3. Dezember
Ein Schneeball trifft mich an der Schulter. Es ist jetzt der dritte. Mit einem müden Knurren stehe ich auf und klappe mein Buch zusammen: „Lasst das!“
Kichernd und quiekend laufen die Jungen weg, die mich beworfen haben. Es sind fünf oder sechs, allesamt etwa zehn Jahre alt. Von ihnen kenne ich eigentlich nur Michael, der schon als kleiner Junge zu uns kam. Patrick kenne ich ebenfalls. Er wurde uns von einem anderen Heim abgegeben, die den wilden Jungen nicht mehr bändigen konnten. Kurz nach seiner Ankunft hier hat er die Bande um sich geschart und führt sie jetzt zu immer neuen Streichen an.
„Fängst uns nicht, fängst uns nicht!“, kräht einer der Jungen. Ich ignoriere sie und beginne, zum Haus zurück zu stapfen. Seit gestern Abend neuer Schnee gefallen ist, sind die Jungen aufgedreht wie junge Hunde. Ich stelle den Kragen meiner Jacke höher.
Ein weiterer Schneeball trifft meine Schulter. Diesmal tat der Treffer weh, und zwar sehr. Automatisch fährt meine Hand zu der Stelle und ich drehe mich um. Woher sollte ein Zehnjähriger solche Kraft nehmen? Ich achte nicht darauf, dass das Buch auf den Boden fällt und von Schnee durchtränkt wird. Die Geschichte gefiel mir sowieso nicht.
Es war keiner der Jungen gewesen, die mich beworfen hatten, sondern Jakob. Er grinst mich an, den blonden Lockenschopf vom Wind zerzaust, und winkt: „Mach doch mit, Aiden! Hab mal ein bisschen Spaß!“
Ich schüttele mit finsterem Blick den Kopf. Es gibt da ein paar Dinge, über die ich nachdenken muss. Abgesehen davon, dass Schneeballschlachten kindisch sind.
Die Kinder rufen mir hinterher, dass ich ein Feigling sei. Sollen sie doch, mich können sie nicht reizen. Ich habe die Tür schon fast erreicht, als mich der fünfte Schneeball trifft – diesmal mit aller Wucht an den Hinterkopf. Als ich mich umdrehe, sehe ich nur noch, wie Jakob mir einen gut gezielten zweiten Schuss ins Gesicht feuert. Husten und schnaubend stolpere ich rückwärts gegen die Tür. Mit schrillem Kampfgeschrei stürzen jetzt die Kinder auf mich zu und bombardieren mich mit Schnee. Die Treffer sind nicht hart, aber mein Gesicht schmerzt, als ob meine Nase gebrochen ist. Ich habe Schnee in den Augen. Orientierungslos falle ich auf den Boden. Von überall her stürzt Schnee auf mich, wie eine Lawine. Ich bekomme Angst. Bilder tauchen vor meinem inneren Auge auf: Ich sehe mich selbst lebendig im Schnee begraben oder in der ständigen, eiskalten Flut ertrinkend. Panisch schlage ich um mich. Wie eine Katze, die ins Wasser gefallen ist. Ich erwische Beine und Füße, Kinder schreien oder lachen.
Etwas Härteres trifft mich in den Bauch. Jemand tritt mich, und dass, obwohl ich am Boden liege. Als einer angefangen hat, treffen mich nur noch mehr Tritte. Ich würde mich zusammen rollen, doch überall ist Schnee und Kälte. Ich tue das Einzige, was mir noch bleibt – ich greife selbst an.
Einen Fuß erwische ich und halte ihn fest. Durch den Schnee, den ich aus meinen Augen blinzele, sehe ich Patricks ängstliches Gesicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch angefangen hat. In welchem Kinderheim er sich das abgeguckt hat? Ich halte sein Bein fest und stoße es dann mit aller Kraft von mir, dass der schmächtige Junge auf dem Rücken landet.
Seine Augen sind weit aufgerissen.
Ich höre Jakob schimpfen und rappele mich auf. Ich sehe, wie er zwei Jungen von mir weg zieht. Ich habe die Hände zu Fäusten geballt. Schnaubend vor Wut gehe ich auf Patrick zu: „Du kleines Arschloch! Das wirst du mir büßen!“
Ich will mich auf ihn stürzen.
„Aiden, nicht!“, ruft Jakob. Eine Hand fasst meinen Ärmel und zieht, ich reiße meinen Arm los. Es ist so viel Wut in mir, dass ich plötzlich Hitze spüre. Dann kreischen die Kinder.
Ich wirbele herum, verwirrt und auf einen neuen Angriff gefasst.
Michael liegt im Schnee und hält sich schreiend das Gesicht. Er hatte mich ebenfalls am Ärmel gegriffen, und als ich mich losgerissen habe, muss ich ihn gestoßen haben.
Ich bin noch zu wütend, als dass es mir leid tun könnte, doch ich laufe sofort zu Michael, um ihm hoch zu helfen.
„Fass mich nicht an!“, kreischt er hysterisch. Von irgendwo her kommen mehrere Erzieherinnen gelaufen. Ich starre Michael immer noch entsetzt an.
Sein Gesicht ist rot und voller Blasen, als hätte er sich verbrannt. Die Haut bewegt sich sogar noch. Ich starre auf meine Hände und stolpere dann zurück, unfähig, das alles zu begreifen.
Frau Jäger schiebt ihren massigen Leib an mir vorbei und kniet sich neben Michael. Sie spricht beruhigend auf den Jungen ein, aber ich höre nicht, was sie sagt. In meinen Ohren ist nur Rauschen – oder besser gesagt, Knistern.
Michael. Als wir beide kleiner waren, haben wir uns gut verstanden. Natürlich gab es einen Altersunterschied von siebeneinhalb Jahren. Aber wir waren beide stille Kinder, die lieber lasen oder zeichneten, als zu toben oder Streiche zu spielen. Wir waren viel in der kleinen Bibliothek. Ich habe ihm manchmal vorgelesen oder ihm gute Bücher gezeigt und dann die schwierigen Wörter erklärt. Ich habe ihm auch gezeigt, wie man Farben mischt. Aber vor allem habe ich meinem kleinen Schüler gezeigt, wie man kein Opfer wird, indem man den größeren Jungen keine Angriffsfläche bietet. Wie waren ein, zwei Jahre lang unzertrennlich. Dann wurde ich älter und er bekam mehr Altersgenossen. Sie waren wie Patrick aus anderen Heimen ab-, oder von ihrem Familien zurück gegeben worden. Manche waren auch als größere Kinder verwaist, wenn ihre Eltern Unfälle hatten oder ähnliches. Michael und ich redeten immer weniger und schließlich war eine Kluft zwischen uns. Er hatte sein Alter gefunden und wir merkten, dass wir nicht so viel gemeinsam hatten, wie wir ursprünglich dachten.
Er hat das behalten, was ich ihm beigebracht hatte. Doch scheinbar hat er die Tatsache, dass er kein Opfer war, genutzt, um ein Täter zu werden. Manchmal glaube ich doch, dass es nur Opfer und Täter in dieser Welt gibt – und keinen Zwischenweg, so sehr ich ihn auch suche.