Justus war fünfzehn. Genauso alt wie der Krieg, der das Land verwüstete. Der Junge hatte seine Heimatstadt, die auf den alten Fotos seiner Eltern einmal sehr schön ausgesehen hatte, so niemals kennengelernt. Er kannte nur den Staub, die Ruinen und die Menschen, die dazwischen versuchten, ihr Leben zu bewältigen und genug Nahrung auf den Tisch zu bekommen. Die jeden Tag aufs Neue hofften, es würde keinen Fliegeralarm geben und keine Bomben vom Himmel fallen.
Das war grauer Alltag für den Jungen, der, wie jeden sonstigen Tag auch, zusammen mit anderen Gleichaltrigen in einer Schule saß, deren Wände von der Wucht zahlreicher Detonationen rissig geworden waren und die bereits etliche Scheiben eingebüßt hatte. Im Winter war es irrsinnig kalt in den Zimmern, sodass man oft kaum den Griffel halten konnte und Sorge hatte, die Tinte würde in den Gefäßen festfrieren. Die kaputten Fenster zogen alle Wärme heraus, die die kleinen Öfen, die man zum Heizen aufgestellt hatte, produzieren konnten. Doch Justus machte das nichts aus. So elend es auch sein mochte, trug der Junge die Hoffnung in sich, dass der Krieg eines Tages enden und es ihnen allen wieder besser gehen würde.
Justus blickte sich in dem Klassenzimmer um. Viele ältere Burschen waren nicht mehr anwesend, sondern hatten sich für die Armee verpflichten lassen. Diese zahlte jeder Familie eine gute Ablösesumme für ihre Söhne. Dem Jugendlichen kam es so vor, als würde das Militär sich mit dem Geld schon im Voraus dafür entschuldigen, dass die jungen Männer nicht mehr nach Hause kommen würden.
Auch Justus‘ Bruder Adalbert war gegangen und in einer Holzkiste zurückgekommen. Ihr Vater, der zu Beginn des Krieges selbst Soldat gewesen war, war durch eine Schrapnellwunde untauglich geworden und zu Anfang unermesslich stolz auf seinen Ältesten gewesen, weil dieser sich freiwillig gemeldet hatte. An seinem Verlust jedoch war der Mann zerbrochen und hatte es seinem jüngeren Sohn ausdrücklich verboten, sich selbst und sein Leben für diesen sinnlosen Kampf hinzugeben, bei dem es keine Gewinner gab. Nur Tote.
Justus war das nur recht. Er hatte nicht vorgehabt, zur Armee zu gehen, hatte den Tod seines Bruders selbst noch nicht verwunden und war froh, dass sein alter Herr einen Truppeneintritt nun auch nicht mehr von ihm verlangen würde. Justus war nicht böse auf den vermeintlichen Feind, gegen den sein Vaterland Krieg führte. Er war böse auf seine Heimat, weil sie es nicht schaffte, diesem Weltenbrand ein Ende zu setzen, auf friedliche Art, statt immer mehr junge Leute sinnlos in den Kampf zu schicken.
Das Räuspern des alten Lehrers riss den Jungen aus seinen verdrießlichen Gedanken und er hob den Kopf. Der Mann, der bereits grau war und eingefallen aussah, schob sich die Brille höher auf die Nase.
»Wiederholt die heutigen Lektionen vor der nächsten Stunde. Vielleicht schreibe ich mit euch eine Arbeit darüber. Ihr könnt gehen!«, brummte er. Seine Stimme war rau wie Sandpapier.
Durch das Scharren der Schuhe und die hallenden Schritte der Schüler auf dem Holzboden schwoll der Lärmpegel erheblich ab, bis alle Kinder das heruntergekommene Schulgebäude verlassen hatten.
»Eh, Justus, kommst du mit zum Fritz? Dem seine Tante hat heute Waschtag, wenn du verstehst«, lachte ein Bursche, der etwas jünger war als Justus. Der Junge hieß Konrad und war der Letzte von sechs Söhnen, der noch am Leben war und sein Vater, ein eingefleischter, fast fanatischer Patriot, schien nur darauf zu warten, dass sein Jüngster alt genug war, um ihn auch zur Armee zu schicken. Immerhin war es die oberste Pflicht aller landestreuen Familien, die Söhne als Soldaten für den Sieg der Heimat zu geben. Vielleicht war der Alte auch nur hinter der Abfindung her und froh, einen guten Esser vom Tisch loszuwerden. Der Jugendliche mochte Konrad nicht, doch der hatte das noch nicht begriffen.
Die anderen Burschen lachten. Sie waren ganz aufgeregt bei dem Gedanken, die Unterwäsche einer Frau zu Gesicht zu bekommen, doch Justus wollte keine Zeit mit ihnen verbringen.
»Nee, keine Lust«, murmelte er deshalb und schulterte seine zerschlissene Schultasche. Sie hatte einmal Adalbert gehört und irgendwie fühlte es sich für den Jugendlichen gut an, sie zu haben. Er mochte es, das raue Leder mit den Handflächen zu berühren, wenn er aufgeregt war. Das beruhigte ihn, wie es sonst sein Bruder getan hatte.
»Was ist denn mit dir? Du hast keine Lust auf Nachthemden und Unterröcke?«
»Nein. Außerdem hat meine Mutter das Essen fertig. Es gibt gelbe Bohnen, das lass’ ich nicht ausfallen!«
An Gemüse heranzukommen, war durch den Krieg ein regelrechter Kraftakt geworden, da alles rationiert wurde. In diesem Falle war es jedoch nur eine Ausrede, um nicht mit diesem fürchterlich lauten und anstrengenden Jungen zusammensein zu müssen.
Konrad sah Justus mit einem aufmüpfigen Grinsen um den Mund an. »Na, du warst ja schon immer ein komischer Käfer. Dann geh’ zu deinen Bohnen, während wir was fürs Leben lernen.«
Schnatternd und lachend wandte sich die Traube aus halbstarken und viel zu neugierigen Burschen ab und man zerstreute sich in alle Winde inmitten der tristen Stadt.
Justus atmete tief durch und trabte langsam, mit gesenktem Blick, nach Hause. Das Gebäude war vor langer Zeit sicher einmal schön gewesen, denn man konnte die Reste des eleganten Stucks rund um die Fenster und am Giebel noch sehen. Auch hier hatten Detonationen, Geschützfeuer und das viel zu lange Fehlen von Restaurierungsarbeiten jedoch inzwischen ihre Spuren hinterlassen. Das Ladengeschäft im Erdgeschoss, ein Optiker, war schon lange geschlossen und die großen Schaufenster mit Holzplatten vernagelt. So schützte man sich vor Plünderern, die immer dann, wenn die Rationierungen strenger und die Mahlzeiten kleiner wurden, in die Häuser anderer Leute einstiegen und diese beraubten.
Doch momentan ging es den meisten Menschen gut. Seit dem letzten Bombenangriff waren Monate vergangen und die Situation hatte sich etwas entspannt. Nur die ständigen Fliegeralarmübungen, die trostlos wirkende Stadt um sie herum und die Trauer über den Verlust von Angehörigen ließ die Menschen niemals vergessen, dass sie sich im Krieg befanden.
Justus betrat das Haus durch den Vordereingang, deren Türe der Vater mit Holzbohlen verstärkt hatte, nachdem diese durch einen furchtbar feuchten Winter morsch geworden war. Rechts in dem Gang lag der Zugang zum ehemaligen Ladengeschäft.
Die Treppe hinauf befanden sich zwei Wohnungen, von denen eine dem Optiker gehört hatte und leer stand, und eine dritte, sehr kleine, lag im Dachgeschoss. Bis letzten Sommer hatte dort ein junger Mann gewohnt, doch den hatte die Polizei abgeholt und ins Zuchthaus gesteckt. Der Jugendliche hatte nicht verstanden, warum, bis sein Bruder ihm erklärt hatte, dass man ihren Nachbar mitgenommen hatte, weil er homosexuell war - einer dieser verqueren Männer, die sich von Frauen ab- und stattdessen ihrem eigenen Geschlecht zugewandt hatten. Das war in ihrem Land jedoch eine Straftat und Gefängnis war noch eine milde Bestrafung - normalerweise stand darauf der Tod am Galgen.
Insgeheim hatte Justus die Verhaftung bedauert, denn der junge Mann war Musiker gewesen und der Jugendliche hatte es gemocht, sein Geigenspiel durch den Hausflur hallen oder durch das geöffnete Fenster zu hören. Wen interessierte es da, ob er lieber Männer gemocht hatte? Gesagt hatte der Junge jedoch nichts. Es tat nicht gut, sich kritisch gegen etwas zu äußern, was in ihrem Land geschah.
Oben angekommen, betrat er die elterliche Wohnung und war allein dort, denn sein Vater war zum Arbeiten in die Fabrik gegangen und seine Mutter verdiente ein paar Groschen dazu, indem sie für Menschen, denen es besser ging, Näharbeiten verrichtete. Meist tat sie das zuhause, doch manchmal auch nicht.
Mit einer Scheibe trockenen Brotes betrat er das Zimmer, das er bis zu dessen Tod mit Adalbert geteilt hatte. Seine Hälfte des Raumes sah noch immer so aus wie an dem Tag, als er fortgegangen war. Bis auf das Bild mit dem schwarzen Trauerflor, das auf dem Nachttisch stand und die Blumen, die seine Mutter auf die Tagesdecke gelegt hatte.
Justus hätte das ganze Zeug gern aus dem Zimmer gehabt, da er so ständig die Erinnerung vor Augen hatte, dass jemand in der Familie fehlte. Der Junge wusste zwar, dass es immer so bleiben würde, doch es belastete ihn, als erstes nach dem Aufwachen morgens das Bild von Adalbert in seiner Uniform zu sehen. Seufzend legte Justus seine Schulsachen auf den Schreibtisch und setzte sich an diesen. Während draußen die Sonne herauskam, stützte der Junge sein Kinn auf den Handballen und überblickte den Raum.
Nein, zum Hausaufgaben machen fehlte dem Jugendlichen gerade jede Ruhe. Ihm fiel hier die Decke auf den Kopf. Ohne weiteren Blick stand Justus auf, schlüpfte wieder in seine Schuhe und die Jacke und verließ die elterliche Wohnung, nachdem er seiner Mutter einen Zettel auf den Küchentisch gelegt hatte. Der Junge verschloss die Türe sorgfältig, rannte die Treppe hinunter und stob nach draußen in den kalten Wintersonnenschein.