Es hatte seinen Grund gehabt, warum Rufus schon am ersten Abend ganz von Jeremy hingerissen war. Der Mann wirkte intelligent aber ruhig und beinahe schüchtern. Das passte auf den ersten Blick nicht zu seiner Größe und Statur. Da musste etwas lauern, was man nicht sofort sah. Als Jeremy dann sang, war es, als würde er Einblick gewähren in eine geheimnisvolle, unbekannte, aber umso leidenschaftlichere Welt. Dieses stille Wasser Jeremy, war so tief, dass Rufus von der Vorstellung schwindelte. Und jetzt auf der Bühne sang er und spielte ohne jede Eitelkeit oder gekünstelte Affektiertheit. Jeremy konnte reine Hingabe sein. Das war es, was Rufus an dem Abend im Pub bemerkt hatte. Und in diesen letzten wunderbaren Tagen und Nächten. Was wäre wohl, wenn er vollends aus sich herauskommen, sich allem, ihm, Rufus völlig hingeben würde? Er war so begeistert von Jeremy auf der Bühne und seiner Erkenntnis, dass er kurz zu der älteren Dame herüber sah, um sicher zu gehen, dass er nicht irgendetwas laut gedacht hatte. Irgendetwas musste sie mitgekriegt haben, denn als das Licht zur Pause anging, schaute sie zu ihm herüber. „Geht es dir gut? Du bist so aufgeregt. Kennst du jemanden von den Sängern.“
„Ja“, war alles, was Rufus herausbrachte.
„Oh wie schön. Well, es ist auch eine besonders spannende Oper.“
„Oh ja.“
Sie sah jetzt ein bisschen enttäuscht aus, weil er so einsilbig war. Was sollte er denn sagen? Ich bin total verliebt in den großen Hauptdarsteller, der gerade den gestörten Fischer spielt und wenn ich ihn nachher treffe, dann falle ich schlimmer über ihn her als je zuvor?
„Äh, ich geh‘ mal und hole mir ein Eis. Möchtest du auch eins?“ Es war wohl besser, wenn er sich erstmal beruhigte.
„Oh ja gern. Ich liebe Erdbeer.“
Rufus schob sich mit den anderen Gästen bis zur Crush Bar. Ihm fiel auf, dass hier deutlich schwule Pärchen waren. Ein Typ mit Schnauzer und ein Typ mit Fliege, zwei ältere Typen beim Champagner, ein Typ in Rufus‘ Alter mit einem Bärchen-Typ mit Vollbart, zwei Studenten… Für sowas hatte er einen sechsten Sinn. Ein großer, blonder Typ, wie Rufus in White Tie, hatte den wohl auch und zwinkerte Rufus zu. Rufus senkte kopfschüttelnd den Blick. Er holte sich auch einen Champagner, dann ging er zur Eisverkäuferin. Es gab kein Himbeer, also nahm er Schokolade und Erdbeer. Zurück bei der Lady gab er ihr das Eis. „Kenne ich dich eigentlich? Bist du nicht ein Sohn von den Sommerfords?“ Oh nein! Na, wenigstens war das ein unverfängliches Thema. „Ja ganz recht. Der Jüngere von beiden. Richard ist jetzt der Duke.“
„Oh wie nett. Ich mochte deinen Vater sehr. Ein großer Förderer der schönen Kunst!“
„Ja gewiss.“ Ihm fiel nicht so wirklich ein wer sie war…
Rufus widmete sich jetzt seinem Schokoladeneis. Dann ging auch das Licht schon aus für den zweiten Teil der Oper. Die Lage für Jeremys Fischer und seinen Jungen wurde nicht besser, sondern schlimmer. Und obwohl Rufus wusste, dass es kein Happy End für diese Oper gab, machte ihn die Gnadenlosigkeit, mit der die Dorfbewohner gegen Grimes vorgingen und die Unabwendbarkeit des Ganzen wirklich betroffen. Wie konnte dieser Britten eine so hoffnungslose Geschichte erzählen? Er würde unbedingt mit Jeremy darüber reden müssen. Bestimmt gab es eine Erklärung. Rufus brauchte einen Moment, um sich zu fassen und dann beim Applaus zu verstehen, dass Jeremy nichts passiert war. Der trat vor den Vorhang und wurde mit tosendem Applaus begrüßt. Die Leute riefen Bravo und es flogen sogar Blumen auf die Bühne. Jeremy sammelte ein paar davon auf und gab sie June. Er freute sich über den großen Erfolg und strahlte. Rufus applaudierte jetzt auch und rief und Jeremy musste ihn in der Loge entdeckt haben, denn er winkte ihm kurz zu. Der Applaus ging weiter und weiter und die alte Lady verabschiedete sich, während Rufus noch blieb und die stehenden Ovationen für Jeremy und June und den Dirigenten erlebte. Dann senkte sich der eiserne Vorhang und Rufus machte sich auf den Weg zum Bühneneingang. Er konnte es gar nicht abwarten, den anderen Mann wiederzusehen. Sie waren seit mehr als acht Stunden getrennt, eine halbe Ewigkeit…
Als Rufus Jeremys Garderobe erreichte, war der noch gar nicht aus dem Kostüm gekommen und trug noch die Fischerkleidung und Gummistiefel von Grimes. „Komm erstmal herein!“, begrüßte er Rufus und zog ihn durch die Tür. „Du siehst umwerfend aus“, fand er.
„Du warst absolut umwerfend, grandios, unvergleichlich, ah shit, ich habe keine Ahnung wie man einem Opernsänger Komplimente macht!“
„Wie wär’s ohne Worte“, schlug Jeremy vor. Rufus wusste sofort, was zu tun sei und schnappte sich Jeremy an den Hosenträgern und küsste ihn leidenschaftlich. Jeremy musste ihn nicht weniger vermisst haben, denn er drängte sich an ihn und schob ihn rückwärts an die Garderobentür. Da klopfte es plötzlich. Erst dachten sie wohl, es wäre nicht echt, aber da klopfte es wieder. Rufus hielt Jeremy zurück. „Da kommt wer“, flüsterte er.
„Hallo, Jeremy! Du wolltest mir doch jemanden vorstellen!?“ Das war June.
„Oh nein, das habe ich ganz vergessen, sie weiß, dass ich hier bin“, flüsterte Jeremy zu Rufus.
„Dann bringen wir es hinter uns und dann nichts wie ab zu mir!?“
„Okay.“
Sie traten von der Tür zurück und Rufus entschied, dass es schneller gehen würde, wenn er mitmachte. Eigentlich war ein Meet and Greet das Letzte, was er jetzt wollte. Jeremy öffnete und June kam herein. Sie war noch ganz euphorisiert vom Applaus und hatte nur ihre Perücke abgenommen, sonst war sie noch im Kostüm. Sie war jünger als ihre Rolle und blonder. Sie wirkte ehrlich erfreut, Rufus zu sehen.
„Oh, hiiii! Du bist also der Grund für Jeremys Verschwinden. Ich bin June und sehr erfreut, dich kennenzulernen.“ Sie hielt ihm beide Arme hin. Wollte sie ihn umarmen? Noch bevor er das sicher sagen konnte, hatte sie es einfach getan und ihre Arme um ihn geworfen. Amerikanerin. Kleines Tattoo am Haaransatz neben dem rechten Ohr, ein Notenschlüssel.
„Sehr erfreut. Ich bin Rufus.“ Als sie ihn gehen ließ, rückte er näher zu Jeremy, der nur dastand und lachte.
„Sie ist immer so stürmisch“, erklärte er dann. Jetzt lachte June.
„Jeremy sagt, du bist Schauspieler. Dann sind wir ja praktisch vom selben Fach!“, fand sie.
„Kann man so sagen“, meinte Rufus, „ihr habt mich und die Leute im Publikum total mitgerissen!“
„Kennst du Britten?“
„Jetzt kenne ich ihn.“
„Ach wie schön! Und ich kenne dich! Jeremy hat schon so von dir geschwärmt, da musste ich dich sehen.“
Rufus wurde glatt etwas rot. Was hatte Jeremy denn bloß alles erzählt?
„Keine Bange, ich mache nur Spaß“, ergänzte sie dann.
Rufus war noch nicht sicher, ob er sie mochte.
„Ich werde euch jetzt in Ruhe lassen. Komm morgen nicht zu spät zum PR Termin, ja?“ sagte sie zu Jeremy, „war schön, dich zu sehen“, sagte sie zu Rufus und machte sich auf den Rückzug.
Okay, vielleicht mochte er sie. „Finde ich auch. Mach’s gut“, rief er ihr zu. Dann schloss sie die Tür von außen. Jeremy schien jetzt keine Zeit verlieren zu wollen. „Gib mir 5 Minuten, um das Kostüm loszuwerden. Duschen kann ich bei dir. Lass uns zusehen, dass wir hier wegkommen, bevor dich das Orchester kennenlernen will.“
Das war es, was Rufus hören wollte. Er nahm sich die Fliege ab und zog den Frack aus. „Das lasse ich hier. Meine Lederjacke und die Helme sind beim Pförtner.“
„Wie bist du im Frack hierhergekommen?“, wollte Jeremy wissen, der jetzt aus den Gummistiefeln stieg.
„Ich bin damit nur von schräg gegenüber gekommen. Da ist der Herrenausstatter.“
„Ach wie unglaublich praktisch und gar nicht posh“, fand Jeremy voller Ironie..
Rufus hoffte, er wäre nicht zusammengezuckt. „Bitte sag nicht posh.“
„Was, wieso?“
„Ach egal, es war eben nur praktisch.“
„Ich bin so weit.“
„Na dann los. Ich will dich endlich bei mir zuhause und allein.“
„Oh das klingt seeehr gut.“
Keine fünf Minuten später ging‘s zum Bühnenausgang raus und auf zwei Rädern Richtung Hampstead.