattfand. Tief und lang zog Emra Aanh die Luft ein und seufzte, nun da er allein war und keiner Seele Augen und Ohren zu fürchten brauchte. Er hatte bis zuletzt im Stillen gehofft, dass die Zeit des Krieges irgendetwas am Verhalten des dritten Heerführers änderte. Doch augenscheinlich machte dieser eben da und genau so weiter, wo und wie er vor drei Wintern aufgehört hatte. Erneut seufzte er, doch dann konnte er sich eines leisen, brummigen Lachens nicht erwehren. Der bleiche Mann mit der Statur eines Jünglings und dem Zorn eines Dämons machte es ihm wahrlich nicht leicht, ihn ohne große Bedrängnis durch die stürmischen Wogen und Untiefen einer Ratssitzung zu geleiten. Und er wusste noch nicht einmal zu sagen, weshalb ihm das überhaupt ein Anliegen war. Dennoch würde er wie immer sein Bestes geben, soweit es seine Objektivität und Neutralität gestatteten. Blieb nur zu hoffen, dass irgendeine glückliche Fügung Yo Valkja doch noch zu ihm führte.
Gut ein dreiviertel Sandglas später durchmaß Emra Aanh in voller Amtstracht gemächlichen Schrittes die Gänge des Südflügels der Serçeburg. Die meisten seiner Ratsbrüder hatten sich einen Quergang von seinem Privatgemach entfernt zusammengefunden und folgten ihm nun in belanglose Gespräche verstrickt nach.
„Sagt, ehrenwerter Vorsitzender, ist denn mit dem Erscheinen General Valkjas zu rechnen? Wie mir zu Ohren kam, sollen die Bemühungen der Burgwache, seiner habhaft zu werden, nicht unbedingt von Erfolg gekrönt gewesen sein“, ertönte eine fistelige Stimme aus der uniformen Menge schwarzgrauer Talare.
„Nun, ich bin frohen Mutes, dass dem Protokoll genüge getan wird, verehrter Graf Pokinoi“, entgegnete er lächelnd und ignorierte den versteckten scharfen Beiklang.
„Ihr mit Eurem unverbesserlichen Optimismus, Aanh. Wir alle wissen, dass dieser Emporkömmling sich der Anhörung entziehen wird. Ihr solltet Manns genug sein, dies zu bekennen und uns nicht bis zum letzten Moment in trügerischer Hoffnung zu wiegen.“
„Nun, ich“, begann er beschwichtigend, da ertönten plötzlich überraschte Rufe aus dem Gang, den sie gekommen waren, und alle Weisen wandten mit einem Schlag den Kopf.
Mit Erstaunen verfolgte auch der Ehrenwerte Aanh, wie eine Gestalt mit gesenktem Haupt den Gang entlang gejagt kam, als wäre eine Hundertschaft Mônios hinter ihr her, und dabei achtlos das Dienstvolk anrempelte. Innerhalb weniger Wimpernschläge hatte die offensichtlich männliche Person die Ältesten erreicht und schoss haarscharf an ihnen vorbei. Mit dem linken Fuß stolperte sie dabei über den hölzernen Gehstock des Freiherrn Kharus, riss diesen unsanft zu Boden und geriet selbst ins Straucheln. Just in dem Moment, da der Gehetzte sich nach zwei, drei Schritten wieder gefangen hatte, erkannte der Ratsvorsitzende mit freudiger Überraschung den Anführer des Roten Mondes.
„General Valkja!“, nannte er den Heerführer laut beim Namen, bevor dieser seinen wilden Spurt wiederaufnehmen konnte.
Bereits beim ersten Ton seiner Stimme zuckte der Angesprochene wie von einem Schlag getroffen zusammen und hielt wie erhofft inne.
„Wie schön, dass Ihr wohlauf seid. Wir waren schon in Sorge, Euch sei etwas zugestoßen“, fuhr der Ehrenwerte Aanh fort, während zwei der Weisen mit aller gebotenen Vorsicht dem betagten Gestürzten wieder auf die Beine halfen und die übrigen in argwöhnisches Flüstern verfielen.
Mit offenbar angehaltenem Atem drehte der Heerführer sich langsam um und für einen winzigen Moment war dem Ratssprecher, als wären die Pupillen seines Gegenübers nicht rund, sondern katzenhaft oval. Sowie der Blick des Mannes den seinen traf, war dieser Eindruck jedoch verflogen. Noch im selben Wimpernschlag entglitten dem Dritten General die Gesichtszüge und seine ob der Hatz ungewohnt erglühten Wangen wurden bleicher als das Leinengewand eines Toten. Die eigenwillige, doch für gewöhnlich gepflegte Frisur des Heermeisters war zerzaust und seine wie üblich ungebührliche Kleidung völlig derangiert. Außer einer schwarzen Hose und einem nur halb geschnürten, schief sitzenden weißen Hemd, welches die Brust nur notdürftig bedeckte und seltsame Flecken aufwies, trug der blasse Mann nichts am Leibe. Zudem vermittelten die geweiteten und völlig ausdruckslos durch ihn hindurch starrenden Pupillen des Heerführers den Anschein, als hätte er ihn soeben aus irgendeinem bizarren rauschvermittelten Wahn gerissen. Leise seufzte der Ehrenwerte Aanh. Warum nur musste Yo Valkja immer aus der Reihe tanzen?
„Was hat Euch denn aufgehalten?“, wollte Freiherr Kharus mit brechender, hoher Stimme wissen, als er schwer auf seinen Gehstock gestützt wieder stand, sein Béret aufs kahle Haupt gesetzt und sich den Talar zurechtgerückt hatte. „Ihr hattet es gestern Abend ja äußerst eilig und, wie es scheint, wichtigere Dinge zu tun, als Eurer Pflicht nachzukommen. Man sollte meinen, nach Befriedigung Eurer Fleischeslust seiet Ihr wenigstens imstande, in angemessener Aufmachung vor dem Rat zu erscheinen.“
„Meine Brüder, ich schlage vor, wir begeben uns in den Saal und besprechen alles Weitere dort“, hakte der Ehrenwerte Aanh ein, bevor ein weiterer Weiser sich zu Wort melden oder der Getadelte auf den pikanten Vorwurf reagieren konnte.
Mit einer energischen Handbewegung wies er gen Ratssaal und versuchte, die sich anbahnende Auseinandersetzung noch etwas hinauszuzögern. Unter leisem, zustimmendem Raunen nahmen die Mitglieder des Rates den Gestürzten in ihre Mitte und setzten sich langsam in Bewegung. Mit einer weiteren einladenden Geste bedeutete der Vorsitzende dem Heermeister, den Ältesten zu folgen.
„Nach Euch, General!“
Doch dieser reagierte nicht. Ausdruckslos und ohne jede Regung starrte er den säulengesäumten Gang zum Ratssaal entlang. Skeptisch hob der Ehrenwerte Aanh die rechte Augenbraue und zwirbelte seinen Bart. Der bleiche Mann schien auf seiner Flucht vor den Burgwachen die Sprache verloren zu haben und zudem geistig angeschlagen zu sein. Seit ihrem Zusammentreffen hatte er nicht ein einziges Mal geblinzelt und dass er atmete, war auch eher zu erahnen, denn zu sehen. Für einen Augenblick spielte der Sprecher des Rates mit dem Gedanken, Yo Valkja anstatt vor den Rat der Alten zu einem Heilkundigen, der sich auf Störungen des Seelenlebens verstand, zu geleiten. Irgendetwas musste den sonst so selbstsicheren Anführer des Roten Mondes gehörig aus der Bahn geworfen haben. Doch obgleich ihn durchaus eine gewisse Neugier befiel, so konnte er im Moment keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Heerführers nehmen. Vielmehr galt es, die Gunst des seltenen Augenblickes zu nutzen.
Von dem ausbleibenden Widerspruch ermutigt, fasste der Ehrenwerte Aanh sich ein Herz, legte seinem Gegenüber eine Hand auf das Schulterblatt und nötigte ihn mit leichtem Druck den Gang entlang bis in die große Halle.
„Zeit, aufzuwachen, General“, raunte er dem Heermeister noch unauffällig zu, dann stieg er die Stufen hinauf zur mit Stuck und Alabaster reichverzierten niederen Empore, auf der seine inzwischen vollzähligen Ratsbrüder bereits ihre Plätze einnahmen.
Im Augenwinkel sah er Yo Valkja, der augenscheinlich allmählich gewahrte, wo er sich befand, mit unwilligem Fuß langsam auf das kleine Podest unterhalb der Galerie zugehen, während er selbst die erste Reihe derselben entlang schritt, bis er die mittig aus der Brüstung hervorstehende Kanzel erreichte. Als auch der letzte der Ältesten saß, bedeutete er den Pagen mit einer Handbewegung, die Saaltür zu schließen und eröffnete die Ratssitzung.
„Meine lieben Brüder, ich begrüße alle Neun Weisen zur dritten Versammlung in diesen glücklichen Tagen der Heimkehr unserer siegreichen Krieger. Möge die Berichterstattung des Roten Mondes unseren Zungen ebenso viele Worte der Ehrung entlocken wie die der beiden anderen Heere.“
Sein prüfender Blick weilte dabei bewusst auf dem händelsüchtigen Vierergespann um den Grafen Pokinoi und den Baron zu Feuerborn und Liebstein, die mit ihrem intensiven Kreuzverhör bereits die Anhörung des Zweiten Generals gehörig in die Länge gezogen hatten. Mit einem angedeuteten Nicken suchte er die Zustimmung der beiden Adeligen einzuholen, doch diese ignorierten seine Geste, rümpften stattdessen die Nasen und wandten ihre Blicke auf den Heerführer. Na, das konnte ja heiter werden.
Mit einem tiefen Atemzug, den die anderen ob seiner korpulenten Gestalt glücklicherweise nicht wahrnahmen, wandte der Ratssprecher sich dem Anführer des Roten Mondes zu, der inzwischen auf dem Podest in der Mitte des zentralen Bodenelementes, einer großen stilisierten Rosette mit Strahlenkranz, angelangt war. Mutterseelenallein und verloren wirkte Yo Valkja in der großen Freifläche des Ratssaales und für einen Wimpernschlag bedauerte der Ehrenwerte Aanh seine kommenden Worte, die zu seinem Leidwesen inzwischen fester Bestandteil einer jeden Anhörung dieses Kriegers geworden waren. Allein, wie immer zwang ihn die Aufmachung des Heerführers dazu.
„General Valkja! Ich freue mich, dass Ihr doch noch den Weg zu uns gefunden habt“, sprach er den Mann freundlich, doch nicht ohne unterschwelligen Tadel in der Stimme an. „Ich muss mich jedoch sehr wundern, in welch ungebührlicher Garderobe Ihr es wagt, vor den Rat zu treten. Wie oft müssen wir Euch noch daran erinnern, dass Ihr wie alle anderen das Protokoll zu befolgen und in der vorgeschriebenen Kleidung zu erscheinen habt?“
Ein betretenes Zucken mit den Schultern begleitet von einem mürrischen Schnaufen war die Antwort des Zurechtgewiesenen. Erneut legte der Ehrenwerte Aanh die Stirn in Falten. Er hatte mit deutlich größerem Widerspruch gerechnet. Doch der Heerführer beließ es dabei und wich seinem prüfenden Blick seltsam scheu aus.
„Welch dreiste Provokation! Hebt man so zu einer Anhörung an?“, herrschte Graf Pokinoi den Anführer des Roten Mondes an und schnaufte beinahe ebenso abfällig. „Meine Brüder, ich denke, wir sind uns alle einig, dass General Valkja mit dem Protokoll bestens vertraut ist und es keine Entschuldigung für seinen vermessen liederlichen Aufzug gibt. Ich fordere daher endlich Konsequenzen für seine andauernde Missachtung der Tradition!“
Stillschweigend nickten die Einen, während die Anderen dem Baron murmelnd beipflichteten. Der Ehrenwerte Aanh jedoch gebot der Aufregung Einhalt, noch ehe sie recht entflammt war.
„Myu, wenn Ihr bitte General Valkjas Gewänder holen und so schnell wie möglich herbringen könntet“, wandte er sich mit fester Stimme an die Botin des Rates, die bei der Nennung ihres Namens aus den Schatten des Hintergrundes trat und sich verbeugte.
Unsicher blickte die junge Frau zu dem ranghohen Krieger hinunter und zögerte. Offenbar wirkte ihr gestriges Zusammentreffen im Burghof, von dem sie zwei sichtbare Schrammen auf der Wange und an der Augenbraue davongetragen hatte, noch nach.
„Das war kein Ersuchen“, rief er die zaudernde Botin zur Ordnung und wies ihr den Weg. „Des Weiteren soll sich Vizegeneral Kívíako umgehend hier einfinden. Also eilt Euch!“
„Jawohl, Exzellenz“, verbeugte sich die junge Frau mit einem tiefen Knicks, stieg dann flink die Stufen von der Empore hinab und eilte in einem weiten Bogen um den Anführer des Roten Mondes herum zur Saaltür, ohne sich noch einmal umzusehen.
Als sie gerade die Pforte durchschritt, rief der Ehrenwerte Aanh ihr hinterher: „Sollte Euch der Zutritt zur Kammer verwehrt sein, lasst sie von einer der Burgwachen öffnen!“
Jählings löste der Dritte General sich aus seiner Lethargie und protestierte: „Verflucht noch eins, das …“
„Da das geklärt ist“, schnitt der Wortführer der Weisen dem bleichen Mann harsch das Wort ab und kam auf ein Thema zu sprechen, von dem er wusste, dass es alle Anwesenden brennend interessierte. Ihn eingeschlossen. „Dürften wir nun erfahren, wo Ihr gestern Abend gewesen seid, General Valkja? Ihr hattet eindeutige Order, Euch nach Eurer Ankunft umgehend zum Rat zu begeben.“
Augenblicklich blieben dem silberhaarigen Mann die Verwünschungen im Halse stecken und er senkte den Blick. Erneut fuhr der Ehrenwerte Aanh sich durch den Bart und wunderte sich. War da eben ein Hauch von Scham über die bleichen Wangen gehuscht? Der dritte Heermeister benahm sich heute wirklich merkwürdig. Die Körperhaltung des Kriegers ließ jede gewohnte Spannung missen und doch meinte er, eine immense Erregung in dessen Geiste zu erahnen. Mit jedem verstreichenden Wimpernschlag schienen die Gedanken des Generals abzudriften und der nun auf die Brüstung der niederen Empore gerichtete Blick in weite Ferne zu rücken. Wo hatten die Burgwachen Yo Valkja bloß aufgestöbert?
Das Wispern seiner ungeduldigen Ratsbrüder, die ohne Zweifel eine überzeugende Antwort oder noch besser eine demütige Entschuldigung erwarteten, wurde dagegen stetig lauter. Aus den Augenwinkeln sah er Baron zu Feuerborn und Liebstein, Freiherr Kharus, Graf Pokinoi und Herzog Piivii die Köpfe zusammenstecken.
„Wir warten, Heermeister!“, durchbrach er daher fordernd die unheimliche Ruhe und hoffte, diesen durch seine kräftige, dunkle Stimme, die in den Zwischentönen bedrohlich vibrierte, wieder zu Sinnen zu bringen.
An Antwort statt blickte der silberhaarige Mann genervt und mit unverhohlenem Missmut zur Empore herauf, steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte erneut nur lapidar mit den Schultern.
Prompt stieß Freiherr Kharus, mit seinen achtzig Lenzen der Zweitälteste des Gremiums, seinen Gehstock hörbar auf den Boden auf und rief: „So eine unverfrorene Insolenz! Wie könnt Ihr es wagen, dem Rat zu spotten?“
„Nicht nur, dass Ihr Euren Befehlen nicht nachkommt und Euch Euren Pflichten entzieht“, sprang ihm der um einiges jüngere Herzog Piivii unterstützend zur Seite, als die Stimme des Alten ob seiner Empörung kippte, „Ihr führt den Rat auch noch an der Nase herum. Lasst uns wie ein Flegel durch die Gänge der Burg hinter Euch herjagen, spielt gar Verstecken! Euer Benehmen ist das eines törichten Bengels, Eure Erscheinung die eines abominablen Streichers! Und Ihr habt nicht einmal den Anstand, wenigstens angemessen Abbitte für Eure Verfehlungen zu leisten?“
Abwartend ließ der Ratssprecher seine erbosten Ratsbrüder gewähren und verfolgte jede Regung des Dritten Generals, der diese harten Worte durchaus verdient hatte. Deutlich konnte er Irritation und Unverständnis in den dunklen Augen des Kriegers lesen. Wie ihm schien, wusste der Gescholtene nicht, wovon der aufgebrachte Herzog sprach. Die Verwirrung des Heermeisters schien ihm echt, nicht gespielt zu sein, doch plötzlich verzog ein anzügliches Grinsen dessen Mundwinkel. Der Ehrenwerte Aanh spürte enttäuschte Wut in sich aufwallen.
„General Valkja! Dürfte ich wohl um ein angemesseneres Verhalten bitten? Dies ist nicht lustig, sondern in höchstem Maße beschämend und unwürdig für einen Mann Eures Ranges!“
Zornig hallte seine voluminöse Stimme von allen Seitenwänden des Saales wider und der Anführer des Roten Mondes zuckte zusammen.
„Habt Ihr auch nur die leiseste Ahnung, welchen Aufruhr Eure gestrige Flucht vor den Weisen gestiftet hat? Die ganze Nacht hindurch haben die Burgwachen die Feste nach Euch durchkämmt und jeden Stein zuoberst gedreht. Selbst die Nachtruhe Eures Konfidenten wurde gestört, in der Hoffnung, Euch dort anzutreffen. “
Abermals reagierte der sonst kaum zu beeindruckende Heermeister völlig untypisch, erstarrte bei seinen letzten Worten gar, und wieder meinte der Vorsitzende einen zwar flüchtigen, doch heftigen Schrecken über die blassen Wangen des Mannes huschen zu sehen. Fahrig und, wenn ihn seine Augen nicht trogen, mit zitternden Fingern, fuhr der Krieger sich durch das hell schimmernde Haar und verzog noch im selben Moment das Gesicht.
„Es war nicht meine Absicht, den Rat zu beleidigen“, ertönte überraschend die raue und fast tonlose Stimme Yo Valkjas.
Zögernd sah der Anführer des Roten Mondes an sich herunter und der Ehrenwerte Aanh folgte seinem Blick bis zu den eingangs bemerkten, blauen Flecken, die das blütenweiße Hemd in Höhe der Leibesmitte verfärbt hatten. Augenblicklich ahnte er, womit der bleiche Mann gerade rang.
„Ich hielt es nur nicht für angebracht, euch in solch einem Zustand unter die Augen zu treten“, fuhr der Heermeister zähneknirschend und mit verdrießlichem Unterton fort.
Seinen Worten folgend zog er sein Hemd auf der rechten Seite zag nach oben und die Weisen gewahrten eine hässliche Wunde, halb verkrustet, halb aufgerissen. Ihr Anblick ließ seine Wut verpuffen und für einen Wimpernschlag verspürte er gar ein würgendes Gefühl im Hals. Den meisten seiner Ratsbrüder musste es ähnlich ergehen, denn ein Raunen und Räuspern ging durch ihre Reihen und ihre Mienen drückten entschuldigendes Bedauern aus. Lediglich dem Baron zu Feuerborn und Liebstein sowie dem Grafen Pokinoi entlockte die Offenbarung des Heerführers ein sardonisches Lächeln und in ihren altersgrauen Augen blitzte missgünstige Freude. Graf Ronesca, der kahlköpfige Jüngste seiner Brüder, und dessen Sitznachbar, Freiherr Arianth, wichen dem Blick des Dritten Generals zwar aus, konnten ihre eigenen aber nicht von dessen Körpermitte lenken. Die Gesichtszüge beider Männer nahmen einen mitleidigen Ausdruck an und Freiherr Arianth, den man von allen Ratsmitgliedern getrost als Yo Valkja am gewogensten bezeichnen konnte, flüsterte dem Ehrenwerten Aanh etwas zu. Zustimmend nickte er und räusperte sich hörbar.
„Unter diesen Umständen, General, ist der Rat nachsichtig und sieht von einer Sanktion ab.“
Worte, die den Anführer des Roten Mondes hätten zufrieden stimmen sollen, stattdessen aber gewittrige Gesichtszüge hervorriefen. Augenscheinlich verkraftete der Stolz des Heerführers mitfühlende Worte nur schwer. Möglicherweise einer der Gründe, warum der bleiche Mann seine Wunden stets nur von seinen engsten Vertrauten behandeln ließ oder gar selbst Hand anlegte. Er konnte sich nicht erinnern, dass Yo Valkja in all der Zeit auch nur ein einziges Mal einen Heiler der Burg aufgesucht hatte. Warum Cru Kanîja, bei dem der Heermeister ohnehin gewesen war, sich dessen Wunden nicht angenommen hatte, erschloss sich dem Wortführer der Weisen aber nicht.
„Wie mir scheint, hättet Ihr allerdings gut daran getan, Eure Wunde fachkundig versorgen oder wenigstens verbinden zu lassen“, meinte er daher.
Die Miene des Kriegers wurde noch dunkler. Die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen, blickte er erst zu ihm herauf, dann an sich hinunter. Schlagartig lief der Anführer des Roten Mondes blassblau an und ließ den Leinenstoff sinken. Der Ehrenwerte Aanh konnte sehen, dass der Silberhaarige sich auf die Lippen biss und leise vor sich hin fluchte, wusste allerdings nicht zu sagen, was diese peinlich berührte Reaktion hervorgerufen hatte. War dem Heermeister die Schwere seiner Verletzung etwa entfallen? Er konnte ihr doch unmöglich erst jetzt ansichtig geworden sein.
Bevor er diesen Gedanken vertiefen konnte, öffnete sich die schwere Flügeltür und Inor Kívíako betrat den Saal. Flinken Schrittes eilte der vorschriftsmäßig gekleidete und manierlich frisierte Vizegeneral des dritten Heeres an die Seite seines Anführers, begrüßte diesen mit einem respektvollen Nicken und wandte das Wort sogleich an den Rat.
„Ehrenwerte Weisen, Ehrenwerter Aanh, ich bitte höflichst um Nachsicht für mein verspätetes Erscheinen. Die leider erfolglose nächtliche Suche nach Stillwurz und Silbermondkraut hat mich bedauerlicherweise den Sonnenaufgang verschlafen lassen.“
Mit einer tiefen Verbeugung verlieh der Stellvertreter seinen Worten Nachdruck und wenngleich der Ehrenwerte Aanh dafürhielt, dass der Jüngling log, musste dieser die Situation auf einen Blick erfasst und sich darauf eingestellt haben. Eine Gabe, die er zugegeben bewunderte, und daher von weiteren Nachfragen absah. Auch seine Ratsbrüder reagierten ungleich wohlwollender auf den jungen Mann, dessen tadellose Erscheinung und eloquente Art diesem zu einem weitaus leichteren Stand verhalfen. Zudem pflegte er die Tradition und die hohe Stellung des Rates stets zu achten und wirkte bei nahezu jeder Anhörung mäßigend auf seinen streitbaren Anführer und Meister ein. Waren die Ältesten dem Dritten General mehrheitlich feind, so verhielt es sich daher bei dem Vizegeneral genau anders herum. Einige seiner Ratsbrüder schienen regelrecht, aufzuatmen, wobei er selbst eine gewisse Erleichterung ebenfalls nicht leugnen konnte.
„Da nun alle Verantwortlichen anwesend sind, können wir ja endlich beginnen“, gab er lautstark bekannt, noch ehe einer der beiden Krieger das Wort an den anderen richten konnte. „General Valkja, wir bitten um Euren Bericht!“
Geräuschvoll holte dieser tief Luft, wechselte intensive Blicke mit seinem Adjutanten und fuhr sich durch den Irokesenschnitt. Auch auf ihn schien die Anwesenheit des Jünglings eine beruhigende Wirkung zu haben, denn die Bewegung war deutlich weniger fahrig als vorhin auf dem Gang. Sichtbar arbeitete es im Geist des Heermeisters und mit einem Mal ging ein Ruck durch dessen Körper. Mit einem weiteren mürrischen Schnaufen richtete Yo Valkja sich zu voller Größe auf und in seinen Augen erglommen Stolz und Kampfeslust. Verschmitzt lächelte der Ehrenwerte Aanh unter seinem Bart und brummte zufrieden. Das war der Anführer des Roten Mondes, wie er ihn kannte. Ein letztes Mal schüttelte der Mann mit dem mondfarbenen Haar den Kopf und räusperte sich, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen, blickte nunmehr selbstsicher und unverwandt zu ihnen herauf und begann seinen Rapport.
„Nun denn. Drei Winter in Blut, Schlamm und Leichen. Ich denke, ihr wisst, was euch in meinem Bericht erwartet.“
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Mein herzlichster Dank geht an Law (https://belletristica.com/de/author/l-a-wellenspiel-1379 ,für mich einer der talentiertesten Poeten Belletristicas) für das wunderschöne, tolle Gedicht, das er auf meine Anfrage hin verfasst und mir die Verwendung in diesem Kapitel erlaubt hat. Dankeschön!!! Ich habe nur wenige Zeilen und dazu noch in der falschen Reihenfolge widergegeben und lege jedem meiner Leser nahe, sich das Gedicht in voller Länge anzusehen und an dem munteren Rätselraten zu beteiligen: https://belletristica.com/de/text/das-eine-r%C3%A4tsel-16631 .