Doch anstatt zu sterben, erwache ich wieder auf dem Spielplatz. Sogar exakt neben der Wippe, wo ich all die Zeit zuvor gesessen und meine eigene Vergangenheit über mich ergehen lassen habe. Als wäre all dies eben nur ein böser Traum gewesen. Nicht real. Verpufft in einer Rauchwolke, als ich die Augen wieder geöffnet habe.
Dennoch zittere ich am ganzen Leib. Das ist wieder zu viel gewesen. Was zum Teufel war das eigentlich? Für einen bloßen Traum hat es sich viel zu echt angefühlt. Diese Hände, der Boden unter meinen Füßen, die Angst, das Blut. Alles ist wirklich da gewesen. So einfallsreich ist mein Verstand nicht, dass er das alles einfach erschaffen könnte. Wann sollte ich überhaupt eingeschlafen sein? Zu viele Fragen stellen sich mir. Und auf keine von ihnen finde ich von selbst eine Antwort. Es ist alles wie echt gewesen und doch sitze ich nun hier, unversehrt und am Leben. Na ja, zumindest fühle ich mich lebendig, ob ich es wirklich bin, ist eine andere Frage.
Erst als der Tod die Stimme erhebt, rufe ich mir wieder ins Gedächtnis, dass ich nicht allein an diesem verfluchten Ort bin. »Siehst du jetzt ein, dass es nicht das Geringste bringt, vor sich selbst wegzulaufen? Du holst dich doch eh wieder ein. Die Konsequenzen sind furchtbar, wie du siehst. Du machst dadurch alles nur noch schlimmer.« Bedauern liegt in seiner Stimme. Als wüsste er, was ich gerade durchlebt habe. Hat er das vielleicht auch einmal versucht? Weglaufen, meine ich. Doch was soll jemand ohne Erinnerungen an ein eigenes Leben schon so Schreckliches gesehen haben?
Anstatt mich jedoch weiterhin mit der Vergangenheit eines Anderen zu beschäftigen, schiebe ich diese Gedanken beiseite und starre beide Kinder wutentbrannt an. Schnell richte ich mich auf, ignoriere den leichten Schwindel, der auf diese ruckartige Bewegung folgt, und baue mich vor der Wippe auf, die noch immer nicht still steht. »Was zur Hölle sollte das gerade? War das euer verfluchter Ernst? Warum tut ihr mir so etwas an, nur um mir eine beschissene Lektion für so eine Kleinigkeit zu erteilen? Das ist krank.«
Ich schreie sie regelrecht an. Die beinahe hysterische Aufgebrachtheit in meinem Inneren dringt dabei aber nicht nach außen hin durch. Ich klinge beängstigend ruhig, wenn ein Brüllen überhaupt als ruhig definiert werden kann. Meine eigene Stimme klingt in meinen Ohren fremd. Was hat dieser Ort nur mit mir gemacht?
Vollkommen gelassen richten sich die Augen des Todes auf mich, während ich hier so gespalten vor ihm stehe. Sein Blick versucht wieder einmal, sich jegliche Emotion in der Umgebung einzuverleiben. Wie können Kinderaugen nur so widersprüchlich sein? Auf der einen Seite wirkt er wieder so zornig, dass er mich am liebsten aus seinem, von mir übernommenen, Reich verbannen würde und doch so ruhig, als stände ich im Auge des Sturmes. Ich glaube, hatte ich noch nie so viel Angst vor einem kleinen Kind wie in diesem Augenblick. Liegt vermutlich auch daran, dass es sich mir als ‚der Tod‘ vorgestellt hat.
»Glaubst du wirklich, dass wir das allein waren? Wie einfältig du doch bist, Mensch. Nur weil wir der Tod und das Leben sind, haben wir doch noch keine absolute Kontrolle über dich. Wir haben nur so viel Macht, wie du uns zugestehst – Götter sind wir deshalb aber noch lange nicht. Auch wir werden kontrolliert. Sonst wären wir wohl alle nicht hier.
Aber um auf deine Frage zurückzukommen, nein. Das waren nicht nur wir. Dein Unterbewusstsein hat wieder einmal eine ziemlich tragende Rolle dabei gespielt. Es versucht nämlich gerade die Traumata, die durch all die Simulationen wieder freigelegt wurden, zu verdrängen. Dabei steckt es dich in eine Traumwelt, die eigentlich nur aus bisherigen Albtraumsequenzen von dir besteht, die immer wieder abgespielt werden, bis das Unterbewusstsein diesen Prozess endlich abgeschlossen hat. Eigentlich hätte ich erwartet, dass du das mit der wiederauferstehenden Leiche und der blutenden Mauer wiedererkennst. Aber ich habe dich wohl überschätzt. Panik macht Menschen wirklich ebenso blind wie die Liebe.
Jedenfalls bildet diese Welt, in die dein Unterbewusstsein dich ziehen will, eine, die kein Erwachen mehr kennt. Bist du einmal in ihr gefangen, bleibst du da und kannst vergeblich nach einem Ausweg suchen. In diesem Teiluniversum werden deine Wunden niemals heilen, sondern nur immer wieder aufgerissen und sporadisch verschlossen werden, bevor alles wieder von vorn beginnt. Du würdest niemals vorankommen und trotzdem leiden. Das willst du sicherlich nicht. Also musst du dagegen ankämpfen, dort hinein zu rutschen. Sonst ist deine Seele und deine Chance auf eine Wiedergeburt für immer verloren. Du musst dir einfach alles anschauen, bevor du erlöst werden kannst. So einfach ist das.«
Allmählich fühle ich mich wirklich schlecht, wenn ich diesen beiden, und vor allem dem Tod, widersprechen muss. Dennoch tue ich es. »Könnt ihr mich nicht einfach zurückschicken? Dann bin ich diese Gefahr los und kann alles aufarbeiten. Dann habe ich ja genug Zeit dazu.«
Nun antwortet mir das Leben, das zuvor so still gewesen ist. »Du kannst trotzdem abrutschen. Ihr Menschen nennt diese Welt ohne Vorankommen einfach nur Wahnsinn. Einen Unterschied gibt es da nicht. Außerdem hattest du bisher auch genug Zeit, dich selbst zu heilen. Doch getan hast du es nicht. Weil ihr immer glaubt, dass ihr noch eine Ewigkeit vor euch hättet. Aber die Zeit rinnt eigentlich so schnell durch eure Finger, dass ihr auf eurem Totenbett bereut, einfach nicht das getan zu haben, was ihr tun wolltet, da ihr dachtet, dass noch genug Zeit übrig ist, um es immer weiter aufzuschieben. Wie viel Zeit ist denn genug für euch?«
»Und gibt es wirklich keinen anderen Weg? Weil Pflicht ist ja schön und gut, aber es gibt doch sicher eine Alternative«, meine ich schwach und vollkommen antriebslos, da ich die darauffolgende Antwort eigentlich schon kenne. Am Ende muss ich mich diesen Kindern sowieso beugen, ob ich nun will oder nicht.
»Nein. Du musst aufhören wie ein Mensch zu denken und immer nach dem für dich einfachsten Weg zu suchen. Du musst es eben auf diese Weise machen. Wir hatten das Thema doch schon. Wenn du aufhörst, deine Pflicht zu tun, kommen wir hier nicht weg. Wenn wir aufhören zu wippen, hörst du auf zu existieren. Hier oder eben für immer. Du siehst also, dass wir dasselbe Schicksal teilen. Außerdem hast du doch das Schlimmste doch schon hinter dir. Ab jetzt kann es doch nur noch besser werden.« Das Leben schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich nicht erwidern kann. Schließlich wissen doch alle hier ganz genau, was nun folgen wird. Und dass das alles andere als ‚besser‘ ist.