Gemeinsam lassen Stella und ich uns auf eine der vielen Parkbänke im Umkreis fallen. Wieder habe ich meine Verabredung in den örtlichen Park geführt, nachdem wir zuvor Essen gewesen sind. An diesem Ort fühle ich mich einfach geborgen und kann immer wieder Vertrauen zu mir selbst fassen. Kommt vermutlich dadurch, dass ich ganze sechs Monate ohne eine Sekunde Schlaf hier verbracht und mein gesamtes Leben an mir vorbeiziehen sehen habe.
Auch befinden Stella und ich uns in Sichtweite des Spielplatzes, auf dem ich zwei Kinder, einen Junge und ein Mädchen, auf der Wippe ausmachen kann. Unweigerlich schleicht sich ein seichtes Lächeln auf mein Gesicht. Ich habe mein Versprechen gehalten und die beiden nicht vergessen. Immer wieder geistern sie durch meinen Kopf, selbst nachdem ich bereits all meine Erlebnisse in diesem anderen Universum aufgeschrieben habe und alles langsam aus meinem Kurzzeitgedächtnis in mein Unterbewusstsein ziehen sollte. Ich denke ständig an diese seltsamen Kinder, die eigentlich keine gewesen sind, und an all die Dinge, die sie mir in dieser kurzen Zeit beigebracht haben.
»Was genau hast du mir zu sagen, dass wir unbedingt das warme Café verlassen mussten, um uns jetzt hier den Hintern im Schnee abfrieren?«, fragt mich Stella leise und schlingt die Arme um sich selbst, um sich gegen die noch recht milde Kälte des englischen Küstenwinters wappnen zu können. Auch heute trägt sie ihren roten Mantel, wie sie es schon bei unserer ersten Begegnung getan hat. Doch er scheint sie nicht warm zu halten, also zögere ich keine Sekunde, mir meine eigene Jacke auszuziehen und ihr diese um die Schultern zu legen.
Sofort ernte ich ein dankbares Lächeln, das schon in der nächsten Sekunde in einen ihrer so besorgt wirkenden Blicke umschwenkt. »Sicher, dass du ohne auskommst? Ich will auch nicht, dass du dir wegen mir die Grippe einfängst.« Ich winke ab. »Ach was, ich bin okay. Mir ist nicht kalt.« Trotz dessen, dass mich die Rothaarige mit einem skeptischen Blick bedenkt, spreche ich die Wahrheit. Ich bin von diesem eigentlich so gewöhnlichen Ort so beflügelt, dass mir selbst der Winter nichts mehr ausmacht.
Zudem bin ich es nach all der Zeit im Koma leid, rein gar nichts fühlen zu können, womit ich für jedes Gefühl dankbar bin. Sei es nun die Kälte auf meiner Haut oder diese seltsame Wärme, die in mir brennt, wenn ich die Frau neben mir ansehe. Ich fühle mich lebendig – das ist im Moment alles, was für mich zählt.
»Ich möchte ehrlich sein. Von Anfang an. Meine letzte Beziehung ist wegen zu vieler Geheimnisse in die Brüche gegangen. Dieser Ort hilft mir dabei, dir alles erklären zu können. Er gibt mir Sicherheit. Tut mir leid, dass ich dich im Dezember hier raus geschleift habe, aber an einem vertrauten Ort ist es einfach leichter, einen Neuanfang zu wagen.«
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich Stella nicken. Im selben Moment lehnt sie sich ein wenig an mich und hält sich an meinem Arm fest. »Es ist vollkommen okay, wenn es dir hilft. So kalt ist es ja gar nicht. Außerdem ist es toll, dass du keine Geheimnisse vor mir haben willst. Ich stelle Ehrlichkeit in einer Beziehung über alles. Also, los. Fang an zu erzählen. Ich bin hier, wenn du mich brauchst. Ist auch okay, wenn du weinst oder so. Lass einfach alles raus. Ich höre dir zu und setze dich wieder zusammen, wenn du auseinander fällst.«
Auf ihre Worte hin kann ich nur nicken und für einen Moment die Augen schließen, um mich zu sammeln. Es darf nichts durcheinander kommen, sonst wird sie mich sicher missverstehen. »Wie du sicherlich zwischendurch hörst, bin ich kein gebürtiger Engländer. Stattdessen wurde ich in Ardee in Irland geboren. Dort habe ich ich auch bis ich zwölf war mit meiner Familie in einfachen Verhältnissen gelebt. Dann sind meine Mutter und ich nach Dover gezogen, um einfach Abstand gewinnen zu können.
Der Grund war, dass mein kleiner Bruder zwei Jahre zuvor vom Baum gefallen und gestorben ist. Ich war dabei, als es passiert ist, weswegen alle mich als den Mörder ansahen und auch dementsprechend behandelten. In der Schule wurde ich mehr als einmal zusammengeschlagen und trotz all meiner Hilferufe hat niemand mir glauben wollen, dass ich gemobbt wurden.
Meinen Vater haben wir in Irland zurückgelassen, da er und meine Mutter schon immer wegen seiner mangelnden Arbeitsmoral und Trinkerei ein angespanntes Verhältnis hatten.
Als wir dann in Dover gelebt haben, ist es mir sogar recht gut gegangen, obwohl ich mich noch immer wegen des Todes meines Bruders schuldig gefühlt habe.
Schließlich bin ich wegen meines Studiums nach Brighton gezogen und habe dort meine erste Freundin kennengelernt. Sie nahm mich bei sich auf, als meine Mutter Selbstmord beging, ohne diese sich darum scherte, was nun aus mir werden würde, so ganz allein.
Doch letztendlich hat es mit dem Mädchen und mir nicht funktioniert. Der Tag, an dem wir beide uns getroffen haben, war derselbe, an dem sie sich von mir getrennt hat. Und derselbe, an dem ich überfahren und ins Koma gefallen bin, weshalb ich mich nicht bei dir melden konnte.
Und während des Komas ist mir einiges klar geworden. Aber auf diese ganzen neuen Gedanken bin ich nicht selbst gekommen. Ich hatte die Hilfe von zwei Kindern, die ich einfach nicht vergessen kann. Egal wie sehr mir alle zu verstehen geben wollen, dass das nur die Projektion meines Verstandes war, glaube ich nicht, dass es so einfach ist. Da muss mehr dahinter sein. Sie haben mir so vieles beigebracht. Das kann nicht ich selbst gewesen sein.«
Nach einer kurzen Pause, in der ich vergeblich auf eine Antwort von Stellas Seite aus warte, lache ich beinahe schon hysterisch auf – jedoch weiterhin so leise, dass niemand sonst in diesem Park seine Aufmerksamkeit auf unsere Konversation richtet. »Du hältst mich jetzt auch für vollkommen verrückt, oder?«
Tief in meinem Inneren hoffe ich, dass dies nicht der Fall ist. Schließlich ist sie gerade mein einziger Bezug zur Realität, solange Béla noch im Krankenhaus ist. Ohne Stella würde ich mich vermutlich wieder in meiner Fantasie verlieren. Außerdem will ich nicht erneut von einem Menschen enttäuscht werden, dem ich zuvor mein Herz ausgeschüttet habe.
Die Rothaarige jedoch legt mir eine Hand auf die Schulter und schaut mich ebenso ernst an, wie Béla nur zwei Tage zuvor. »Ich halte dich ganz sicher nicht für verrückt. Ich verstehe nicht ganz, was du meinst, weil ich es selbst nie erlebt habe, aber sicher wirst du deinen Grund haben, daran zu glauben. Also werde ich dich nicht verurteilen.
Außerdem kann ich verstehen, dass du vorher immer an deinen Schuldgefühlen gehangen hast und einfach nicht loslassen konntest. Jeder hat seine Vergangenheit, das kann niemand leugnen. Genauso wie keiner behaupten kann, frei von Ängsten zu sein. Jeder fürchtet irgendwas. Genauso wie jeder sich mit seinem Päckchen Tag für Tag herumschlägt, auch wenn niemand gern zugibt, dass er nicht perfekt ist.
Ich beispielsweise bin immer noch nicht darüber hinweg, dass ich auf einer Party in meinem eigenen Haus so müde war, dass ich unten im Wohnzimmer eingeschlafen bin, während irgendein Trottel im Obergeschoss seine Zigarette vergessen hat auszutreten, wodurch ein riesiges Feuer ausgebrochen ist. Ich selbst bin noch rechtzeitig aufgewacht und mit ein paar Brandnarben davongekommen, ebenso wie alle anderen, die sich im unteren Teil des Hauses aufgehalten haben. Jedoch hatte die Treppe ebenfalls Feuer gefangen, womit alle anderen eingeschlossen waren. So viele Menschen sind an diesem Tag schwer verletzt worden oder einfach gestorben. Diese Nacht ist Jahre her, aber noch heute höre ich manchmal die Schreie, als sie verbrannt sind und ich einfach nichts tun konnte, außer wie paralysiert dazustehen und auf die Feuerwehr zu warten. Ich habe Albträume und immense Schuldgefühle, die einfach nicht weggehen wollen.
Deshalb versuche ich es irgendwie wiedergutzumachen, indem ich Menschen helfe, die wirken, als würden sie diese Hilfe brauchen. Dabei habe ich eigentlich keinen Grund dazu, da ich nicht einmal das Feuer ausgelöst habe und die Familien der Opfer mir verziehen haben. Aber allein die Gewissheit, dass sie in meinem Haus gestorben sind, während ich geschlafen habe, verfolgt mich. Ich muss für die Toten mitleben. Allein schon, weil ich überlebt und eine Chance bekommen habe, die ihnen nicht zuteil geworden ist.«
Anschließend mustert Stella mich beinahe prüfend und wendet ihren Blick dann wieder meinem Gesicht zu. »Du hast dich ziemlich verändert, seit wir uns das erste Mal gesehen haben, finde ich. Also im guten Sinne.«
Nun bin ich derjenige, der den Blick abwendet, jedoch eher, um diesen auf den blassblauen Himmel über uns zu richten. »Das hoffe ich auch«, murmle ich leise und nur noch sporadisch mit meinen Gedanken anwesend, »schließlich habe ich dasselbe Vorhaben wie du. Ich möchte den Menschen, die nicht mehr an meiner Seite stehen können, etwas zurückgeben, indem ich mein Leben so gut wie nur möglich lebe, ohne am Ende bereuen zu müssen, dass ich meine Zeit verschwendet habe.«
Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich Stella beinahe schon wissend lächeln. »Ist dir das zufällig auch klar geworden, als du im Koma gelegen hast?«
Noch während ich nicke, wende ich meinen Blick nun wieder unwillkürlich der Wippe zu, die noch immer in Benutzung ist. Wie das Leben und der Tod damals scheinen diese Kinder wirklich in ihren eigenen Sphären zu schweben und nichts außer sich selbst und ihren Spielgefährten wahrzunehmen. Beide sind sie im Gleichgewicht. Wieder höre ich schwach dieses so beruhigende Quietschen, das mir versichert, dass ich weiter existieren darf, obwohl doch schon längst alles vorbei sein könnte. Ich lebe, denke und sitze hier neben einem Menschen, der versteht, wie ich mich fühle. Was sollte ich mehr wollen?
So nehme ich Stellas Hand und schaue sie direkt an. »Wir werden unser Versprechen halten, oder?« Sie nickt und lächelt wieder leicht. »Lass uns das zusammen machen. Irgendetwas an dir gibt mir Sicherheit und das Gefühl, einfach alles schaffen zu können.« Nun kann ich ihr Lächeln erwidern. »Geht mir mit dir genauso.« Für einen Moment verfallen wir wieder in Schweigen, ehe ich diese eine Frage stelle, die mir schon seit Stunden auf der Seele brennt.
»Hättest du eigentlich was gegen eine kleine Reise?«
Die Rothaarige schüttelt verwirrt dreinblickend mit dem Kopf. »Wieso fragst du?« Mit einem weiterhin leichten Lächeln auf den Lippen umschließe ich ihre Hand ein wenig fester, um mich an ihr festhalten zu können. »Ich würde meinem Bruder gern mal wieder einen Besuch abstatten.«