Friedenszeiten
Belgomir war dank der Künste der Heilkundigen am Hofe des Königs auf dem Wege der Besserung. Das Fieber war zum Glück ausgeblieben und er hatte sich auf seinem Krankenlager erstmals ein wenig aufrichten können. Seinem Vater hatte er berichtet, wie sie auf den riesigen Tross der Askaden getroffen waren, der in Richtung der Kristallstadt zog. Sie hatten den äusseren Rand des Landes gestriffen und waren zusammengestossen. Die Askaden hatten sie sofort angegriffen und Belgomir hatte mit den zehn Jagdbeleitern keine Chance gehabt. Grosses Glück war ihm beschieden gewesen, dass er mit dem Leben davon gekommen war. Seine Jagdbegleiter waren allesamt bei dem Angriff umgekommen.
Leholan hatte inzwischen Nachricht in die Kristallstadt geschickt. Der Bote war heute zurückgekehrt und berichtete ihm vom Angriff der Askaden auf Hatoras Stadt. Bewundernd hatte er dem Bericht über den Kampf Mikkels gegen den Anführer Artron gelauscht. Dieser Mikkel musste ein ungewöhnlich guter und geschickter Lichtkrieger sein. Die Askaden hatten sich zurückgezogen, nachdem ihr Anführer getötet worden war. Sie waren in Richtung des Waldlandes weiter gezogen. Leholan hatte sich mit seinen Beratern darauf verständigt, den Askaden nicht nachzustellen, um Vergeltung zu üben. Sie wären vorbei gezogen und wären sie nicht unglücklicherweise mit dem Jagdtrupp zusammen gestossen, wäre vermutlich überhaupt nichts geschehen. Leholan war heilfroh, seinen Sohn wieder zu haben und auf dem Wege der Besserung zu sehen. Nein, eine weitere Fehde wollte er nun auf keinen Fall anzetteln.
Bengimir hatte seinen Bruder an seinem Krankenlager noch nicht besucht. Er hasste die Gerüche der Salben und Kräuter, die von den Heilkundigen verwendet wurden. Ihm wurde stets übel, wenn sie ihm in die Nase stiegen. Lediglich die besten Genesungswünsche hatte er ihm ausrichten lassen. Die meisten sahen es ihm nach. Er war eben anders. Ein schöner junger Königssohn, aber eben zart und weich. Er hatte halt seinen eigenen Kopf und seine eigenen Vorstellungen.
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Auch Mikkel war von seiner Wunde genesen. Eine Narbe war geblieben, ansonsten hatte er keinen körperlichen Schaden zurück behalten. Die Askaden waren mit dem Leichnam ihres Anführers abgezogen. Das grosse Haupttor war erneuert und die Schäden des Kampfes waren inzwischen fast gänzlich beseitigt. Hatora hatte vor einigen Tagen ein grosses Fest zu Ehren des Sieges gegen die Askaden und zu Ehren Mikkel's abhalten lassen. Sie war sehr stolz auf ihren Schützling und immer mehr wurde er für sie zu dem, was ihr stets verwehr war. Ein eigener Sohn. Auf der anderen Seite wurde Hatora für Mikkel zu einer Art lehrende Mutter, die er sehr verehrte zu der er aufschaute. Sie hatte ihm mit ihrer weisen und liebevollen Art sehr viel gegeben und ihn sehr viel gelehrt. Er hatte grossen Respekt vor ihr und ja, er liebte sie. Fast so wie seine leibliche Mutter. Er war ihr sehr dankbar dafür.
Alturin und Bengolf blieben noch eine ganze Weile in der Kristallstadt und zogen dann irgendwann ihrer Wege. Ein erstes Stück ritten sie gemeinsam und Undra begleitete sie. Danach trennten sie sich. Alturin wollte in der nächsten Zeit noch einmal in das Dorf reiten, in dem Mikkel aufgewachsen war und Bengolf zog es ans Wasser. Ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, wollte er ans Meer. Irgendwie zog es ihn dorthin. Er wusste nicht warum.
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So vergingen die nächsten Jahre. Jahre des Friedens und des weiteren Lernes für Mikkel. Hatora liess nicht nach ihn weiter auszubilden. Nach weiterer Ausbildung an anderen Waffen bildete sie ihn persönlich im Umgang mit den verschiedensten Kristallen aus und vermittelte ihm ein Wissen, dass ihm noch von unschätzbarem Wert sein sollte.
Mikkel war inzwischen über zwölf Jahre alt. Seine Statur jedoch wies ihn als erwachsenen, kräftigen Mann aus, den jeder Fremde als Dreissigjährigen eingestuft hätte. Die Zeit des Lernens war abgeschlossen und Mikkel hatte in den letzten Wochen mehr Zeit für sich selbst gehabt. Er hatte viel nachgedacht. Vor ein paar Wochen war er bei einem Ausritt auf eine junge Eule gestossen, die wohl aus dem Nest gefallen war. Er hatte sie mitgenommen, gepflegt und aufgezogen. Mikkel hatte das Gefühl, dass es auch für ihn an Zeit war, "aus dem Nest zu fallen" und neue, eigene Erfahrungen zu sammeln. Er sprach mit Hatora darüber. Obwohl Hatora tief im Innern nicht begeistert war, sprach sie Mikkel zu und ermutigte ihn, sich selber in der Welt umzusehen.
So machte sich Mikkel einige Tage später auf den Weg. Er führte Decken für sein Nachtlager, Verpflegung für die ersten Tage und sein Schwert und seinen Bogen mit. Als er die kleine Anhöhe erreichte, hielt er an und blickte auf die Kristallstadt zurück. Wie schön sie war! Ein unbeschreiblicher Schimmer umgab sie. Er würde auf jeden Fall bald zurück kommen. Doch nun wollte er zuerst das Dorf seiner Eltern aufsuchen und zu der alten Eiche reiten, dem Platz, an dem er seine Eltern verloren hatte.
Flügelschlag zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mikkel drehte sich zur Seite und sah seine Eule auf ihn zu fliegen. Er hielt seinen Arm ausgestreckt und sofort landete Undine darauf. Sie wippte mit ihrem Kopf auf und nieder. Mikkel ging ganz nah an sie heran und Undine schnäbelte an seiner Nase. "Ja natürlich darfst Du mitkommen, irgendjemand muss ja schliesslich für's Essen sorgen." Lächelnd strich er ihr über ihr Köpfchen, hob den Arm hoch und schon flog Undine voraus. Bei seinem letzten Blick auf die Stadt glaubte er Hatora auf dem Balkon stehen zu sehen, dann ritt er an.
Undine's Spezialität war die Hasenjagd geworden und so gab es am abendlichen Lagerfeuer auf ihrer Reise auch heute wieder Hasenbraten. Nachdem Mikkel mit dem Essen geendet hatte, rauschte Undine heran und landete neben ihm auf dem Boden. Mikkel lehnte sich zurück an einen Baumstamm und setzte Undine auf sein angezogenes Knie. Undine wippte leicht mit ihrem Köpfchen hin und her und hielt dann inne. Dann hob sie ihren Kopf hoch und herunter. Sie war nun ausgewachsen und Mikkel sah den Vogel voller Stolz an. Er war froh, Undine als Begleiterin zu haben. Etwas Besonderes ging von dieser Eule aus.
"Ja ich weiss, Du willst mir etwas sagen. Es ist schade, dass Du nicht sprechen kannst, meine Liebe," sagte Mikkel.
Undine hob ab und nahm zur Nacht auf einem Buchenast Platz. Nachdem Mikkel noch etwas Holz nachgelegt hatte, drehte auch er sich in seine Decke ein und schlief kurz darauf ein. Morgen würden sie an der Lichtung sein.
Gleich nach Sonnenaufgang waren sie aufgebrochen und erreichten etwa zwei Stunden später die Lichtung. Es war nun schon einige Jahre her, dass Mikkel zuletzt hier war. Die alte Knorreiche stand an ihrem angestammten Platz und das Zeichen an ihrem Stamm war auch noch zu sehen. Mikkel ging näher heran. Das Zeichen leuchtete noch, doch zwei der zwölf Sterne ringsherum waren erloschen. Die Erinnerung an seine Eltern und an diesen einen schlimmen Tag kam zurück. In Gedanken hörte er noch einmal den ungeheuer lauten Knall der Explosion. Er legte seine Hände auf die Borke der Eiche. Ein leises angenehmes Brummen war zu hören.
"Du erkennst mich noch?, fragte Mikkel." Wieder brummte die Knorreiche leise. Es beruhigte ihn, dass sich hier nichts verändert hatte, lediglich die Lichtung war stärker zugewachsen. Aber es schien seit Jahren niemand mehr hier gewesen zu sein. Mikkel stieg auf sein Pferd und wollte ins Dorf weiter reiten. Die niedergetretenen Grashalme seitlich von ihm waren ihm nicht aufgefallen. Auch nicht die junge Frau, die sich geschickt hinter den Bäumen vor ihm versteckt hatte.........
Langsam ritt Mikkel weiter und verliess die Lichtung. Undine flog voraus. Unterwegs kamen ihm viele Erinnerungen an das Dorf in den Sinn. Das Haus seiner Eltern, der kleine Platz in der Mitte, das Fest, an dem sein Zeichen sichtbar wurde und vieles Andere mehr.
Mikkel faste in die Tasche seiner Jacke, um sich ein Stück vom getrockneten Schinken heraus zu holen. Dabei fiel ihm das Tuch in die Hände. Das Tuch, dass er schon so lange bei sich trug.
Mahala.
Ja, sie hatte es ihm geschenkt. Er hatte damals gleich hinein geschaut, obwohl er versprochen hatte, dies erst später zu tun. Er klappte das Tuch auf. Die getrocknete Distel war noch immer gut erhalten, etwas blass geworden zwar, aber man konnte sie noch immer gut erkennen. Was wohl aus ihr geworden war?
Mikkel hatte den Rand des Dorfes erreicht. Die letzten Bäume, dann war der Blick auf den Dorfplatz mit dem Brunnen frei. Es war wie damals. Als ware er erst gestern hier weg gegangen. Mikkel machte sein Pferd in der Nähe des Brunnens an einem Pfahl fest. Er schaute sich in alle Richtungen um und wollte zunächst zum Haus seiner Eltern gehen. Da fiel ihm die junge Frau auf. Sie kam aus dem Wald. Einen Korb in ihrer Hand und ein Kopftuch umgebunden. Er kannte es...Sein Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals.
Mahala....!