Langsam und immer wieder blinzelnd schlug Miriam die Augen auf. Sie schielte zu ihrem Radiowecker, der auf dem Nachttisch stand und war mit einem Mal hellwach.
»Scheiße!« Ruckartig warf sie ihre Bettdecke beiseite stand auf und musste für einen Moment stehen bleiben, da diese Bewegung eindeutig zu schnell war und ihr kurz schwarz vor Augen wurde. Als sich ihr Sichtfeld wieder klärte, lief sie schleunigst ins Badezimmer.
»So ein verdammter Dreck! Warum hat dieses dämliche Ding keinen Alarm geschlagen?« Während Miriam noch weiter vor sich hin fluchte, machte sie sich in Windeseile fertig. Sie hatte verschlafen, so viel stand fest. Nun konnte sie nur hoffen, dass sie die Zeitungsredaktion Flink, in der vor genau einer Woche ihr Volontariat begonnen hatte, noch rechtzeitig erreichte. Zum Glück wohne sie von dieser nicht allzu weit weg, sodass sie hinlaufen konnte.
Eine knappe Viertelstunde später verließ Miriam das Mehrfamilienhaus. Ein Blick in den grau verhangenen Himmel ließ erahnen, dass es bald schneien würde. Das Wetter an diesem Montag Anfang Dezember passte also optimal zu Miriams derzeitiger Stimmung.
Auf ihren morgendlichen Kaffee wollte sie jedoch trotz allem nicht verzichten. Also machte sie einen Abstecher in den zwei Häuser entfernt liegenden Coffeeshop. Zum Glück war es dort gerade nicht so voll, sodass sie nur wenig später mit einem Pappbecher in der Hand ihren Weg fortsetzen konnte.
Den Kragen ihres roten Mantels hatte sie hochgestellt, damit der eisige Wind, der sich trotz Schal seinen Weg unter die Kleidung bahnte, keine Chance mehr hatte.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, während sie um die letzte Ecke bog, bevor sie ihr Ziel erreichte.
Plötzlich prallte sie gegen ein unerwartetes Hindernis und fiel zu Boden – und mit ihr auch der Kaffeebecher. Von diesem ging zu allem Überfluss auch noch der Deckel ab und das meiste des noch immer sehr heißen Getränks lief aus.
»Sag mal, spinnst du? Hast du denn keine Augen im Kopf? Pass bloß auf, wo du hinläufst!«, brause sich eine männliche Stimme unmittelbar neben Miriam auf.
Langsam rappelte sie sich wieder hoch. Der hochgewachsene junge Mann mit dunklen kurzen Haaren und einem feinen Nadelstreifenanzug und einem ebenso teuer aussehenden Mantel war gerade damit beschäftigt, sämtliche Papiere, einige Bücher und einen Ordner, die ihm beim Zusammensturz aus den Händen gefallen waren, wieder aufzuheben. »Na wunderbar, auch noch Kaffeeflecken auf meinen Unterlagen. Das hat mir gerade noch gefehlt!«
Miriam sah an sich herunter und bemerkte dabei, dass auch ihre Kleidung, allen voran ihr schöner Mantel, nicht ganz vom Kaffee verschont geblieben war. Sie verzog das Gesicht.
»Es … es tut mir leid. Ich … ich war in Gedanken.«
»Ja, das habe ich gemerkt.«
Als Miriam ihm helfen wollte, seine Sachen wieder aufzulesen, starrte er sie entsetzt an und riss ihr die Papiere, die sie bereits in der Hand hielt, weg.
»Nein, lass das! Du bringst doch nur alles durcheinander!«
Auf ihrer Unterlippe kauend, trat sie von einem Fuß auf den anderen, um besser nachdenken zu können. Dass sie zu spät zur Arbeit kam, war erst einmal nebensächlich. »Kann ich das irgendwie wiedergutmachen?«
»Ja, indem du einfach verschwindest und in Zukunft aufpasst, wo du hinläufst.«
Miriam zog die Stirn kraus, zuckte kaum merklich mit den Schultern, murmelte noch einmal, dass es ihr leidtäte und lief die letzten Meter zur Zeitungsreaktion.
Im Großraumbüro angekommen, sah sie jede Menge Arbeit, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelte. Seufzend setzte sie sich und begann, sich einen Überblick der zu erledigenden Dinge zu bekommen. In der einen Woche war sie schon relativ gut eingearbeitet. Im Moment war sie zum Korrekturlesen verschiedener Artikel eingeteilt worden, die die Redakteure ihr auf den Schreibtisch legten. Meist waren diese recht kurz, denn man wollte sie ja nicht gleich überfordern, wie der Chefredakteur sich an ihrem ersten Tag geäußert hatte. Obwohl das digitale Zeitalter bereits angebrochen und eigentlich auch weit fortgeschritten war, war es hier noch üblich, Artikel für die Korrektur auszudrucken, statt diese per Mail an die jeweilige Person zu senden.
Sie fuhr sich durch ihre braune Lockenpracht, denen das kalt-feuchte Wetter – es gab definitiv bald Schnee – gar nicht bekam. Bändigen konnte Miriam sie an solchen Tagen höchstens mit einem Zopfgummi. Aber trotz allem mochte sie ihre Haare lieber offen, also musste sie auch damit leben, dass diese an manchen Tagen eben ein wenig struppig aussahen.
Gerade als sie den ersten Artikel vom Stapel nahm, ging die Tür seitlich des riesigen Raumes auf und ihre Kollegin Heike stürmte genau auf sie zu. Heike war die Chefsekretärin in der Redaktion und wirbelte stets herum wie aufgezogen. Dank ihrer blonden langen Haare lagen ihr sämtliche männliche Kollegen zu Füßen und erfüllten ihr jeden Wunsch – nun ja, fast jeden.
»Heike, was ist denn los? Du hast es ja so eilig.« Zerknirscht blickte Miriam sie an. »Liegt es daran, dass ich zu spät dran bin? Sorry, ich hab total verschlafen. Und dann war da auch noch dieser Typ, den ich umgerannt habe. Das hat mich nochmals Zeit gekostet – von meinem Kaffee einmal ganz abgesehen.«
Einen Moment lang sah Heike sie an, als hätte sie vergessen, was sie eigentlich wollte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist zu spät gekommen? Ist mir gar nicht aufgefallen. Aber nein, darum geht es gar nicht. Und nicht ich habe es eilig, sondern der Chef.«
Miriam blickte ihre Kollegin lediglich fragend an.
»Das hier muss in ziemlich genau einer Stunde an der Universität sein.« Sie wedelte mit einer Gummizugmappe. »Ein Dozent der Uni … Wie hieß er doch gleich? … Ah, ja … Herr Kunstheim benötigt dringend diese Unterlagen für seine kommende Vorlesung. Er war vorhin hier, weil er beim Chef einen Termin hatte, und hat es im Büro liegen gelassen. Kein Wunder, so durch den Wind, wie der Typ war. Der Chef möchte nun jedenfalls, dass du es ihm rasch vorbeibringst. Die Uni liegt ja auch nicht weit von hier weg. Das solltest du demnach locker schaffen.«
»Klar, ich habe schließlich sonst nichts zu tun.« Sie deutete auf den Papierstapel in ihrem Ablagekorb.
Heike winkte ab und achtete gar nicht auf Miriams sarkastischen Tonfall. »Ach was, das kann warten, bis du wiederkommst. Das hier ist gerade wesentlich wichtiger. Aber klasse, dass du es machst. Ich sag sofort dem Chef Bescheid. Danke!« Damit hatte sie auch schon wieder auf dem Absatz kehrt gemacht, nachdem sie die Mappe auf dem Schreibtisch abgelegt hatte, ehe Miriam auch nur die Chance hatte, noch etwas darauf zu erwidern.
Etwas verstimmt blickte sie auf die grüne Mappe, die nun vor ihr lag, auf der eine Haftnotiz mit der Adresse der Uni und dem Namen des Dozenten klebte.
Sie atmete noch einmal tief durch, erhob sich, zog den erst vor kurzem abgelegten Mantel wieder über und machte sich auf den Weg.
Inzwischen hatte es tatsächlich leicht zu schneien begonnen.