Mit hoch erhobenem Haupt gehe ich hinter meinem Vater durch die Straßen der Stadt. Selbstverständlich habe ich meine beste Kleidung angelegt, denn dass das Äußere den gesamten ersten Eindruck bestimmt und dieser von entscheidender Wichtigkeit ist, habe ich längst gelernt. Frisch geschnittenes und gewaschenes Haar, bedeckt von einem eleganten Hut, Hemd und Beinkleider aus bestem, der sommerlichen Temperatur entsprechend leichtem Tuch, hervorragende Schuhe aus edlem Leder ... mein Vater hat mich für den heutigen Tag ganz gemäß unserem Stand ausgestattet. Er ist den ganzen Tag auf dem großen Markt unterwegs und schließt Handel um Handel ab, und ich darf ihn zum ersten Mal begleiten und dabei lernen.
Damit hat das nächste Kapitel meiner Ausbildung zum künftigen Familienoberhaupt begonnen, das verstehe ich längst. Das Ziel ist mir klar: Gewinn erwirtschaften und die Verbindungen der Familie durch geschickte Kontakte stärken. Natürlich gehen wir nicht zu jedem Händler, die, die offenkundig nicht unserem Stand entsprechen, beachten wir selbstverständlich nicht. Doch es gibt auch genügend Stände, die von Häusern der Rescendientes oder gar der Nobleza geführt werden. Schweigend lausche ich aufmerksam, wenn er Waren prüft, Komplimente verteilt, unsere Produkte feilbietet, die Händler einlädt, sich unsere Pferde im Stall ansehen zu kommen oder unseren Wein zu verkosten.
Selbstverständlich kenne ich zumindest namentlich alle Adelsfamilien der Stadt, insbesondere die der Nobleza, auf die mein Vater besonderes Augenmerk legt. Dass sie uns, Angehörige der Rescendientes, oft wie niederes Volk behandeln, erregt meinen Unmut, doch ich weiß natürlich, dass ich meinen Stolz diesbezüglich nicht zeigen darf. Dank der strengen Schule meines Vaters verfüge ich über ausreichend viel Selbstbeherrschung, sodass ich mir nichts anmerken lasse und stets ausgesucht höflich bleibe, wenn man mich bemerkt oder gar anspricht. Bei der Nobleza stellt mein Vater mich gelegentlich sogar vor - noch habe ich nicht erkannt, welche Kriterien er hierfür zurate zieht, aber ich schweige und beobachte, wie es mir zur zweiten Natur geworden ist.
Aktuell dreht sich das Gespräch mit einem Vertreter der Familie von Falkenberg-Rabenmund um die erstrebenswertesten Eigenschaften bei Pferden: lieber heißblütig oder unerschütterlich?
Ich bemühe mich, aufmerksam auszusehen, und lasse meinen Blick unauffällig über den Stand schweifen, der durch einen Baldachin aus hellem Stoff vor der Mittagssonne geschützt wird. In seinem Schatten werden alle möglichen Waren angeboten, die auf den zahlreichen Feldern der Familie angebaut werden. Einige der Weidenkörbe enthalten vorzügliche Trauben, hell wie dunkel, andere frische Brote, deren verführerischer Duft potenzielle Kunden anlockt, pralle, große Oliven, saftige Orangen und weitere Früchte. Auf einem aufgestellten Tisch stehen mehrere Flaschen des exquisiten Weins, für dessen Qualität die Familie berühmt ist. An der Rückseite des Stands, an einer Stange des Baldachingestells, werden auf einer Tafel die aktuell zum Verkauf befindlichen Pferde angepriesen. Als Seitenwand dient ein sich im leichten, warmen Wind wiegendes großes Tuch und zeugt ganz nebenbei von der Qualität der feilgebotenen Stoffe.
Plötzlich bemerke ich im Augenwinkel eine verstohlene Bewegung: Eine Hand stiehlt sich unauffällig hinter dem Tuch hervor und greift behutsam nach einer der Weinflaschen. Ein Dieb! Ich bin alarmiert, lasse es mir jedoch äußerlich nicht anmerken.
Was soll ich tun? Weder mein Vater noch der Händler schenken mir aktuell Beachtung. Das Gespräch zweier hochrangiger Personen zu unterbrechen könnte schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Doch was würde die Familie von Falkenberg-Rabenmund denken, wenn während unserer Anwesenheit am Stand gestohlen würde? Die Ehre verlangt, dem Dieb Einhalt zu gebieten!
Kurz zögere ich, dann setze ich mich entschlossen in Bewegung und stehle mich leise in Richtung des Tuchs, hinter dem die Flasche inzwischen verschwunden ist, und luge dahinter. Eine junge Frau steckt die Flasche gerade mit einem zufriedenen Grinsen in einen Beutel und spaziert hoch erhobenen Hauptes davon. So geht das nicht, man stiehlt nicht vom Adel! Meine Hand legt sich instinktiv um den Griff meines Rapiers, mit dem ich seit Jahren üben muss und das ich nun in der Öffentlichkeit auch tragen darf. Ich eile der Frau möglichst unauffällig hinterher, bis sie in einer dunklen Seitengasse verschwindet.
Kaum bin auch ich eifrig um die Ecke gebogen, habe ich auch schon ihren Dolch am Hals. Sie schmunzelt herablassend. "Na, kleiner Adliger, suchst du was?"
Wie kann sie es wagen, so mit mir zu sprechen? Zornesröte steigt in mein Gesicht, doch ich bemühe mich um einen entschiedenen Befehlston. "Ich bin Talfan Desidero von Vascagni, und du hast gerade die ehrenwerte Familie von Falkenberg-Rabenmund bestohlen! Gib die Flasche zurück! Und ich bin nicht klein!"
Sie lacht leise auf: "Soso, Talfan. Wie alt bist du denn?"
Ich sehe sie möglichst verächtlich an. Sie gehört, ihrer Kleidung nach zu schließen, ganz offensichtlich nicht dem Adel an. "Benutz gefälligst meinen vollen Namen! Ich bin elf Jahre alt und damit fast ein Mann! Wie kannst du es wagen, den Adel zu bestehlen?"
Sie grinst. "Soso, Fast-Mann, gewagt habe ich es also? Was sollte mich davon abhalten, mir zu nehmen, was mir gefällt?"
Ich stutze und schaue sie verdattert an. Damit bringt sie mich aus dem Konzept. "Äh, ... es ist verboten ..."
Sie lacht wieder leise und nimmt ihren Dolch von meiner Kehle.
Nun sehe ich Spott in ihren Augen, und das gefällt mir noch weniger als die vorherige Herablassung. Zorn wallt in mir auf, so sehr, dass es mir vermutlich anzusehen ist. Ich übe mich stets darin, meine Emotionen zu unterdrücken oder wenigstens nach außen hin zu verbergen, doch in diesem Augenblick fällt es mir schwer.
Ihr Gesicht verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen: "Ich halte mich doch nicht an Regeln!"
Mein von der Wut angefachter, bissiger Kommentar versiegt, ehe er mir über die Lippen kommen kann, und meine Verwirrung wächst. Bevor ich es verhindern kann, kommt sie mir als Frage über die Lippen: "Warum nicht?" Noch nie kam mir der Gedanke, mich nicht an die Regeln zu halten. "Sie legen das tägliche Leben, die Aufgaben, die man zu erfüllen hat, fest - wie sollte man sonst seine Ziele im Leben kennen?", höre ich mich zu meiner Verwunderung selbst sagen.
Die Frau sieht mich mitleidig lächelnd an: "Du hast wirklich keine Ahnung, kleiner Adliger. Was für ein trauriges Leben du haben musst, so eingeengt und unfrei."
Ich starre sie mit offenem Mund an. Die Flasche habe ich völlig vergessen. Eingeengt. Unfrei ... Das sind, zumindest in Bezug auf mein eigenes Leben, für mich völlig neue Begriffe. In meiner Brust beginnt sich ein seltsames Verlangen auszubreiten.
Sie schüttelt ungläubig den Kopf, als sie das Erstaunen in meinem Gesicht liest: "Dass es Menschen wie dich gibt! Genieße doch mal dein Leben! Oder hast du etwa Angst vor den Konsequenzen?"
Natürlich habe ich das. Gegen meinen Willen nicke ich stumm.
"Tja, ich folge dem Fuchs. Sei listig, denke nach, sichere dich ab! Er hilft dem, der sich selbst hilft! Sei mutig, verwegen, aber nicht kopflos, dann steht er sicher auch dir bei! Und damit du diese Lektion nicht vergisst ..."
Ich kann gar nicht so schnell schauen, wie sie mir in einer raschen, fließenden Bewegung mit ihrem Dolch einen Schnitt in den Unterarm verpasst. Ich zucke zurück, erschrocken über die Wendung des Geschehens.
"Was für ein listiger, mutiger Kerl du doch bist, kleiner Talfan! Hast mich gestellt, besiegt und die Flasche an dich gebracht! Sieh es als ein Geschenk des Fuchses an!" Sie läuft lachend davon, und an der Stelle, an der sie gerade noch gestanden hat, steht nun der Wein.
Ich presse eine Hand auf meinen blutenden Unterarm und starre ihr verwirrt nach. Listig? Mutig? Welcher Fuchs? Was war das gerade? Völlig überfordert von den Geschehnissen greife ich automatisch nach der Flasche und gehe langsam zurück zum Stand der von Falkenberg-Rabenmunds.
Als ich meinen Vater dort nach mir Ausschau halten sehe, die Lippen vor Zorn zu einem blutleeren Strich zusammengepresst, zucke ich in Gewissheit der kommenden Schläge zusammen, bevor ich mich aus Gewohnheit zu meiner vollen Größe aufrichte und scheinbar furchtlos auf ihn zugehe, die Flasche in der Hand. Und zum ersten Mal in meinem Leben weicht sein enttäuschter, wütender Gesichtsausdruck, als er mich ansieht, und macht Verwunderung Platz. Seine Augen wandern erst ungläubig, dann nachdenklich zwischen den meinen, der Flasche und dem blutenden Unterarm hin und her.
"Bei Phex, du hast die Diebin gestellt!", ruft der Händler erfreut aus und nimmt mir rasch die wertvolle Flasche ab, bevor er meinem Vater ausschweifend zu seinem tapferen Sohn gratuliert.
Ich höre zwar, was er sagt, achte aber nicht genau darauf. Meine Gedanken schweifen zu den Worten der Diebin zurück, die so fröhlich gelacht hat. Man kann also auch selbst entscheiden, welchen Regeln man folgt ... aber wer ist dieser Fuchs, der einem das ermöglicht?