Kapitel 3
Das Ei
Auch wenn es Sommerferien waren, war Naho trotzdem den halben Tag außer Haus. Sie spielte Theater und das nicht einmal schlecht. In der Schule nahm sie an der Theater AG teil, und spielte dort, im letzen Schuljahr, bereits zum dritten Mal eine Hauptrolle. Oliver Twist. Naho war grade einmal dreizehn, beendete nun grade die siebte Klasse, und wusste trotzdem schon was sie später einmal machen will. Theater spielen, wer hätte es erwartet. Mit ihren guten Noten (sie schreib eigentlich nur Zweien uns Einsen) hätte sie wohl alles werden können, aber das Schauspielern war ihre Leidenschaft, ihr Leben. Alternativen standen ihr offen, anders wie bei Lou. Sie schaffte grade so, mit mühen und brechen, ihren Abschluss und wartete nun schon seit einem Jahr auf ihre Lebensaufgabe. Sie wohnte immer noch Zuhause, obwohl viele ihrer Klassenkameraden bereits ihre eigene Wohnung hatten. Jobs, Ausbildungen, denn Partner der Träume... alle waren erfolgreich, nur Lou nicht. Irgendwas musste doch auch sie gut können.
„Und? Heute wurden doch die Rollen bekannt gegeben, oder? Hast du wieder eine Hauptrolle abgesahnt?", fragte Lou ihre jüngere Schwester, und schob sich eine volle Gabel Nudeln mit Tomatensoße in den Mund. Penne. „Nein.", antwortete ihre kleine Schwester, mit den hüftlangen, lockigen, dunkelbraunen Haaren. „Aber das wollte ich auch gar nicht. ", „Nicht?".
„Nein. Eine Nebenrolle passte einfach besser zu mir. Ein armes Bauernmädchen, eigentlich die Gegenspielerin der Hauptrolle. Ich wollte mal was anderes probieren. Böse durfte ich noch nie sein. Aber die Gruppe versucht die Wünsche von jedem zu berücksichtigen. Nicht so wie die AG Leiterin aus der Schule.", lächelte Naho und aß ebenfalls etwas von ihren Nudeln. „Dann Glückwunsch.", lächelte auch Lou.
Sie verstand sich gut mit ihren Geschwistern. Manchmal eskalierte es zwar auch, es wurde geschrien, geflucht und das ein oder andere ging zu Bruch. Aber das wichtigste war, das man sich wieder vertrug. Streit war manchmal unausweichlich. Ihre Oma sagte immer, dass sie sich streiten durften, aber nie wütend auf einander ins Bett gehen.
Das hatte sie gesagt, als Naho mit vier Jahren und aufgeschürften Knien auf ihrem Schoß saß, genauso verheult wie Lou es war, die auf dem Sofaplatz daneben zusammengekauert sitze. Beide hatten sich darum gezankt, wer mit dem Hund der Nachbarn halten durfte, als ihre Oma auf ihn aufpassen sollte. Ein kleiner süßer Yorkshire- Terrier. In dem Gerangel um die Leine fiel Naho hin, und Lou hatte sie dafür auch noch angeschrien. „Du bist echt für alles zu doof!", schrie sie damals. Sie war damals viel eifersüchtig auf ihre kleine Schwester. Schon damals war sie ein Wunderkind, lernte alles viel schneller als Lou, und wollte dabei nichts anderes als die Aufmerksamkeit ihrer großen Schwester ergattern. Sie waren wohl eine klassische Klischee- Familie. Beinahe Zehn Jahre war das nun schon her, und es tat ihr immer noch weh, wenn sie daran denken musste. Auch wenn Naho sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Bis zu dem Vorfall, wünschte Lou sich ebenfalls einen Hund. Als sie dann aber ihre Schwester dort weinend sah, verging ihr der Wunsch. Als Trost holte die Familie eine Katze. Eine grau- weiß getigerte, mit dem Namen: Mentos. Mentos war damals bereits zwei Jahre alt, und verbrachte mittlerweile ihre Tage damit, in der Sonne zu liegen und zu schlafen. Jeden Abend kam sie herein, aß etwas und kuschelte sich zu einem der Kinder ins Bett. Da Wolle nun nicht mehr da war, kümmerten nur noch Naho und Lou sich um die alte Katze. Vielleicht kümmerte sich die Katze aber auch eher um die beiden. Abwechselnd schlief sie bei Lou und bei Naho, als hätte sie Angst, das es sonst Streit gäbe. Ja, Mentos war schon eine besondere Katze.
Lou und Naho erzählten sich noch ein wenig von ihrem Vormittag und räumten, im Anschluss des Essens, noch die Küche auf, bevor Naho in ihr Zimmer, zum Text lernen, verschwand. Lou schnappte sich ein paar schöne Servietten, um das Ei noch mehr in Szene setzen zu können, und verschwand ebenfalls in ihrem Zimmer. Noch in den Gedanken an Naho und ihr Theaterstück, ließ Lou sich auf ihr Bett fallen. Knack! Lou erschrak, riss die Augen auf und hörte einen kurzen Moment auf zu atmen. Schnell sprang sie von ihrem Bett auf. „Das Ei!", schrie sie in Gedanken; „Nicht das Ei!". Die untere Seite des Ei's war noch ganz, die Obere lag in großen und kleinen Bruchstücken daneben. Einige ganz kleine da, wo sie eben noch gelegen hatte. Zerquetsch, logisch, aber so konnte doch niemand drauf fallen. Es musste schon vorher kaputt gewesen sein. „Vielleicht war es schon brüchig, und ist jetzt gesprungen.", sprach sie leise. „Oder es kam etwas raus.", hörte sie eine Stimme sagen. „Ja, vielleicht.", antwortete Lou, ehe sie wieder erschrak. Wer hatte das gesagt? „Was..?", fragte Lou wieder. Mehr brachte sie aus Angst nicht heraus. Obwohl die Stimme nicht so klang, als müsste man Angst vor ihr haben. Sie war eher niedlich. Wie ein kleines Mädchen, oder so wie man sich ein kleines, sprechendes Tier vorstellen konnte. „Wo...", begann Lou einen neuen Satz, beendete aber auch diesen nicht. „Stellst du auch einmal eine der Fragen zu Ende?", harkte die Stimme nun nach. Irgendwoher kannte sie diese Stimme doch. „Ja. Nein. Ich..", stotterte Lou nun weiter. Wieder einmal schüttelte sie den Kopf. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, ehe sie sich ihr Schlafzimmer noch einmal in Ruhe ansah. Irgendwoher musste die Stimme doch kommen. Da war das große Bett genau vor ihr. Mit der Kopf- und der linken Seite an den Wänden. Rechts daneben ihr geliebter Nachtisch, dank dem sie jetzt scheinbar Halluzinationen hatte. Daneben folgten drei Bücherregale, mit Comics und Manga, über Eck. Rechts von ihr stand ihr Schminktisch, rechts hinter ihr war der Kleiderschrank. Direkt hinter Lou war die Tür und eine kleine Sitzbank. Fertig. Den Rest der linken Wand zierte nur ein selbst gemaltes Wandbild eines Drachen, das der Maler ihr damals hingezaubert hatte, als er eigentlich im Erdgeschoss den Flur neu streichen sollte. Der Teppich lag auch da wo er immer war. Genau wie ihre Plüschtiere, oben auf den Regalen und am Fußende des Bettes.
Der Schrank war geschlossen und die Stimme klang klar, somit kam Lou erst gar nicht auf die Idee, dort nachzusehen. „Sag, wer bist du?", wurde sie nun von der Stimme gefragt. „Lou,", antwortete sie; „Und du?".
„Ich habe keinen Namen."
„Wieso nicht?".
„Man hat mir noch keinen gegeben.".
Dann erst sah sie, das sich etwas zwischen ihren Plüschtieren bewegte, und ein kleines, weißes (mit schwarzen Flecken um den Augen)... Etwas, krabbelte auf ihre Bettdecke. Lou zog eine Augenbraue hoch, und betrachtete das Tier vor ihr. Eine Art riesige Ratte, nur ohne Schwanz. Und waren das Hörner, zwischen den Ohren?!
„Cuerno Cobaya.", flüsterte Lou, und starrte das Tier mit offenem Mund an. Das Tier blickte sie ebenfalls an. „Woher weißt du das?", fragte es. „Ich weiß nicht.", Lou fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Wir haben schon einmal gesprochen, oder? In meinem Traum letze Nacht.".
„Ich glaube ja.".
„Was bedeutet Cuerno Cobaya? Und was bist du? Eine schwanzlose Ratte? Die sprechen kann? Ich muss wirklich Dolle auf den Kopf gefallen sein.", Lou lachte, aber weniger lustig. Es war eher sarkastisch, irreal.
Das Wesen schien sie böse anzusehen. „Ich bin doch keine Ratte!", schien das Nagetier zu knurren. „Cuerno Cobaya, bedeutet Horn Meerschweinchen! Ratte, ist eine ziemliche Beleidung, für ein so edles Wesen wie mich! Schließlich bin ein Geisterwesen!". Edel? Meerschweinchen waren vieles, aber nicht edel. Mehr wie sich vermehren und laut herum schreien konnten die doch gar nicht. Pferde konnten Edel sein, oder Königspudel, Siam Katzen, aber doch keine Meerschweinchen.
Wieder zog Lou eine Augenbraue hoch, und musterte das Wesen vor ihr genau. Das Fell weiß und struppig. Die Pfötchen, das rechte Ohr und die Nase waren rosa. Ein großes gezacktes Stück Fell um das Auge herum war schwarz, ebenso wie auf der linken Seite, nur dass es dort auch das Ohr mit einnahm. Die Hörner waren etwa so hoch wie die Ohren, am Ansatz leicht rosa, der Rest war ebenfalls schwarz. Insgesamt ein eher schlicht gehaltenes Farbschema.
Einige Sekunden vergingen schweigend, ehe Lou sich neben das Tier auf das Bett setze und ihre erste Frage stellte. Sie hatte viele fragen, wusste aber nicht, ob es klug war sie zu stellen. „Du kommst aus Peru, richtig? Wieso kannst du dann meine Sprache?".
„Ich schätze, wir sind verbunden, so konnte ich sie lernen." .
„Und du bist echt?", wieder einmal lachte Lou, dieses Mal echt. Aber das Wesen schien sie böse anzublicken. „Natürlich!", schrie es sie plötzlich an. "Natürlich!", dachte Lou mit sarkastischem Unterton.
Vorsichtig stupste sie es mit dem Finger an. Das Wesen sprang auf, erschlag, und blickte sie erneut böse an. Es war weich und warm. Konnten Träume so sein? Lebendig? Konnte man Dinge in Träumen wirklich spüren?
Lou ging in ihrem Zimmer auf und ab. Ein sprechendes Nagetier saß auf ihrem Bett, und sie unterhielt sich mit ihm bereits schon seit knapp einer halben Stunde. Einige ihrer Fragen fanden Antworten, einige Antworten fanden neue Fragen. Insgesamt war die Situation ziemlich bizarr.
Ein Cuerno Cobaya war also ein Geisterwesen, ein Meerschweinchen mit Hörner und Sprache. Es wurde aus dem Ei weniger geboren, als vielmehr aus einem langen schlaf erwacht wurden. Weil das weiße Fellknäul eines der Letzen war, hat es noch nie andere getroffen, aber es spürte das es noch andere gab. Oder schien dieses zumindest zu vermuten. Geisterwesen haben die Aufgabe, ihrem Menschen zu dienen, sie zu unterstützen, wobei auch immer das sein sollte. Sie hatten alle unterschiedliche Kräfte, was ihre war, wusste sie noch gar nicht. Aber das Tier wusste, dass es eine sie war. Also ein Weibchen. „Immerhin etwas.", dachte Lou: „Aber kontrollieren werde ich das sicher nicht.". Aber sie war noch namenslos. Sie erzählte, dass sie bereits einmal einem Menschen diente, damals aber noch zu jung war, und somit noch kraftlos. Mehr wollte sie nicht erzählen. Nachdem sie das sagte, drehte sie den Kopf weg und starrte die Comics an. Lou fragte, wie ihr voriger Mensch so war, aber eine Antwort bekam sie nie. Was Lou jedoch schnell klar wurde war, das sie das Wesen wohl so schnell nicht mehr los werden würde. Dass es bei ihr bleiben würde. Ob es nun gut oder schlecht war, würde sich noch zeigen müssen. Definitiv, konnte sie niemanden davon erzählen. Man würde sie für verrückt halten, zu Ärzten schleppen, vielleicht weg sperren. Und das Tier würden sie in irgendeinem Labor, tief unter der Erde unterbringen. Es vermutlich quälen oder sezieren. Die Wissenschaftler würden behaupten, es wäre für das Allgemeinwohl. Vermutlich das es sich hierbei um eine Waffe handeln würde. Eine neue Erfinden aus dem Ausland.
Außerdem liebte Lou Tiere, seit Jahren schon verzichtet sie Freiwillig auf Fleisch, und niemand sollte solche Qualen erleben müssen, wie die Tiere in Versuchslaboren und auf den riesigen Schlachthöfen, wo es um nichts anderes als den Gewinn geht. So etwas wünschte sie niemanden, nicht einmal dem Mädchen, damals, aus der siebten Klasse, die im Sportunterricht immer Lou auslachte, weil sie nicht so sportlich war wie die anderen Mädchen. Und in Mathe dann das selbe Spiel, nur anders herum, spielte, weil Lou eine der wenigen war die es verstand. Ob man etwas konnte oder nicht, es war immer das Falsche. Damals hatte Lou noch auf das hören wollen was die anderen sagten, sie wollte dazu gehören. Für Sport gab sie sich extra Mühe und in Mathe stellte sie sich extra dumm. Aber auch das war nicht richtig. Nichts war richtig. In der achten Klasse hatte Lou dann auch bemerkte wie dämlich das alles war. Sie brauchte den anderen Mädchen nicht zu gefallen, nur sich selbst. Und auch wenn sie etwas dicker war, und ihre Haut auch nicht grade der eines Models glich, war sie trotzdem zufrieden. Und sie hatte ja Kaja, mehr brauchte sie nicht. Nur eine gute Freundin die sie verstand, mit der sie lachen und Eis essen konnte.