Der Herbst flog an Ruben vorüber. Die meiste Zeit saß er in der Bibliothek und las ein weiteres Kapitel von Gregs neuem Schauerroman. Und wenn er mal nicht las, dann streifte er durch die Gänge von Kaene Manor. Das Haus war ihm noch immer unheimlich, doch er hatte sich mit der Zeit damit abgefunden, ab und an mal Schatten zu sehen oder Geräusche und Stimmen zu hören. Nur, wenn es des Nachts über ihm polterte, riss es ihn noch aus dem Schlaf. Das Haus erinnerte sich, sagte er sich dann und schlief schnell wieder ein.
Die vielen leeren Räume mied er. Sie waren gruselig. Vor allem der, in welchem er die Gestalten durch den Spiegel sehen konnte. Er hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn er an ihm vorbeiging. Eines Tages, er war gerade auf dem Weg ins Musikzimmer, um seine Fähigkeiten am Klavier zu festigen, blieb er jedoch genau vor diesem besonderen Raum stehen, weil er von unten Stimmen hörte. Er ging zum Geländer der Treppe, hockte sich an dessen Ansatz und linste durch das Geländer nach unten.
Unten in der Eingangshalle standen Gregory und Johnathan und schienen in ein erregtes Gespräch vertieft.
„Du hast das Haus doch nur bekommen, weil Vater dich immer bevorzugt hat. Selbst als deine Liebschaft mit diesem Burschen ans Licht kam!“
Johns Stimme klang angespannt. Sein Gesicht war verzerrt, seine Hände schlossen sich zu Fäusten, nur um sich dann wieder zu entspannen. Greg hingegen blieb ruhig. Entspannt stand er da, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Das ist dein großes Problem, nicht wahr, Bruder? Nicht nur, dass Vater mich bevorzugt hat, nein. Ich bin auch noch schwul. Doch du bist nie gerne hier aufgewachsen. Ich weiß, dass du dieses Haus nie gemocht hast. Warum also willst du es jetzt für dich haben?“
Ruben lauschte gespannt. Was hatte es mit dem Streit auf sich? Warum wollte John das Haus?
Der Ältere beugte sich vor.
Zischend meinte er: „Es geht dich nichts an, warum ich es will. Du wirst dafür sorgen, dass es mir gehört! Wenn nicht, dann verrate ich deinem Jungen dein Geheimnis. Ich glaube kaum, dass er dann immer noch in dein Bett will.“
Gregs Gesichtszüge entgleisten einen Moment, dann fing er sich wieder. Ruben allerdings erstarrte auf seiner Position. John wusste es? Er hatte die ganze Zeit von ihrer Beziehung gewusst? War er deshalb in letzter Zeit so kühl zu ihm gewesen? Lehnte er es ab? Und was hatte es mit dem Geheimnis auf sich, was Greg ihm angeblich verschwieg?
„Bruder“, sprach Gregory Kaene plötzlich mit einem dunklen, zutiefst bedrohlichem Unterton in seiner Stimme. „Wenn das ein Versuch sein sollte mich zu bedrohen, dann rate ich dir, lass es bleiben. Du weißt, was beim letzten Mal geschehen ist.“
Ruben konnte sehen, wie das überhebliche Lächeln von Johns Gesicht verschwand. Stattdessen war es nun wutverzerrte und hatte die Farbe einer Tomate.
„Ich schwöre dir, kleiner Bruder“, er hob drohend die Faust, „sobald ich einen Beweis für dein kleines Geheimnis finde, werde ich es dem Jungen unter die Nase reiben. Solange hast du noch eine Galgenfrist. Aber drohen kannst du mir nicht!“
Mit diesen Worten rauschte er in Richtung Küche ab.
Ruben huschte schnell weiter ins Musikzimmer. Schließlich wollte er auf keinen Fall erwischt werden.
Er setzte sich ans Klavier und spielte die ersten Noten. Schnell ließ er sich von den Tönen gefangen nehmen und versank in seiner Musik. Zumindest so lange, bis seine Gedanken Karussell fuhren. Was verheimlichte Greg ihm? Warum wollte John das Haus? Was war es, was die beiden Kaene-Brüder so auseinander trieb? Und wenn John schon länger von ihrer Beziehung wusste, warum hatte er dann nie etwas gesagt? Es war schließlich offensichtlich, dass ihm die Tatsache missfiel, dass Greg mit einem so jungen Mann eine Beziehung eingegangen war. Oder wusste er vielleicht gar nichts von einer Beziehung, sondern vermutete lediglich eine Liebschaft? Etwas was nur Sex beinhaltete? Ruben lachte kurz auf. Dabei war doch Sex genau das, was bisher fehlte. Aber das war vorerst nicht das, worüber Ruben sich am meisten Gedanken machte. Viel mehr fragte er sich; was war Gegorys Geheimnis? Er dachte an den Brief, den er aus dem geheimen Arbeitszimmer hatte mitgehen lassen und an das Zimmer an sich. Warum nutzte Greg dieses? Brauchte er es vielleicht nur als Rückzugsort oder steckte mehr dahinter?
Am Abend hatte Ruben es schließlich nicht mehr ausgehalten. Die Anspannung in ihm war zu groß geworden. Er saß auf seinem Bett, den gestohlenen Brief in der Hand, und starrte auf den, in schwungvoller Handschrift beschriebenen Umschlag. Greg, stand auf dem Umschlag. Einfach nur Greg. Diese Tatsache war es jedoch nicht, die sein Herz höher schlagen und seine Hände schwitzig werden ließ. Er erkannte die Handschrift wieder. Es war die seines Vaters.
Nach all der Zeit, all den Monaten ohne auch nur den Hauch von ihm, war es, als würden Steine auf Rubens Brust liegen. Tonnenschwere Steine. Er hatte mit Vater Clemence darüber gesprochen. Über den Carls tot, über die Zeit kurz davor, über ihr Verhältnis zueinander. Über die Alkoholsucht von Rubens Dad und darüber, dass Ruben ihn hasste und gleichzeitig so sehr liebte, dass er immer noch manchmal an ihn denken und um ihn trauern musste. Leise still und heimlich abends in seinem Bett. Die Briefe an seinen Vater waren wenige, aber er schrieb sie. Es tat gut, über alles zu reden. Ihm alles zu erzählen, was er an ihm vermisste. Doch jetzt und hier diesen Brief in der Hand zu halten und nicht zu wissen was darin stand, war wie Folter. Was für ein Verhältnis hatten Greg und Carl gehabt? Laut der Aussage seines Vaters, war dieser eng mit Gregory Kaene und seiner Familie befreundet gewesen, bis es mit Charlotte, Rubens Mutter, ernster geworden war und er schließlich mit ihr nach Deutschland ausgewandert war. Er hatte Freunde und Familie, oder das was noch davon übrig gewesen war, hier in Irland zurückgelassen, um ein neues Leben zu beginnen. Doch was war der Grund dafür? Und warum hatte Carl Greg zwar zu Rubens Patenonkel gemacht, die Freundschaft aber nicht weiter verfolgt?
Als Ruben es schließlich nicht mehr allein mit seinen Gedanken aushielt, öffnete er den Umschlag und entfaltete den Brief.
Greg,
mein lieber Greg. Ich weiß, du bist wütend. Ich weiß, du bist enttäuscht, aber glaube mir, ich habe es nur für meinen Jungen getan. Ja, es wird ein Junge. Wir wollen ihn Ruben nennen. Den Namen, den du deinem ersten Buchcharakter gabst. Er soll mich immer an das erinnern, was wir hatten. Ich werde unsere gemeinsame Zeit niemals vergessen. Unser gemeinsames Versteck, das Baumhaus, in dem wir so viele romantische Stunden verbracht haben, unser Lieblingsplatz im Weinkeller, als wir noch Kinder waren und unbedingt erwachsen sein wollten. Erinnerst du dich noch an unseren ersten Kuss? Deine Lippen haben sich so weich angefühlt und mein Herz schlug so schnell, dass ich dachte, es müsse mir aus der Brust springen.
Ich schenkte es dir damals und es gehört noch immer dir, vergiss das nicht. Egal was die Zukunft uns beiden bringt, ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich dich noch immer liebe und, dass sich daran nie etwas ändern wird.
Falls es irgendwann einmal zum Schlimmsten kommen sollte und Ruben zu dir kommen sollte, dann bitte ich dich, unser Geheimnis für dich zu bewahren. Ich möchte, dass Ruben ein gutes Bild von der Ehe seiner Eltern hat.
Pass im Falle der Fälle gut auf meinen Jungen auf.
Und pass auf dich auf! Lass dir nicht dein Herz brechen, es gehört nämlich mir!
In Liebe
Carl Jones
Das war es also. Das war Gregs Geheimnis. Das, was er ihm verschwiegen hatte. Und Ruben wusste auch warum. Rubens eigener Vater war Gregory Kaenes Liebhaber gewesen. Er konnte es kaum fassen. Wie war ihm das nur entgangen? Es war doch so offensichtlich gewesen. Überall in diesem Haus hatte Carl Spuren hinterlassen. Sichtbare und unsichtbare. Immer wenn Ruben seinen Vater nach seinem Patenonkel aus Irland gefragt hatte, hatte dieser unwirsch reagiert und nichts erzählt. Und auch wenn Ruben Greg gefragt hatte, wie ihre Beziehung zueinander war, hüllte sich der ältere Mann in Schweigen. Ruben war der Gedanke gekommen, dass er viel zu jung war, um Gregs Liebhaber oder sogar Partner zu werden. 18 und 32. Das war heftig. Aber er hatte es erfolgreich verdrängt. Doch nun, da er wusste, dass Greg und Carl eine Liebschaft gehabt hatten, da wurde ihm für einen Moment schlecht. Greg hätte es ihm sagen müssen. Spätestens, als er eine Beziehung mit ihm eingegangen war! Und überhaupt. Wieso war er wirklich mit ihm zusammen? War es wirklich seinetwegen? Oder war es vielleicht wegen dem, den Greg in ihm sah? Sah Greg vielleicht nur Carl in ihm? Den Mann, für den er immer etwas empfunden hatte?
Er musste hier dringend weg. Raus aus Kaene Manor, weg von Greg!
Ruben lehnte sein Rad an die Friedhofsmauer und schlüpfte durch das Tor. Seine Schritte lenkten ihn in Richtung Kirche, in der Hoffnung, dass auch zu so später Stunde, noch jemand da war, mit dem er reden konnte.
Als er die Klinke der Kirchentür herunterdrückte, wurde er jedoch von hinten angesprochen.
„Ruben“, es war Vater Clemence. „Was machst du hier so spät?“ Er sah auf deine Armbanduhr, als Ruben sich zu ihm herumdrehte. Dann runzelte er die Stirn. „Ist jetzt nicht Zeit fürs Abendessen?“
Ruben stürzte sich in die Arme des Geistlichen und schluchzte laut. Tränen liefen ihm in Strömen über das Gesicht, während er sich in das schwarze Priestergewand krallte. Sein Kopf ruhte auf Clemence Brust und dieser legte beschützend die Arme um ihn.
„Er hat...er hat...“ Ruben konnte die richtigen Worte nicht finden.
„Ist schon gut, mein Sohn“, sprach der Vater beruhigend auf ihn ein. „Lass es raus.“
So standen sie da vor der Kirche. Der kalte Wind strich ihnen um die Beine, der Tag war fast vorüber. Erst nach ein paar Minuten konnte sich Ruben wieder beruhigen. Er kam sich plötzlich vor, wie ein kleines Kind. Ein dummer kleiner Junge. Deshalb löste er sich schniefend, zupfte unbehaglich seinen Pulli zurecht und sah Clemnce an.
„Der Mann, den ich liebe, war der Liebhaber meines Vaters“, sprach er es laut aus.
Dem Geistlichen schienen beinahe die Gesichtszüge zu entgleisen, doch er fing sich schnell.
„Lass uns das doch bei einer Tasse Tee in meinem Haus besprechen“, meinte er und ging vor, über den Friedhof in Richtung des kleinen Backsteinbaus, am Ende dessen.
Ruben folgte. Dunkle Wolken zogen auf, als sie zwischen den Gräbern entlang liefen. Der erste Tropfen fiel, als Sie das Pfarrhaus betraten.
Es war klein und kaum möbliert. Eine winzige Einbauküche zierte eine Wand. An der anderen stand ein Sofa, ein Tisch und zwei Stühle. Ein schales Bett stand an der anderen Wand. An den Wänden hingen gehäkelte Bilder von Tieren und von Noahs Arche. Dieses Haus gehörte unverkennbar einem Geistlichen.
Ruben setzte sich nach Aufforderung an den kleinen Tisch, während Vater Clemence ihre Jacken an einen Haken neben der Tür hängte und in einem Teekessel Wasser aufsetzte.
„Also“, sagte er. „Erzähl mir, was dich so aufwühlt. Ich werde nicht urteilen.“
Ruben legte den Kopf in den Nacken und sank in seinem Stuhl zusammen.
„Es wird ihnen schwerfallen, das nicht zu tun Vater“, gab er zerknirscht zu.
Immerhin war es ein heftiges Thema und Ruben redete hier mit einem Mann der Kirche. Dennoch war Vater Clemnce jemand, dem er bisher zumindest, alles erzählen konnte und somit die einzige Person mit der er reden wollte.
Der Vater setzte sich zu ihm an den Tisch, stellte die dampfenden Tassen Kamillentee vor sie und seufzte leise.
„Ich bin nicht hier, um Menschen zu verurteilen, sondern um ihnen zuzuhören und ihre Sorgen ernst zu nehmen“, erklärte er ruhig.
„Ich bin mit meinem Patenonkel eine Liebesbeziehung eingegangen“, erzählte Ruben jetzt. Er sah den Geistlichen an. Prüfend, forschend.
„Und weiter“, wurde er ermutigt.
„Die Beziehung lief gut, wenngleich es mir zugegebener Maßen ein wenig zu langsam geht, aber dann habe ich herausgefunden, dass Greg, also mein Patenonkel, eine Beziehung mit meinem Vater hatte und jetzt bin ich verdammt wütend, weil er es mir verschwiegen hat. Weil sie beide es verschwiegen haben.“ Die Wut kochte in ihm hoch. Er zog die Beine unter seinen Stuhl und setzte sich aufrecht hin. „Es scheint, als hätte mein Vater meine Mutter betrogen und das allein macht mich wütend. Es war offenbar das erste Mal und nicht das letzte, das weiß ich aber das ist ein rotes Tuch für mich, weil er sie damit so oft verletzt hat. Sie hatte das nicht verdient!“ Ruben atmete tief durch. „Sie war keine gute Mutter, war nie für mich da und hatte nur Zeit für sich selbst, aber das hatte sie nicht verdient.“
Vater Clemnce räusperte sich.
„Weißt du“, sagte er. „Manche Menschen sind nicht in der Lage sich der Sünde zu widersetzen. Sie machen ein und denselben Fehler immer wieder. Du kannst nichts daran ändern, dass dein Vater deine Mutter betrogen hat, aber du kannst daraus lernen.“
Ruben sah auf.
„Und was soll ich bitte davon lernen?“
„Das Treue wichtig ist, wenn man keine Gefühle verletzen will. Du wirst deinem Greg treu sein. Und was diese Beziehung angeht...“, er machte eine Pause, trank einen Schluck seines Tees und sagte: „Der Altersunterschied ist groß, aber wenn die Liebe rein ist, dann ist nichts Falsches daran. Wenn er dich glücklich macht, dann wird Gott sich für dich freuen. Also rate ich dir, schaffe das Problem aus dem Weg. Rede mit Gregory über seine Beziehung zu Carl und frage ihn, warum er dir diese Tatsache verschwiegen hat.“
Ruben dachte lange über die Worte des Geistlichen nach. Selbst, als er mit dem Rad zurück zu Kaene Manor fuhr, war er sich nicht sicher, ob er wirklich mit Greg darüber reden wollte. Viel mehr war es ihm danach seine Taschen zu packen und einfach abzuhauen. Aber wohin hätte er denn gehen sollen? Also fuhr er zurück, stellte sein Rad in die Garage und trottete mit hängenden Schultern durchnässt vom Regen, hinauf in sein Zimmer.