Dionysos betrat seine Hütte und schüttelte den Kopf. Er würde Garretts Geruch nie wieder aus dem Haus bekommen. Obwohl sich Ghoulgestank und der Geruch von Angstschweiß hineinmischten, war der Duft des Jungen wie eine goldene Spur für ihn sichtbar. Schon im Wald hatte er es gemerkt.
Zu seinem Missfallen mochte er Garretts Geruch. Er war sauber und ehrlich. Wenn er Angst hatte, aufgeregt war oder ihm das Herz bis zum Hals klopfte, sein Geruch verriet ihn.
In der Sekunde in der dunklen Küche, als er ihn am Kragen packte und küsste, verriet sein Geruch seine unterschwellige Lust und Erregung, auch hervorgerufen durch die verzweifelte Angst, danach keine Gelegenheit mehr zu haben, irgendeine Erfahrung zu machen.
Garrett war schon ein interessanter Mensch, das musste der Vampir verknirscht zugeben. Einer, über den man nachdachte.
Er hoffte nur, dass dieser Hurensohn Allister nicht auf denselben Schluss kam. Er könnte es nicht ertragen, wenn Garrett in dessen Klauen geraten würde.
Allister musste verschwinden und mit ihm seine ganze Sippe samt Ekel-Schoßhunde.
Allister hatte genug Regelverstöße erbracht, dass Dionysos sich an die Clanobersten hätte wenden können, doch die taten nichts ohne eine Gegenleistung. Und er würde weder Garrett hergeben noch einen Stadtbewohner, da das dem Jungen nicht passen würde.
Mit den Obersten hätte der Vampir zwar eine Armee im Rücken, doch geriete auch nur vom Regen in die Traufe.
Also hatte er Kontakt zu einigen Leuten aufgenommen, die er kannte und die ihm vielleicht noch einen Gefallen schuldeten. Sie waren loyal in dieser Hinsicht, die Vampire.
Allerdings würde Dionysos nur bei einem von ihnen wagen zu behaupten, es wäre sein Freund. Jemand wie er hatte für üblich keine Freunde – maximal Waffenbrüder.
Bislang hatte er jedenfalls noch keine Rückmeldung von seinen Leuten erhalten. Es war erst ein paar Stunden her und alle hatten irgendwo zu tun, da konnte das schon mal passieren.
Schließlich konnten Vampire weder fliegen noch sich teleportieren. Sie mussten ebenso laufen, fahren oder in ein Flugzeug steigen wie Menschen.
Dennoch sorgte er sich, was geschehen würde, wenn er keine Hilfe bekam. Allisters Sippe betrug mit ihm zusammen mindestens 15 Mann, dazu kamen die Ghoule. Mit denen dürfte Garrett fertig werden, aber nie mit einem Vampir.
Dionysos wollte lieber sterben und alles mit sich reißen, als Garrett sterben oder schlimmer – ein Teil von Allisters Sippe werden zu lassen. Er konnte jedoch ohne Hilfe rein gar nichts tun außer den Jungen und seine Mutter fortzuschaffen.
Es kotzte ihn an, die Unfähigkeit, den Mist den er gebaut hatte, nicht allein bewältigen zu können. Doch er wäre dumm, wenn er es versuchte.
Und dumm war er nicht, sonst hätte er nicht so lange überlebt.
Geistesabwesend kraulte er den schnurrenden Kater, der neben ihm saß, als das Handy Alarm zu schlagen begann. Dionysos blickte darauf und seine Mundwinkel zuckten.
Er lebte also noch. Es hätte sämtlichen Glauben an seine Allianzen zerschlagen, wenn ausgerechnet er sich nicht gemeldet hätte.
Der Vampir nahm den Anruf an. »Jack?«
»Howdy Cowboy. War überrascht, deine Stimme zu hören. Wo brennt’s denn?«
Dionysos schilderte kurz die Situation und wartete dann auf die Reaktion seines Gesprächspartners.
»Er hat eure gültige Abmachung durch das Einschleppen der Ghoule gebrochen? Dir den Krieg erklärt, wenn du dein rechtmäßiges Gebiet nicht räumst? Holy Cow, der hat Eier, der arme Irre.« Ein raues Lachen schallte durch das Telefon.
»Ich will ihn aus der Stadt haben, mitsamt seinem Pack. Das hat persönliche Gründe, aber ich würde nicht um Hilfe bitten, wenn es nicht wirklich nötig wäre.«
Ein Brummen am anderen Ende der Leitung war zu hören.
»Sag bloß, es gibt Menschen in der Stadt, die du beschützen willst«, kicherte Jack. »Ich bin in Texas, aber ich kann in 2 Tagen in England sein. Wen hast du noch angerufen?«
»Phil, Anouk und Callum.«
»Callum kannst du vergessen. Den hat es vor ‘ner Weile erwischt.«
Dionysos zischte. Es war immer ein Schlag, zu hören, dass einer von den Profis draufgegangen war. Callum war ein harter Hund und wäre eine große Hilfe gewesen.
»Mich hast du schon mal sicher, alter Kumpel. Samstag morgen kann ich da sein. Muss mir erst mein Baby vom Hangar holen. Die lassen mich mit meinem Schmuckstück doch in keinen öffentlichen Flieger.«
Dionysos lächelte milde. Jack nannte seine alte Doppelläufige schon seit jeher »Schmuckstück«, obwohl sie das nicht war. Sie war laut und stank. Doch ihr Kaliber war groß und nietete Vampire, Ghoule und Rinder auf seiner Farm um. Also genau richtig.
»Du weißt, wo du mich findest«, sagte Dionysos und hörte wieder ein raues Lachen.
»Aber ja. Noch immer in deiner verträumten Hütte im Märchenwald, wartend auf dem Prinzen. Ich werde da sein.« Jacks breiter texanischer Akzent, der noch nicht da war, als Dionysos ihn vor über 150 Jahren in einem Treck zu den Goldfeldern kennenlernte, hatte etwas heiteres. Er brachte die Menschen zum Lachen, wo immer er war. Das Gespräch endete und der Vampir am Küchentisch hatte das Gefühl, die Last auf seinen Schultern war um einen Brocken leichter geworden.
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Seine Mum verschlief den ganzen Vormittag, wodurch Garrett Sorge hatte, sie würde nicht mehr wegen des Urlaubs anrufen. Er überlegte eine ganze Weile, ob er nicht in ihrem Namen anrufen sollte. Doch gerade, als er sich dazu entschlossen hatte, hörte er seine Mutter in der Küche. Er öffnete die Tür einen Spalt und lauschte.
»... ja... ja, vielen Dank. Du tust mir damit einen wirklich großen Gefallen«, hörte er ihre Stimme und Erleichterung machte sich breit.
Sie würde fahren können und hoffentlich war alles vorbei, wenn sie wiederkam.
»Hey Mum. Urlaub und Brighton geritzt?« Garrett ging an den Kühlschrank und tat so, als wäre er nur zufällig unten.
»Urlaub ja. Ich ruf‘ jetzt Imogen an. Und du willst wirklich allein bleiben? Du hast in ein paar Wochen Ferien... ich könnte noch etwas schieben und wir fahren zusammen?«
Garrett schüttelte den Kopf.
»Nee, in Brighton gibt es außer Tante Imogen nur Schafsköpfe und fotografieren kann man da auch nicht. Erhol dich. Ich komm‘ klar, bin ja kein Kind mehr.«
Seine Mutter legte ein Lächeln auf, halb sehnsüchtig, als wünschte sie sich die Zeit zurück, als ihr Sohn noch ein niedliches kleines Kind war und kein junger Mann, der sie fast nicht mehr brauchte.
»Nein. Das bist du nicht mehr«, murmelte sie und ging zum Telefonieren ins Wohnzimmer. Garrett spielte Mäuschen und erfuhr, dass seine Tante krank war, sich aber sehr über einen Besuch ab Montag freuen würde.
Verdammt, das hieß, seine Mum wäre noch 3 Tage in der Gefahrenzone. Dionysos musste das wissen, falls er das Haus nicht eh die ganze Zeit belauschte.
Mit seiner Limo-Flasche sprang er die Treppe hoch und öffnete das Fenster in seinem Zimmer.
»Hey. Falls du nicht eh mithörst – meine Mum verlässt die Stadt erst am Montag!«, sagte er gegen die wogenden Baumkronen. Er hatte keine Ahnung, ob der Vampir ihn gehört hatte. Vielleicht hätten sie Handynummern austauschen sollen. Mit einem Anflug von Trübsal starrte der Junge aus dem Fenster und machte runde Augen, als auf Höhe der kleinen Hütte plötzlich ein Schwarm kleiner Vögel schreiend in den Himmel empor stob. Garrett lachte.
Das konnte nur von Dionysos gekommen sein. Er hatte ihn also gehört.
»Hey, vielleicht ist es leichter, wenn du dir meine Handynummer speicherst.« Er nannte die Zahlen und wartete einige Minuten. Als das Handy tatsächlich piepste, fühlte der Junge Aufregung, als wären es Liebesbotschaften. Er öffnete die SMS und lachte noch mehr.
»Knalltüte« stand darin. Mit einem weiteren Piepsen ging eine zweite SMS ein: »Wenn sie erst Montag fährt, verriegle nachts die Fenster und Türen und bleib im Haus.«
»Mach ich«, sagte er aus dem Fenster, schloss es und beschloss – um wieder Normalität zu erlangen – sein Vampir-Essay noch einmal zu überarbeiten. Es musste erst nächste Woche fertig sein und vielleicht wurde vorher die ganze Stadt gefressen, doch irgendetwas Normales musste er tun. Er arbeitete und schrieb den ganzen Tag und war zufrieden mit seinem Tagwerk, als er nach dem Abendessen unter der heißen Dusche stand, sich endlich den Dreck der Ghoule abwaschend.
Er betrachtete seine Arme und seine Brust und konnte zum Glück feststellen, dass die blauen Flecken von Kyles Prügelattacke kaum mehr zu sehen waren.
Er hatte sich vorgenommen, am morgigen Freitag wieder in die Schule zu gehen. Das leichte Fieber war längst abgeklungen und da er niemanden hatte, der ihm Mitschriften brachte, wollte er nicht noch mehr verpassen.
Es erschien ihm komisch, dass er an so etwas dachte, während sich Vampire und ihre schleimigen Wachhunde in der Stadt verbargen. Doch Normalität half ihm, nicht wegen all der Erkenntnisse der letzten Nacht verrückt zu werden.
»Mum, ich geh schlafen«, rief er vom Treppenabsatz nach unten.
»Schlaf schön, Schatz«, tönte es zurück. Es war noch nicht 22 Uhr und seine Mum guckte ihre Sendung. Garrett hatte nach dem Abendessen eigenhändig alle Türen verschlossen und die Fenster kontrolliert. Alles war ok.
Ein letzter Blick aus dem Zimmerfenster zeigte, dass keine Ghoule da waren. Wunderbar.
»Gute Nacht, Dionysos«, sagte er in den dunklen Nachthimmel und verschloss das Fenster.
»Gute Nacht«, piepste ihm sein Handy zurück und Garrett zog mit einem kribbeligen, warmen Gefühl seine Bettdecke, die ebenso wie das Kissen nach dem Vampir duftete, bis an die Nase hoch. Er merkte es kaum, so schnell war er im Traumland.
»Wie, du willst in die Schule gehen? Du bist doch krank, Garrett!«
»Mum! Das Fieber ist weg und ich fühl‘ mich gut. Das kam bestimmt nur von dem ganzen Stress.«
Der Junge löffelte sein Müsli aus und seine Mutter, gerade aufgestanden und noch im Morgenmantel, goss sich Kaffee ein.
»Na wenn du das sagst.«
»Außerdem habe ich zwei Tage Stoff verpasst. Große Lücken im Hefter machen sich doof beim Lernen.«
Seine Mutter nickte nur, sie war noch geschwächt nach einer weiteren Nacht, die nur mit Schlafmittel zu bewältigen war.
»Ich bin dann weg. Um halb eins bin ich wieder da. Vielleicht gehst du besser noch mal ins Bett.«
Es war halb 8, als Garrett sein Rad aus der Einfahrt schob. Die Ghoulreste waren immer noch da, ebenso der Scherbenhaufen der Blumentöpfe. Das würde er nachher wohl mal zusammenkehren müssen.
Die Stadt wirkte friedlich wie immer, alles schien den gewohnten Gang zu gehen. Doch sah man genauer hin, merkte man einen Unterschied. Die Leute waren furchtsamer, hielten sich trotz Morgensonne nicht zu lange an einem Fleck auf und verkrochen sich in ihren Wohnungen.
Und überall war es das Gesprächsthema: der Mord an Chester Bayfield. Der erste offizielle Mord in Gatwick seit 1922, wo eine Frau ihren treulosen Ehemann erschossen hatte.
Die winzige Polizeidienststelle war vollkommen überfordert und die würden den Mörder doch nicht kriegen. Der würde wohl eher von einer mysteriösen Nachtgestalt mit Gottesgesicht geschlagen werden. Garrett bekam rote Wangen bei dem Gedanken, Dionysos so zu glorifizieren. Doch es war nun einmal Fakt und dass sein Gesicht schön war, konnte jeder sehen, der seiner ansichtig wurde.
Energisch schüttelte der Junge den Kopf und bog auf den Schulhof ein. Genervt stellte er fest, dass anscheinend »Casual Friday« war, denn er war der Einzige in Schuluniform.
Er schloss sein Fahrrad an und ließ sich von dem dünnen Rinnsal aus Schülern in das Haus treiben. Der Stundenplan war laut dem schwarzen Brett unverändert, alles war langweilig wie immer. Keines der schnatternden Kids hier hatte einen blassen Schimmer, was sich zwei Nächte zuvor zugetragen hatte. Die fanden Vampire immer noch »süüüüüüüüüüüüüüß« und Zombies immer noch cool.
But no, Sir! Das waren sie nicht!
Dankbar über die vertraute Langeweile trabte Garrett die Stufen hinauf zu dem Zimmer, in dem Chemie stattfand. Er machte sich auf 55 Minuten pure Langeweile gefasst, denn in Chemie war er schlecht und die alte Mrs. Kramer konnte ebenso gut Mandarin sprechen. Das hätte den selben pädagogischen Effekt.
Er hörte sie schon, bevor er sie sah. Kyle, seine zwei Idioten und Gemma, die sich seiner Meinung nach unter Wert verkaufte, wenn sie mit den Gorillas rumhing. Sie johlten dämlich, als sie ihn sahen.
»Wie vorbildlich das Pinky ist. Hübsch fein in Uniform, aye«, sabberte Stephen Boyd, der ihn in der Nacht im Wald aus seinem Versteck gezerrt hatte. Er war Kyles rechte Hand, doof aber stark, mit einem Gesicht wie einer dieser langnasigen Affen.
»Das hat er wohl verpennt, weil er sich zwei Tage vor uns versteckt hat. Hey Pinky, warst du schön bunt nach der Mische von uns? Schwuchtel.« Neil Baker spuckte ihm das Schimpfwort förmlich entgegen. Dabei war er nur so mutig, weil er in der Gruppe war, sonst hielt er die Klappe.
Garrett war mit 1,78 m kein Riese, aber er war immer noch fast einen Kopf größer als Neil. Und dabei bekam das Dickerchen immer etwas Schiss.
Alle lachten und der Junge seufzte nur innerlich.
Was waren sie wieder witzig, die Witzekistenschläfer und Clownfrühstücker.
»Hey Garrett«, tönte es jetzt auch von Kyle. »Sag mal, waren deine Eltern Chemiker? Irgendwie siehst du nämlich wie ein Versuch aus.«
»Einer, der schiefgegangen ist!«, grölten Stephen und Neil vor Lachen. Selbst Gemmas Lippen zuckten vor Grinsen, obwohl sie ihn niemals beleidigte.
Garrett blieb stehen auf seinem Weg zum Fenster, strich sich provokant und demonstrativ die Haare zur Seite und lächelte spöttisch.
‚Ich habe gegen einen Ghoul gekämpft, du hässliche Dumpfbacke. Wer also bist du?‘, dachte er grimmig.
»Du schaust eher so aus, als hättest du deinen Eltern keinen Spaß gemacht. Ich schlag‘ dir was vor. Wir spielen jetzt eine Runde Arschlecken. Du darfst anfangen! Idiot!«
Garrett zeigte Kyle den Mittelfinger und setzte sich etwas weiter hinten in ein Fensterbrett. Es war doch jedes Mal das Gleiche mit diesen Neandertalern. Denen konnte ja nur langweilig sein, wenn sie nichts Besseres zu tun hatten als ihn zu foppen.
Er griff sich überrascht an die Seite, als er das Vibrieren seines Handys spürte. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken und auch nicht die Wärme in seinen Wangen, als er sah, dass die SMS von Dionysos kam. Von wem auch sonst, er hatte ja keine Freunde.
»Guter Konter, Kleiner«, stand darin und Garretts Herz schlug schneller.
»Wie kommt es, dass du genau hören kannst, was ich sage? Hörst du nicht die ganze Stadt?«, schrieb er neugierig zurück.
»Ich kann Dinge ausblenden. Im Moment höre ich nur dein Umfeld und deine Mutter.«
Es klingelte und Mrs. Kramer, die Chemielehrerin, schloss den Raum auf, damit alle hinein konnten.
»Ich muss«, murmelte Garrett und schob sich vom Sims. An der Tür kassierte er von dem fetten, kleinen Neil-Pferd einen ziemlichen Boxer, wegen dem er sich selbst an seinem Platz sitzend noch den Arm rieb.
Er seufzte, sah aus dem Fenster in einen Himmel, der schon wieder Regenwolken heranzog und klammerte sich förmlich an sein Handy. Als würde Dionysos dadurch spüren können, wie fertig ihn das alles machte.
Immer allein zu sein, von niemandem Hilfe erwarten zu können, immer derjenige zu sein, der allein auf weiter Flur zurückblieb, während alle anderen im Sonnenschein spielten.
Sicher tat er so, als würde er Kyle die Stirn bieten. Er konnte ja kaum das tun, was er wirklich fühlte – sich hinkauern und weinen.
Vielleicht gab es da draußen im Wald eine Person, die sich Gedanken um ihn machte, sich sorgte und vielleicht auch sowas wie ein Freund war. Doch hier, an der Gatwick Comprehensive School, gab es niemanden.
Hier war er allein und das war seine wahre Wirklichkeit.