Rufus war einen Augenblick lang wie betäubt. Was Jeremy da sagte galt wohl ebenso gut für ihn selbst. Was immer er getan hatte, hatte ihn hierher gebracht. Und er wollte auch niemandem jemals wieder erklären müssen, warum er so war, wie er war. Wenn er derjenige war, den Jeremy wollte, dann war das alles, was er sich wünschte. Das alles zu sagen, dauerte jetzt zu lang. „Küss mich“, sagte er nur und Jeremy verstand. Er beugte sich zu ihm vor und nahm sein Gesicht in beide Hände. Rufus schloss die Augen und öffnete die Lippen. Jeremy küsste zuerst ganz sanft auf die Oberlippe, dann nahm er sich die Unterlippe vor. Rufus spürte seinen Atem und öffnete den Mund noch etwas mehr. Er wartete gespannt, bis Jeremy mit dem Zungenspiel begann. Er stöhnte dabei leise, was Rufus inzwischen als sicheres Zeichen dafür kannte, dass Jeremy gefiel, was sie taten. Rufus begann, zurück zu küssen und suchte mit den Händen Halt an Jeremys Nacken. Er zog ein bisschen am Haar, was Jeremy ebenso gefiel, das wusste er. Rufus öffnete jetzt seine Augen, denn er wollte in Jeremys blaue Augen schauen. Jeremys wunderschöne, ehrliche, warme Augen. Sie küssten weiter, voller Zärtlichkeit, bis Jeremy irgendwann kurz innehielt. „Ein Geheimnis… musst du mir noch… verraten“, sagte er, ohne dass Rufus wirklich aufhörte zu küssen.
„Mmh, welches?“
Jeremy grinste. „Wie kommt es, … dass du immer… nach Himbeer schmeckst?“
„Das ist… Kaugummi.“
„Schon klar… aber wo ist es, … wenn wir küssen?“
Rufus lachte, „Ich… schluck’s vorher schnell runter…“
„Du bist… unglaublich.“
„Ich weiß.“
Jeremy grinste. „Wenn wir nicht in die Stadt müssten, dann würde ich dich jetzt…“
Rufus fiel ihm ins Wort, „Ich kann’s mir denken.“
„Was macht dich da so sicher?“, scherzte Jeremy.
„Keine Ahnung, wohl die Tatsache, dass mich mein Bruder vor Amerikanern gewarnt hat.“
Jeremy schaute kurz fragend. Echt? Hatte Richard Rufus vor Am…?
„Reingefallen!“
„Na warte bis heute Abend, dann wirst du … amerikanisiert.“
„Bin ich schon. Unwiderruflich, unwiderstehlich, unverwechselbar…“ Rufus gab Jeremy mit jedem Wort einen kleinen Kuss, denn leider war es wirklich Zeit, sich aufzumachen, wenn sie vor seiner Vorstellung mit Peter reden mussten. Hoffentlich wäre es das letzte Mal. „Weißt du schon, was du deinem Manager sagen willst?“
„Wir lassen ihn erstmal reden. Vielleicht hat er `nen Plan“, überlegte Jeremy.
„Okay.“
„Und auf gar keinen Fall ziehst du mein oder ich dein Hemd aus. Los komm.“
„Wow, ich find’s klasse, wenn du bossy bist.“
„Dann komm auch.“
„Alles, was du sagst, Mr. President.“
Rufus stand tatsächlich direkt auf und holte Motorradjacken und Helme.
Dieses Mal wartete Peter bereits in der Hotellobby. Er war ganz offensichtlich an seinem Laptop beschäftigt, winkte aber gleich, als er Rufus und Jeremy hereinkommen sah. Nach der Begrüßung entschieden sie sich jedoch, in Jeremys Zimmer zu gehen.
„Warum hast du unten gewartet?“, wollte Jeremy wissen.
„Ich dachte, wir sollten auch mal reden, ohne dass June dabei ist. Sie ist immer noch verstimmt wegen gestern. Und vielleicht geht sie auch nicht alles etwas an.“
Jeremy nickte und schlug dann vor, dass sie sich einen Tee auf’s Zimmer kommen ließen.
„Wie ich merke, bist du bereits recht gut integriert“, scherzte Peter mit einem Blick auf Rufus.
„Er tut, was er kann und ich auch“, kam es von Ru.
„Das dachte ich mir.“
Solange sie noch auf den Tee warteten, berichtet Peter, was er inzwischen ausrichten konnte. Er hatte Jeremy natürlich wegen Indisposition entschuldigen lassen und der für ihn eingesprungene Tenor hatte seine Sache gut gemacht. Also war alles soweit okay.
„Wer ist der Tenor?“, wollte Jeremy wissen, denn er dachte daran, sich bei Gelegenheit selbst bei ihm zu bedanken.
„Philip Rivers, junger Solist an der English National Opera“, antwortete Peter. Das war offenbar ein gutes Haus. Eric, der Techniker, hatte im Donmar auch davon gesprochen.
„Gut. Und hast du dir was ausgedacht für unser Problem?“
„Ist wohl mein Job, oder? Mein erster Vorschlag wäre, zur Polizei zu gehen und deinen Ex anzuzeigen. Du weißt wer er ist und er erpresst euch und das ist strafbar. Das Problem ist nur, dass die ihn erst verhaften, wenn sie Beweise haben“, sagte Peter an Rufus gewandt.
„Die haben wir nicht. Nur das Foto, das er nicht gemacht haben muss und seine Drohung, für die es keine Zeugen gibt“, gab Rufus zu.
„Dann sollten wir in die Offensive gehen. Er will euch damit erpressen, dass er das Foto vom Park veröffentlicht?“
„Ja.“
„Zwei Männer, die sich küssen. Das ist nichts so Außergewöhnliches. Ist überhaupt ein schönes Foto von euch. Dann soll er das machen.“ Peter blieb völlig ruhig.
„Was ist mit der Opera Now?“, fragte Jeremy.
„Wenn er es denen anbietet, machen die gar nichts. Die wollen auch nicht als Heuchler dastehen. Wenn er es der Sun oder einem anderen Boulevard-Magazin anbietet, dann kann es immer noch sein, dass die finden, dass sich zu wenige Leser überhaupt für Oper interessieren und dich kaum einer kennt. Da müsste er schon richtig viel Mist dazu liefern. Außerdem ist Rufus nicht irgendwer und die englische Klatschpresse ist immer bereit, über die Society zu berichten.“
„Seit wann bin ich Society? Richard ja, ich nein“, bemerkte Rufus.
„Du würdest dich wundern, wie schnell das geht. Dann steht in der Zeitung, dass du adelig und homosexuell bist und ausgerechnet mit einem Amerikaner zusammen.“ Peter schnitt eine nicht ernst gemeinte Grimasse.
„Damit kann ich leben“, fand Rufus, „ist kein Geheimnis.“
Jeremy fand das alles etwas voreilig. „Was ist, wenn Oliver Mist dazu liefert? Was meinst du damit?“
„Das kann alles Mögliche sein. Schmutzige Fotos, Sexpraktiken, Details aus der Vergangenheit, es geht nur um Geld…“
„Oh shit. Das sollten wir vermeiden.“
„Dann kommen wir ihm zuvor. Morgen ist Vorstellung und ich könnte einen Interviewtermin mit Radio oder dem Guardian machen. Dann outest du dich und das sorgt natürlich für Aufregung bei Opera Now, aber es nimmt diesem Oliver auch eine Menge Wind aus den Segeln. Und am Samstag wissen wir, ob du trotzdem einen Preis bekommst, oder nicht.“
Rufus sah zu Jeremy, dem nicht wohl bei der ganzen Sache war. „Jem, für mich ist das okay.“
„Und was ist, wenn dieser Oliver, wie Peter so schön sagt, jede Menge Mist `raushaut? Ich will nicht, dass irgendwelcher Müll über dich in der Zeitung landet.“
„Das geht vorbei.“
Jeremy holte tief Luft. „Wie kannst du damit so ruhig sein?“
„Ich bin ruhig, weil er nichts sagen wird, was ihn gleichzeitig belastet. Wenn er was erzählt, dann können das nur Lügen sein. Das halten wir aus.“
„Peter, was sagst du?“, hakte Jeremy nach.
Peter hatte gehört, was Rufus gesagt hatte. Nichts, was ihn belastet. Also gab es da etwas, was nicht an die Öffentlichkeit gehörte. „Rufus, du solltest dir darüber im Klaren sein, dass möglicherweise alles seinen Weg in die Presse findet. Da hat Jeremy recht.“ Er schaute den jungen Mann ernst an.
„Es ist, wie ich sage. Wir halten, ich halte das aus.“
„Also dann“, sagte Peter, „haltet euch morgen bereit. Ich werde das arrangieren und dann sehen wir weiter.“
Jeremy nickte jetzt. Er würde hoffen, dass alles gut ging und er würde sein Bestes geben, damit die Zeitungen positiv über sein outing berichteten. „Also gut. Wir werden dafür sorgen, dass dich die Leute lieben. Das sollte wohl kein Problem sein. Wir müssen nur die Wahrheit sagen und keine weiteren Lügen auftischen.“
Rufus lächelte und stimmte zu. Dann musste er sich auch schon auf den Weg ins Theater machen. Jeremy gab ihm einen Kuss und wünschte viel Erfolg. Er blieb noch eine Weile mit Peter zusammen, um eine Strategie für das Interview zu entwerfen. Zumindest in Grundzügen. Er würde Rufus als seinen Freund vorstellen. Nicht Partner- zu politisch, nicht Liebster- zu intim. Warum das outing jetzt käme? Weil sie sich jetzt kennengelernt hatten. Die Wahrheit. Schließlich nahm Peter ihm noch das Versprechen ab, dass er sich morgen vor der Vorstellung rechtzeitig mit June vertragen sollte. Das würde Jeremy gern tun, denn immerhin waren sie alte Freunde und er konnte ihr wohl ihre Gefühle nicht vorwerfen. Als Jeremy dann irgendwann das Hotel verließ, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass er nicht wie ursprünglich abgemacht nach Hampstead zurückfahren sollte. Einkaufen und Abendessen machen waren nicht wirklich das, was er jetzt zu tun hätte. Stattdessen machte er sich auch auf den Weg zum Donmar. Die Vorstellung dort wäre noch im vollen Gange, aber darauf kam es nicht an. Jeremy hatte vielmehr vor, sich in der Nähe des Bühnenausgangs einen Platz zu suchen, von dem aus er alles und jeden, der dort war, gut sehen konnte. Er hatte zwar keine Ahnung wie und woran, aber wenn Oliver es wagen würde, wieder dort aufzutauchen, dann würde Jeremy ihn erkennen. Da war er sich ganz sicher.