Die Wochen vergingen und Ruben gewöhnte sich so langsam an das Anwesen. Die unheimlichen Geräusche bei Nacht wurden zur Gewohnheit. Der Junge schob sie mittlerweile auf die alten Dielen, die ungeölten Scharniere der Türen und undichten Fenster. Es musste einfach so sein, denn was sollte die Geräusche sonst verursachen? Geister? Pff! Er war kein Kind mehr. Es gab keine Geister. Basta!
Trotz allem verbrachte er seine Zeit lieber draußen im Garten. Er blieb allerdings eher im vorderen Teil, dort hinter dem Haus, wo der Pool stand und etwas abseits das Gewächshaus. Weiter hinten im weitläufigen Garten, so hatte ihm der Gärtner erzählt, sollte es ein richtiges kleines Labyrinth geben, doch er war kein Typ für solche Spielereien.
Heute war wieder so ein Tag, an dem er am Pool entspannte und seine Beine ins Wasser baumeln ließ. Die Sonne schien und er konnte sogar sein Shirt ausziehen. Gott sei Dank hatte er die Hausaufgaben schon erledigt. Der Klavierlehrer würde erst gegen 17 Uhr da sein und somit blieb noch genug Zeit zum Entspannen.
Ruben bemerkte Gregory erst, als dieser sich neben ihn setzte.
„Du scheinst dich gut eingelebt zu haben“, sprach er den Jungen an.
Ruben sah auf, musterte ihn. Gregory hatte seine Schuhe und Socken ausgezogen und tat seine Füße nun ebenfalls ins kühle Nass.
Der 17-Jährige nickte nur.
„Der Gärtner hat mir erzählt, dass du Interesse am Gewächshaus hättest.“
Na, toll, dachte sich Ruben. Diese Annahme stimmte zwar, jedoch fand er es äußerst ungerecht, dass der Gärtner den Wunsch einfach auf ihn schob.
„Hmm“, machte er also und biss sich auf die Unterlippe.
„Dort wächst schon seit Jahren nichts mehr. Ich hab’s versucht, aber keine Pflanze scheint sich dort wohl zu fühlen.“
Jetzt hatte er Rubens Interesse geweckt.
„Warum das denn?“, fragte er. „Kennt du dich nicht damit aus?“
„Nein. Ich hatte nie viel mit Gärtnerei am Hut“, gab Gregory zu.
„Und warum hast du dann noch das Gewächshaus? Als Erinnerung an deine Eltern?“, fragte Ruben.
Gregory schüttelte den Kopf.
„Meine Eltern und ich haben eines gemeinsam gehabt. Wir mögen die Gärtnerei nicht besonders. Das Gewächshaus hat meiner Großmutter gehört und als diese starb, ließen wir es wie es war.“
„Dann behältst du es ihretwegen?“
Erneutes Kopfschütteln, gefolgt von einem traurigen Lächeln.
„Nein. Wegen jemand anderem.“
Ruben hatte das Gefühl einen wunden Punkt gefunden zu haben.
„Wer war die Person, wegen der du es noch stehen hast?“
Sein Patenonkel stand vom Pool auf und schnappte sich seine Schuhe.
„Das geht dich nichts an“, meinte er plötzlich streng und verschlossen. „Wenn du möchtest, dann widme dich dem Gewächshaus. Aber lass mich damit in Ruhe.“
Der plötzliche Abgang von Gregory blieb Ruben auch noch beim Klavierunterricht im Kopf. Er konnte sich kein Stück konzentrieren. Der traurige Blick von seinem Patenonkel war ihm wie ins Gedächtnis gebrannt. Welche schlimmen Erinnerungen plagten den alleinstehenden Mann wegen dem Gewächshaus? Er hatte es bestimmt nicht ohne Grund stehen lassen und für besonders emotional hatte er ihn nicht gehalten. Es musste also noch einen anderen Grund geben. Doch welchen? Gregory ließ ihn bestimmt nicht an sich ran. Ruben musste also auf eigene Faust Nachforschungen anstellen. Doch wo sollte er damit anfangen? Einfach das ganze Haus nach irgendwelchen Hinweisen auf Gregorys Vergangenheit abzusuchen erschien nicht sehr sinnvoll. Der einzige Ansatzpunkt war der Ort des Geschehens. Das Gewächshaus. Also beschloss Ruben morgen den Gärtner aufzusuchen. Er würde ihn nach Werkzeug fragen und sich dann das Gewächshaus ansehen. Vielleicht würde er ja etwas finden, dass ihm weiterhalf.
Leider musste die Gewächshaus-Angelegenheit noch ein paar Tage länger warten. Die Schule kam dazwischen. Der Sommer war fast du und auch wenn Rubens Prüfungen weitaus später stattfinden würden als die der anderen Schüler, so gab es jetzt sehr viel mehr Hausaufgaben. Durch seinen schweren Verlust hatte Ruben ein paar Wochen Stoff verpasst und so hatten die Lehrer und Pädagogen es für sinnvoll gehalten die Prüfungen für Rubens Abschluss, um wenige Monate zu verschieben. Ruben war dankbar dafür, doch es wäre ihm trotzdem lieber gewesen es früher hinter sich zu haben. Dann hätte er früher wieder von Kaene Manor weg gekonnt. Sein eigenes Leben leben, das war es, was er sich wünschte und so sehr er sich hier mittlerweile auch zuhause fühlte, so wenig fühlte er sich hier hingehörig.
Erst einige Tage später konnte Ruben den Gärtner ansprechen. Es war Samstag und die Sonne schien heute erbarmungslos. Endlich Zeit für kurze Hosen.
Er fand den Gärtner am Eingang des Labyrinths. Er stutzte gerade die Hecken von außen.
„Entschuldigung. Darf ich sie kurz etwas fragen?“, sprach Ruben den Mann höflich an.
Der Rothaarige drehte sich zu ihm um.
„Oh, hallo junger Mann. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich deinem...“, er machte eine unsichere Pause, „Patenonkel gesagt habe du hättest Interesse am Gewächshaus. Wenn du magst kümmere ich mich natürlich allein drum.“
Ruben schüttelte den Kopf. Er war ihm nicht böse. Immerhin interessierte ihn das Gewächshaus tatsächlich.
„Ist schon okay“, winkte er ab. „Ich fände es toll, wenn ich darin etwas anpflanzen könnte. Aber in diesem Zustand geht es nicht und ich weiß nicht, wie ich es allein und ohne Werkzeug wieder hinbekomme.“
Der Gärtner legte die Gartenschere oben auf der Hecke ab und zog seine Handschuhe aus. Lächelnd streckte er dem jungen Mann die Hand entgegen. Ruben schüttelte sie.
„Ich sollte mich erstmal vorstellen“, sagte der Ältere. „Ich bin Thomas.“
„Ruben“, stellte sich der Teenager ebenfalls vor und kam dann direkt zum Thema. „Ich brauche Werkszeug und bestimmt auch Hilfe. Können sie mir helfen?“
„Sicher. Wir sehen uns das Gewächshaus mal gemeinsam an und sehen dann was zu tun ist. Und sag doch einfach du zu mir. Ich bin schließlich keine 50.“
Ruben nickte und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Gewächshaus.
Ruben staunte nicht schlecht, als er das Gewächshaus betrat. Der Boden bestand aus Terrakottafliesen, die an einigen Stellen Risse hatten, die Glasscheiben waren teilweise kaputt, oder fehlten ganz. Die Pflanzkübel hatten ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen. Und dann waren da noch die dichten Spinnenweben die das Gewächshaus offenbar für sich einnehmen wollten. Mit Unbehagen dachte Ruben an die vielen Spinnen die hier hausen mussten. Dieses Projekt würde ihn Zeit und Nerven kosten.
„Na, weißt du schon, was du hier anpflanzen willst?“
Ruben zuckte zusammen. Er hatte Thomas gar nicht gehört.
„Schuldige“, murmelte dieser jetzt und kratzte sich verlegen am Kopf.
Ruben winkte ab.
„Keine Ahnung. Ich kenn mich auch nich aus.“
„Warum willst du das dann machen?“, fragte der Gärtner neugierig.
Ruben zögerte. Konnte er dem Mann vertrauen? Würde er ihn nicht auslachen. Doch das Gesicht des Mannes zeigte Wohlwollen, also antwortete der Teenager: „Mein Vater hat gern gegärtnert. Ich möchte ihm so eine gewisse Ehre erweisen. Und ich bin dann beschäftigt. Hier ist es sonst ziemlich langweilig.“
Thomas nickte verständnisvoll.
„Da hast du recht. Hier wohnt niemand in der Gegend und andere Jugendliche wohnen erst im Ort. Nur der Friedhof mit der Kirche ist in Fußnähe. Muss hier ganz schön langweilig für so einen jungen Menschen sein. Außerdem ist es immer so still im Haus. Da würde ich wahnsinnig werden. Was machst du denn den ganzen Tag so? Ich hab dich schon häufig am Pool gesehen.“
Der 17-Jährige legte den Kopf schief. Thomas war ganz schön neugierig. Aber er unterhielt sich gern mit ihm.
„Auf dem Friedhof war ich noch nicht. Und ein Kirchgänger bin ich nicht. Deshalb bin ich meistens mit lesen beschäftigt. Wenn nicht gerade Hausaufgaben anstehen.“ Aus einer Intuition heraus fragte er leise: „Hast du hier auf Kaene Manor schonmal etwas Seltsames erlebt? Etwas gesehen oder gehört, was nicht da war?“
Der Gärtner durchbohrte ihn mit seinem blick. Dann wurde er ernst.
„Über solche Dinge wird hier nicht gern geredet. Eigentlich sollte ich dir das gar nicht erzählen aber...“, er machte eine lange Pause bevor er weitersprach, „Die Großmutter von Gregopry Kaene war psychisch nicht stabil. Sie sah und hörte Dinge. Menschen, Stimmen. Man hat sie schließlich ins Heim für Demenzkranke gegeben. Sie soll immer darauf bestanden haben, dass sie nur hier im Gewächshaus sicher sei. Wovor hat sie nicht gesagt.“
Sein Blick wandte sich ab. Er räusperte sich. Rubens Frage hatte er nicht beantwortet. Aber das brauchte er auch nicht mehr.
Am Abend lag der Teenager noch lange wach. Ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß saß er schließlich am Fenster und starrte in die Dunkelheit. War Gregorys Großmutter wirklich nur verrückt gewesen? Oder hatte sie sich diese Dinge vielleicht gar nicht eingebildet? Er selbst hatte auch seltsame Dinge wahrgenommen. Mit Schauern erinnerte er sich an das Lachen in seinem Zimmer. Nein, wenn er so darüber nachdachte, dann erschien ihm Gregorys Großmutter gar nicht verrückt. Vielleicht hatte sie nur Dinge wahrgenommen, die andere Menschen nicht bemerkten und vielleicht tat er das ebenso. Eine Art sechster Sinn halt.
Die nächsten Wochen waren geprägt durch die Schule. Ruben bekam zusehends mehr Hausarbeit auf und er hatte immer mehr Schwierigkeiten Zeit für sich selbst zu finden. Der Sommer brach an und auch wenn bald Ferien waren, so würde für ihn die Schule weitergehen. Gregory hatte für ihn einen Hauslehrer bestellt, damit er am Ende der offiziellen Ferien seine Prüfungen meistern würde. Er würde wohl oder übel auf seine Ferien verzichten müssen. Wenigstens waren es nur vier Stunden täglich und das Wochenende hatte er für sich. Hausaufgaben würde es dann auch keine mehr geben. Er sehnte sich den offiziellen Ferienbeginn herbei, als er alte Blumenkübel, kaputte Fliesen und Plastikbehälter für Blumen aus dem Gewächshaus schob. Wenn er nur daran dachte, dass noch Hausaufgaben auf ihn warteten, bekam er schon schlechte Laune. Wollten die Lehrer ihn quälen oder ablenken?
Nach etwa einer Stunde war das Gewächshaus beinahe leergeräumt. Ein paar der Pflanzkübel konnte man noch benutzen, so, dass Ruben sie lediglich zum Putzen in eine Ecke verfrachtet hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hier drinnen war es heiß. Die kaputten Scheiben waren ersetzt worden und somit erfüllte das Gewächshaus bereits seinem Zweck. Nur war der Teenager kein zartes Pflänzchen und brauchte diese Temperaturen nicht für sein Wohlbefinden.
Als er sich gerade den kaputten Fliesen widmen wollte, betrat der Hausherr persönlich das gläserne Bauwerk. Ruben hatte nicht damit gerechnet seinen Patenonkel hier zu sehen. Immerhin schien dieser nicht gerade ein Freund dieses Ortes zu sein. Doch nun stand er hier. Er wirkte etwas unbehaglich, wie er so in der Mitte des Häuschens stand, die Hände hinter dem Rücken. Er war heute besonders fein gekleidet. Ein weißes Hemd, darüber ein grüner Fließpullunder und dazu eine helle Jeans. Sein Haar trug er wie immer streng zurückgebunden. Misstrauisch sah sich Gregory im Gewächshaus um. Er rümpfte die Nase und wies mit einem Kopfnicken auf die Spinnenweben die sich hartnäckig um die alten Pflanzkübel gesponnen hatten.
„Solltest du die nicht entsorgen? Wir verfügen über mehr als genug finanzielle Mittel, um neue Pflanzkübel zu kaufen. Du könntest mit Thomas in den Baumarkt fahren.“
Ruben stand auf, klopfte sich den Dreck von den kurzen Hose und wischte sich dann seine erdigen Hände daran ab. Sein Patenonkel registrierte das mit einem Rümpfen der Nase.
„Gern. Dann kann ich alles einheitlich gestalten und noch ein paar neue Pflanzkübel brauchen wir eh, damit wir das Gewächshaus auch effektiv nutzen können“, antwortete der 17-Jährige erfreut und zog einen Notizblock aus seiner Hosentasche. Eifrig schrieb er zu der Blumenerde und den Samen noch groß Pflanzkübel darauf und verstaute den Notizblock wieder.
„Wir?“, erkundigte sich Gregory mit fragendem Gesichtsausdruck. „Wer heißt den wir?“
Ruben sah ihn mit großen Augen an. Eigentlich hatte er mit wir den Gärtner und sich gemeint. Aber warum sollte er sich damit zufriedengeben?
„Naja wir eben“, sagte er daher keck. „Du und ich. Wir könnten Blumen pflanzen und Gemüse und...“
„Nein“, wurde er ruhig aber bestimmt unterbrochen. „Ich habe dir gesagt, du könntest dir das Gewächshaus herrichten. Du. Nicht ich. Ich werde hier nichts anpflanzen. Dazu habe ich einen Gärtner.“
Gregorys Worte trafen den Teenager härter als gedacht. Er hatte Gregory dazu bringen wollen etwas mit ihm zu machen, damit sie ein gutes Verhältnis aufbauen konnten. Ein besseres als das, was Ruben mit seinem eigenen Vater gehabt hatte. Und jetzt kam diese scharfe Ablehnung. Sie saß schärfer als ein Messerstich und traf genau sein Herz. Ruben schluckte den Kloß herunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Mit festem Blick sah er Gregory in die Augen. Einen Moment lang wollte er hinausstürmen so, wie er es schon einmal getan hatte, doch er wollte nicht, dass sein Patenonkel ihn für ein dummes Kind hielt. Nicht jetzt, nicht wo er gerade dabei war ihn zu mögen. Also war er mutig und sagte: „Ob es dir passt oder nicht: Du bist jetzt für mich verantwortlich. Du lebst jetzt nicht mehr allein hier und auch wenn ich es nicht wahrhaben will, aber ich brauche dich. Ich will eine Beziehung zu dir aufbauen und das kann ich nur, wenn du dich nicht dagegen sträubst!“ Er konnte nicht verhindern, dass ihm erste Dicke Tränen kamen. Doch er zog das jetzt durch. Er würde jetzt stark sein, ja stark, nicht wie ein verweichlichter Teenager.
Das war der Moment in dem Gregory ihn in seine Arme zog. Etwas unbeholfen und steif, aber er umarmte den Jungen.
„Okay“, sagte er leise. „Wir finden etwas, dass wir beide mögen und dann werden wir diese Sache gemeinsam machen.“