Es vergingen einige Tage, in denen Justus sich weiterhin zwang, nicht mehr an die Begegnung auf der Wiese zu denken. Doch manchmal, während besonders langweiliger Schulstunden, konnte er gar nicht anders.
Die Frage, ob der Durchgang noch immer da war, ließ ihn nicht los und als er und seine Mitschüler an diesem Nachmittag vom Lehrer entlassen wurden, hatte der Junge den Entschluss gefasst, nicht erst die Tasche nach Hause zu bringen, sondern direkt zum Spielplatz zurückzugehen.
»Eh, Justus«, der nervige Konrad rief dem Jugendlichen wieder hinterher und dieser stoppte.
»Was gibt’s? Wieder Waschtag?«
»Neee, aber wohin so eilig? Bohneneintopf? Oder hast du irgendwo eine Riesensause, die du nicht mit uns teilen willst?«
Justus musterte den etwas pummeligen Jungen. Dass er trotz des knappen Essens so wohlgenährt aussah, hatte den Jugendlichen immer gewundert. Schließlich nickte er leicht.
»Ja, hab’ ich tatsächlich.«
Konrad und seine Kumpels bekamen leuchtende Augen. Alles, was sie von der tristen Langeweile ablenkte, war ihnen willkommen, je spannender, desto besser.
»Na, sag’ schon!«, japste der Pummelige und Justus seufzte.
»Ich hab’ vor ’n paar Tagen was Interessantes auf dem Spielplatz an der Ebermann-Straße gefunden. Wollt ihr mitkommen? Ich will sehen, ob es noch da ist.«
Eigentlich hatte er zwar keine Lust, diese lauten Burschen bei sich zu haben, aber andererseits - wenn der Durchgang noch da war, würden sie vielleicht ebenso von den Fledermäusen angegriffen werden. Vielleicht würde der komische Junge, Illian, sie auch mit seinem Stock verprügeln. Justus grinste leicht, er empfand eine sonderbare schadenfrohe Vorfreude.
Während er vorging, seine Tasche über die Schulter geworfen, folgten ihm die drei Anderen lachend, lärmend und plärrend. Sie hatten ihn, seit Justus sich erinnern konnte, als einen langweiligen Bücherwurm bezeichnet, weil er lieber las anstatt sich in der Stadt herumzutreiben, sich zu raufen oder auf dem Bolzplatz einem Ball aus Lumpen hinterher zu rennen. Sie hatten immer wieder versucht, ihn in ihre Spielchen zu verwickeln, die nur sie lustig gefunden und häufig damit geendet hatten, dass Justus von ihnen herumgeschubst und gehauen worden war. Wenn er nun die Gelegenheit hatte, ihnen ein Stück davon zurückzugeben, würde Justus diese nutzen. All diese Sachen, von denen sie dachten, dass ein Junge sie machen müsste, mochte Justus nicht und das war schon immer Grund zum Spott gewesen. Seit dem Tod von Adalbert war es ihm aber egal, ob andere dies verstanden oder ihn damit aufzogen. Es war einfach nicht mehr wichtig.
»Was war es denn, was du gefunden hast?« Konrad schloss schnaufend zu dem älteren Jugendlichen auf und knuffte ihn kräftig auf den Oberarm.
»Ich weiß nicht genau. Einen Durchgang, glaube ich. Ich hoffe, er ist noch da.«
»Du bist echt ein komischer Käfer. Wo soll’er denn hin sein? Weggezaubert mit Magie?« Die Jungs lachten und Justus bereute bereits, dass er sie mitgenommen hatte.
Kurze Zeit später betraten sie das Gelände, das an diesem Tag, weil keine Sonne schien, eher wie der Hinterhof eines Gefängnisses aussah. Hier in der Gegend gab es zu viele Ruinen und unbewohnte Gebäude, deswegen kamen fast nie Kinder hier her, um zu spielen. Eigentlich war es wegen der Baustelle auch nicht erlaubt, doch die Jugendlichen kletterten einfach durch das Tor. Es scherte ohnehin niemanden.
Neugierig sahen sich Konrad und seine Freunde um, wo denn ein geheimnisvoller Eingang sein könnte und Justus zeigte schließlich auf die angrenzende Bauruine und das Betonrohr, das noch immer so aussah wie an dem Nachmittag, als er allein hier gewesen war. Irgendwie hatte der Junge erwartet, dass es sich verändert hatte, aber das war natürlich absurd.
»Da bist du reingeklettert? Och, das ist ja für kleine Kinder. Langweilig!«, murrte Konrad.
»Dann lass’ es halt. Hast doch nur Angst, dass du stecken bleibst, du dicke Nudel. Du passt durch den Durchgang wahrscheinlich eh nicht durch!«, knurrte Justus zurück und hätte dem Pummeligen am liebsten ein paar auf die Nase gegeben.
»Das werden wir ja noch sehen! Außerdem bin ich nicht dick! Meine ... meine Mama sagt, ich hab nur schwere Knochen!«
Das sommersprossige Gesicht des Jungen rötete sich etwas und entschlossen zog er seine Jacke aus, während seine Freunde um das Rohr herumgingen und neugierig in die Dunkelheit blickten.
»Hat einer eine Taschenlampe?«
Justus zuckte leicht. »Nein. Ich hab’ meine die Tage verloren.« Das war dem Jungen erst aufgefallen, als seine Mutter ihn danach gefragt hatte, um im Bombenkeller eine Birne auszutauschen.
»Ach, ihr Pappnasen, das geht auch so«, Konrad schob die Ärmel hoch und kletterte in das Betonrohr. Obwohl er etwas kleiner war als Justus, füllte er es fast ganz aus. Bei seinem breiten Hintern würde der niemals durch den Schornstein am Ende des Tunnels passen, bei dem schon Justus selbst Probleme gehabt hatte. Eher blieb Konrad stecken und sein Kopf würde von den Fledermäusen angeknabbert werden.
Aufgeregt beobachtete Justus, wie der Junge in dem Rohr verschwand und erwartete, eine ganze Weile nichts mehr von ihm zu sehen, doch schon nach vielleicht zwei Minuten hörten sie ihn enttäuscht aufheulen und schimpfen.
Schmutzig und mit grauem Mörtel bestäubt kam er wieder zum Vorschein. Konrad warf Justus eine Handvoll Kieselbrösel entgegen.
»Du bist vielleicht blöde. Verarscht hast du uns. Nix ist da unten, nur oller Sand. Wolltest dich wohl aufspielen, hä?«
Der Angesprochene blinzelte verwirrt. »Der Durchgang ist weg?«
»Ah, hör’ halt auf. Der war nie da, du Lügenbaron. Kommt, lasst uns gehen. Totale Zeitverschwendung, mit dir zusammenzusein, Justus Lahmarsch!« Der pummelige Jugendliche zog seine Jacke wieder über und mit einem letzten verächtlichen Blick trabten die Jungen vom Spielplatz und ließen Justus in seiner Verwirrung allein.
Der rieb sich den Sand von den Sachen, stellte die Schultasche an den Rand des Rohres und stieg selbst hinab. Doch Konrad hatte Recht. Nach nur wenigen Metern stieß er an das Ende, es war nicht annähernd so dunkel wie das letzte Mal, es gab keine Kristalle, einfach nichts. Nur feiner lockerer Grund und ein bisschen Mäusedreck.
Na, das wäre ja zu schön gewesen, den Eingang zu einer magischen Welt neben seiner eigenen zu kennen. Vermutlich war er nur in Kontakt mit irgendwelchen Gasen gekommen, die ihn hatten halluzinieren lassen und er hatte das alles doch nur geträumt. Hörte man schließlich immer wieder, dass der Feind die Bevölkerung damit beschoss.
Resignierend und auch ein bisschen böse auf sich selbst, weil er dem Pummeligen und seinen Freunden jetzt einen Anlass gegeben hatte, noch mehr über ihn herzuziehen, kletterte er wieder aus dem Rohr, hob die Tasche auf und stapfte schlecht gelaunt nach Hause.
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Der Abend war bereits da und Justus saß mit seinem Vater im Wohnzimmer vor dem Radio, um die Nachrichten zu hören, als seine Mutter ins Zimmer kam.
»Hermann, Schatz, würdest du für mich noch einmal zum Laden gehen, bevor er zu macht? Sonst haben wir keine Butter fürs Abendessen.«
Der Vater murrte unwirsch, er mochte es nicht, wenn er beim Hören der Tagesschau gestört wurde. »Lass’ den Jungen schnell gehen, so weit ist es nicht.«
»Aber es ist bereits dunkel draußen.«
»Na, und? Justus ist doch kein Mädchen und auch kein kleines Kind. Du hast deine Mutter gehört, Junge.«
Der Jugendliche stand auf und nickte ihr zu. »Ich gehe rasch.«
Sie lächelte ihn an, reichte ihm einige Groschen und ein paar Essensmarken. »Wenn sie noch welche haben, bring’ bitte auch noch einen halben Liter Milch mit.«
Sich die Jacke überziehend, sprang der Junge die Treppe hinunter und wickelte sich den Schal enger um den Hals. Es war fürchterlich kalt und einige Flocken rieselten vom Himmel.
Obwohl sein Vater gemeint hatte, es würde nicht weit sein, war Justus mehr als eine Viertelstunde unterwegs, bevor er den kleinen Laden an der Ecke erreichte, bei dem seine Mutter die Einkäufe machte und immer ein Schwätzchen mit den Besitzern hielt. Mit laufender Nase betrat er diesen und hatte Glück, die letzte Milch des Tages kaufen zu können.
»Grüß’ mir deine Mutter«, lächelte die Verkäuferin, schob die Flasche und einen kleinen Krug Butter in einen Beutel und mit einem Nicken verließ der Junge das Geschäft wieder.
Der Schneefall war stärker geworden und im Licht der diffusen Straßenlaternen wirkte es gespenstisch. Justus hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, als das nur allzu vertraute, verhasste und angsteinflößende Jaulen in den Häuserschluchten aufbrandete. Fliegeralarm!
Panik erfasste den Jungen, denn die Übungen, die abgehalten wurden, um die Leute wachsam zu halten, fanden nie nach Einbruch der Dunkelheit statt und auch nie flächendeckend in der ganzen Stadt. Doch so laut, so verzerrt und so ohrenbetäubend waren die Sirenen lange nicht mehr gewesen. Das letzte Mal, daran erinnerte sich Justus noch, waren Bomben gefallen.
Er packte den Beutel mit den Sachen fester und begann zu rennen. Der erste Impuls war, nach Hause zu gelangen und sich dort mit seinen Eltern im Bombenkeller zu verstecken, bis es vorüber war, doch es war zu weit. Er würde es niemals rechtzeitig schaffen.
Der Boden unter seinen Füßen vibrierte plötzlich heftig und als er erschrocken den Kopf hob, konnte er das orangefarbene Glühen über den Häusern erkennen. Der Feind war gekommen und er warf das Feuer über den Köpfen der Menschen ab!
Voller Angst blickte Justus sich um und rannte auf das erste Gebäude zu, in dem er Licht in den Fenstern erkennen konnte. Dort mussten Leute wohnen, die einen Bunker hatten. Hier draußen würde der Junge keine Chance haben. Verzweifelt hämmerte er gegen die Tür des Hauses, doch niemand öffnete ihm. Entweder waren die Bewohner bereits in ihrem Bunker, hörten Justus wegen der Sirenen nicht oder wollten ihn nicht hineinlassen, aus Angst, er würde sie berauben wollen.
»Oh Gott«, keuchte der Jugendliche und warf sich hektisch herum, als er das dumpfe Motorengeräusch am Himmel hören konnte. Außer ihm waren noch andere Menschen auf der Straße, die panisch umher rannten, auf der Suche nach Schutz. Schreie waren zu hören und das furchtbare Fauchen der Flammen, die die Häuserschluchten entlang krochen wie ein hungriger Drache.
Justus ließ den Beutel fallen - er konnte hören, wie die Flasche zerbrach - und rannte, so schnell er konnte, in die Richtung seines Zuhauses. Er wollte bei seinen Eltern sein in dieser Minute. Sie waren sicher krank vor Sorge und seine Mutter, er kannte sie, machte sich gerade sicher schreckliche Vorwürfe, dass sie ihn noch einmal hinausgeschickt hatte.
Mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung und voll aufkeimender Hoffnung bog er um die Ecke in die Straße, in der er wohnte, er konnte das Haus schon sehen, als das Getöse an Lautstärke zunahm und erneut der Boden bebte. Dieses Mal stärker, so sehr, dass es den Jungen von den Beinen riss und die Macht der Druckwelle ihn gegen eine Hauswand schleuderte. Er schrie auf und in der nächsten Sekunde war alles dunkel. Die Welt war verschwunden.