Draco.
Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.
Seit wir unser altes Versteck verlassen mussten, geht alles den Bach runter. Wenn ich nur besser aufgepasst hätte. Wenn Yaxley sich nicht an uns gehängt hätte, könnten wir immer noch dort sein. Ich hätte besser aufpassen müssen. Je mehr ich versuche, Harry zu helfen, umso schlimmer mache ich es.
Ron ist weg.
Es ist meine Schuld, dass Dumbledore tot ist.
Es ist meine Schuld, dass Yaxley im Grimmauld Platz war.
Es ist meine Schuld, dass Ron zersplintert ist.
Und jetzt ist er weg.
Er hatte Recht mit allem, was er zu Harry gesagt hat. Aber wir können Harry nicht alleine lassen. Wir müssen ihm helfen.
Wenn ich nur die richtigen Worte gefunden hätte. Ich wusste doch, dass Ron und Harry schnell streiten und dann Dinge sagen, die sie später bereuen. Ich hätte irgendetwas sagen sollen.
Er ist weg und er kann nicht zurückkommen. Wir haben gewartet, aber er kam nicht, also mussten wir weiter. Und jetzt kann er nicht mehr zu uns finden, weil keiner uns finden kann. Es sind nur noch Harry und ich.
Harry ist wütend und ich glaube, er vermisst Ron, aber er tut so, als wäre alles okay. Nichts ist okay.
Wir wissen nicht, wo die Horkruxe sind, wir wissen nicht, wo das Schwert ist. Wir wissen gar nichts. Wir haben kein Essen und nur ein blödes Zelt und wir wissen nichts. Voldemort wird immer stärker und die Leute reden und der Tagesprophet verbreitet lügen und das Ministerium jagt Muggelgeborene und ...
Es ist einfach nur ein Albtraum.
Ich bin froh, dass du in Hogwarts bist. So bist du wenigstens sicher. Ich weiß nicht, ob ich das alles hier überstehen würde, wenn ich mir auch noch Sorgen um dich machen müsste.
Ich vermisse dich, Draco. Ich liebe dich. Ich liebe dich.
Zitternd brach Hermine den Brief ab. Sie wusste nicht, warum sie schon wieder zur Feder gegriffen und Draco geschrieben hatte. Sie konnte den Brief sowieso nicht abschicken, nicht, ohne Draco in Gefahr zu bringen.
Das Rascheln von nassem Laub verriet ihr, dass Harry von seinem Erkundungstrip zurück war. Schnell faltete sie das Pergament zusammen und stopfte es in ihren nimmervollen Beutel. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, auch wenn sie wusste, dass Harry es durchschauen würde.
Wortlos zog er ein Paket Nudeln aus seinem Umhang hervor. Am liebsten hätte sie ihn gepackt und geschüttelt, doch sie hatte keine Energie übrig dafür. Es war ein unfassbares Risiko, das Harry jedes Mal einging, wenn er in eine Muggelstadt ging und mit Hilfe des Tarnumhangs Essen stahl. Beim ersten Mal hatte sie ihm deutlich ihre Meinung gesagt, aber es hatte nur zu einem heftigen Streit geführt, in dem er am Ende Rons Worte gegen sie verwendet hatte.
Fakt war, dass sie nichts zu essen hatten, und dass Gamps Gesetz der Elementaren Transfiguration es unmöglich machte, Essen aus dem Nichts zu erschaffen. Eine Schüssel Nudeln war besser als ein leerer Magen. Sie wünschte nur, Harry würde nicht regelmäßig seine Entdeckung und damit sein Leben riskieren.
Schweigend entfachte sie einen Topf Wasser über dem Feuer und schüttete die Nudeln hinein. Ohne Salz oder Soße war es nicht lecker, aber sie beschwerte sich nicht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Harry mal wieder die Karte des Herumtreibers hervorzog und gründlich absuchte. Sie vermutete, dass er hoffte, Ron auf der Karte entdecken zu können. Am liebsten würde sie ihm die Karte aus der Hand reißen und ihm sagen, wie sinnlos das war, doch sie ahnte, dass er das selbst wusste.
Manchmal war sie versucht, ihn zu bitten, dass sie auch einen Blick auf die Karte werfen durfte. Sie wollte Draco sehen. Sie wollte sehen, dass er seinem normalen Schulalltag nachging. Doch wenn sie das tat, würde Harry nur Verdacht schöpfen. Sie durfte nicht riskieren, dass er auch nur den geringsten Grund hatte, sich von ihr zu trennen. Alleine würde er seine Mission niemals erfüllen, und sie würde sich nur noch mehr Vorwürfe machen. Sie hatte schon genug angestellt.
Das Essen verlief ebenso schweigend wie der Rest des Tages. Harry warf ihr nur einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder mit der Karte auf einen Sessel verzog. Grimmig kümmerte sie sich darum, das Geschirr zu säubern und wieder zu verstauen. Schon als Ron noch dagewesen war, hatte sie die meiste Zeit die Aufgaben übernommen, die mit einem normalen Haushalt einhergingen. Dass Harry nun anscheinend alles ihr alleine überlassen wollte, brachte sie innerlich zum Kochen.
Genervt von sich und der Welt griff Hermine zu dem Buch mit den Märchen von Beedle, dem Barden. Sie wusste selbst nicht so genau, was sie sich davon erhofft, aber wenn Dumbledore es ihr überlassen hatte, würde es schon irgendeine Bedeutung haben. Sie hatten keine Spur, der sie folgen konnten, also musste sie eine finden. Es musste einfach etwas in diesem Buch sein.
***
Im letzten Moment konnte Draco sich wegducken. Er hatte den Fluch nicht kommen sehen und keine Möglichkeit gehabt, sich dagegen zu wehren. Mit einem Krachen schlug der Zauber hinter ihm in die Wand ein.
„Sehr gut, Mr. Crabbe", applaudierte Carrow, der neue Lehrer für die Dunklen Künste: „Ich sehe, dass zumindest einer in dieser Klasse versteht, worum es beim Praktizieren der Dunklen Künste geht."
Seine scharfen Augen richteten sich auf Draco, der gerade aus seiner geduckten Haltung aufstand: „Mr. Malfoy, können Sie mir vielleicht beantworten, was das wichtigste ist, wenn man die Dunklen Künste erfolgreich anwenden will?"
Er wusste, warum der Professor ausgerechnet ihn danach fragte. Die beiden Carrows waren mit auf dem Astronomieturm gewesen, als er Dumbledore gestellt hatte. Sie hatten gesehen, dass er nicht den Willen besessen hatte, um den Schulleiter zu töten. Grimmig erwiderte er: „Man muss es wollen. Man muss die Intention haben, mit seinem Spruch erfolgreich zu sein."
Ein beinahe wölfisches Grinsen erschien auf dem Gesicht seines Lehrers: „Sehr richtig! Fünf Punkte für Slytherin. Nun, Mr. Crabbe, vielleicht können Sie der Klasse verraten, wie es Ihnen gelingt, so viele mächtige Flüche zu sprechen?"
Alle Augen richteten sich auf Crabbe, der unter dem Lob des Lehrers förmlich aufzublühen schien. Stolz blähte er seine sowieso schon massige Brust auf: „Ich will gewinnen. Auch wenn wir hier nur üben, ich will gewinnen."
„Gesprochen wie ein wahrer Zauberer", lobte Carrow ihn: „Der Wille, den Gegner zu besiegen, ist absolut notwendig, wenn man ein Duell gewinnen möchte. Sie können noch so gut als Zauberer oder Hexe sein, noch so geschickt mit ihren Sprüchen, das alles wird Ihnen in der echten Welt nicht helfen. Wenn Sie zögern, wenn Sie nicht wirklich Ihren Gegner besiegen wollen, dann werden Sie immer langsamer und schwächer sein. Flüche aus dem Bereich der Dunklen Künste sind anderen Zaubersprüchen immer überlegen. Immer. Um diese Flüche anwenden zu können, müssen Sie es wirklich wollen."
Die Schüler aus Slytherin hingen förmlich an den Lippen des Lehrers, während er im Klassenraum auf und ab ging. Wie immer in diesem Schuljahr waren alle Tische und Stühle beiseite geräumt worden, um Platz zu machen zum Duellieren. Jetzt schritt Carrow vor ihnen im Kreis, sein Blick suchte immer wieder die Gesichter verschiedener Schüler, als wollte er seine Botschaft jedem einzelnen ins Gedächtnis brennen. Entschlossen, keine Schwäche zu zeigen, hielt Draco dem Blick stand. Er verstand sehr gut, was Carrow hier tat, und auch, wenn es ihm missfiel, würde er das niemals öffentlich zeigen.
„Unterschätzen Sie niemals Ihren Gegner", fuhr Carrow fort, während sein Blick weiter durch die Runde wanderte: „Sie wissen nie, welche Tricks ein Gegner auf Lager hat. Selbst eine zierliche Hexe kann sich als hinterhältig und gerissen erweisen. Selbst ein massiger Gegner kann überraschend wendig und schnell sein. Wenn Ihr Gegner bereit ist, die Dunklen Künste anzuwenden, und Sie mit einem Expelliarmus antworten, werden Sie verlieren."
Gegen seinen Willen musste Draco grinsen. Alleine der Gedanke, in einem echten Duell einen simplen Entwaffnungszauber zu sprechen, war lächerlich. Das war vermutlich der Punkt, auf den Carrow hinaus wollte, denn mehrere Schüler im Raum kicherten ebenfalls.
„Endlich haben wir einen kompetenten Lehrer", flüsterte Pansy neben ihm leise: „Ich finde es gut, dass wir endlich die Dunklen Künste lernen, anstatt immer nur die Verteidigung dagegen."
Innerlich war Draco hin- und hergerissen. Einerseits fand er das Thema tatsächlich selbst faszinierend, andererseits war es definitiv nicht richtig, von einem hochrangigen Todesser darin unterrichtet zu werden. In einer selbstgefälligen Geste kreuzte er die Arme vor der Brust: „Professor Carrow weiß wenigstens, wovon er spricht."
Pansys Augen leuchteten auf: „Er ist ein Todesser, oder?"
„Du weißt, dass ich über solche Dinge nicht sprechen kann", erwiderte Draco leise und ernst. Obwohl er das vor allem sagte, weil es zu dem geheimnisvollen Bild passte, das Pansy offensichtlich von ihm hatte, lag doch ein wenig Wahrheit darin. Er wusste nicht, ob die Öffentlichkeit wissen durfte, dass die Carrows Todesser waren, also schwieg er lieber.
„Natürlich isser das", grunze Crabbe neben ihnen.
Augenblicklich verspannte sich Dracos Kiefer. Warum war Crabbe nur so versessen darauf, ihn vor seinen Freunden schlecht dastehen zu lassen. Hatte er ihm immer noch nicht verziehen, dass er letztes Jahr mit Vielsafttrank als junges Mädchen Schmiere stehen musste? Oder wusste er wirklich mehr, als er wissen durfte?
„Wenn du das sagst", gab Draco kühl zurück, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Er würde nicht vor Crabbe die Beherrschung verlieren. Obwohl er erstaunlich gut im Duellieren war, war er immer noch derselbe Dummkopf wie zuvor.
Voller Arroganz verschränkte Crabbe die Arme vor der Brust: „Er hat's mir gezeigt, weißt du? Sein Mal."
Pansys Augen wurden groß, doch Draco konnte darüber nur lachen: „Na klar hat er das. Sicher."
„Hat er wirklich!", mischte sich jetzt Goyle ein, der auf der anderen Seite der kleinen Gruppe stand: „Crabbe hat's mir direkt erzählt, nachdem er von seiner Extrastunde mit Carrow zurückgekommen ist."
„Und das ist jetzt ein Beweis?"
„Ich glaube das auch nicht", verkündete Pansy plötzlich und hakte sich bei Draco unter: „Kein Todesser ist so dumm, sich einfach so dazu zu bekennen. Die Zaubererwelt ist noch nicht bereit, die Wahrheit anzuerkennen, die Ihr-wisst-schon-wer zu verkünden hat, also schweigen seine Anhänger. Wer so den Mund aufreißt wie du, Crabbe, der meint es offensichtlich nicht ernst."
Gerade so konnte Draco noch das Lob runterschlucken, das er unwillkürlich hatte aussprechen wollen. Wer hätte gedacht, dass Pansy ihm tatsächlich einmal so direkt zu Hilfe kommen würde? Und dass sowohl Crabbe als auch Goyle plötzlich wieder ziemlich dümmlich aus der Wäsche schauten, setzte dem Ganzen eine Krone auf.
„Was wird denn da so getuschelt, meine Herrschaften?", peitschte plötzlich die kalte Stimme ihres Lehrers durch den Raum. Unwillkürlich traten alle vier einen Schritt zurück.
„Wir haben nur den Inhalt der heutigen Stunde besprochen", säuselte Pansy, während sie Carrow einen unschuldigen Augenaufschlag schenkte.
„Während die Stunde noch in Gange ist?", schmetterte Carrow ihre Worte ab: „Das ist erstens nicht höflich und zweitens verpassen Sie die Hälfte."
Mit geröteten Wangen senkte Pansy den Blick. Dracos Kiefer mahlten aufeinander, doch er hatte ebenfalls nichts zu ihrer Verteidigung zu sagen. Es störte ihn, dass Carrow sie so offen bloßgestellt hatte. Insgeheim fragte er sich, ob der Professor nicht einfach nur nach jeder Gelegenheit suchte, um ihn zu ärgern. Er fand es offensichtlich lustig, dass Snape auf dem Astronomieturm die Sache hatte beenden müssen. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass Carrow ihn nicht im Laufe des Schuljahres vor allen bloßstellte. Wenn seine Mitschüler erfahren würden, dass er nicht der Held war, den sie in ihm sahen, würde sein Ansehen direkt wieder in den Keller stürzen, so wie im letzten Jahr.
Mit einem Seufzen blickte er zu Professor Carrow. Hätte er sich vor zwei Jahren gefreut, ihn als Lehrer zu haben? Damals hatte er auch begierig jede Macht, die Umbridge ihm übertragen wollte, angenommen und ausgelebt. Er wusste, dass es vor allem Hermine zu verdanken war, dass er die Dinge inzwischen klarer sah. Aber die Angst, die Todesangst, die er das ganze letzte Jahre über verspürt hatte, und die ihn auch heute noch nicht ganz verlassen hatte, war ebenfalls sehr real gewesen. Vielleicht war es das, was ihn wirklich so verändert hatte: die Konfrontation mit der Realität.
Wenn Crabbe oder Pansy sich wirklich auf Leben und Tod duellieren müssten, wenn sie so wie er Todesangst hätten, dann würden sie sicherlich nicht mehr so großspurig daherreden und so tun, als wäre es cool, anderen Menschen Grausames anzutun.
Da war sich Draco sehr sicher.