Zur städtischen Universität war es wirklich nicht weit und so war sie bereits nach zehn Minuten Fußmarsch dort. An der Information fragte sie nach Herrn Kunstheim.
»Zweiter Stock, Zimmer 211, junge Frau«, erklärte ihr ein älterer Mann, den sie auf Mitte fünfzig, wenn nicht sogar schon Anfang sechzig schätzte. Sie bedankte sich lächelnd und lief hinüber zu den Aufzügen.
Außer Betrieb stand in roten Lettern auf dem Zettel an der Tür.
»Na wunderbar, auch das noch!«, fluchte sie leise in sich hinein und begab sich zum Treppenhaus, das sich hinter einer Glastür direkt neben dem Aufzug befand.
Sie hatte gerade das erste Obergeschoss erreicht, als sie zum zweiten Mal an diesem Morgen mit jemandem, der gerade die Treppe herunterrannte, zusammenstieß und zu Boden fiel. Die Mappe hielt die dabei krampfhaft fest.
»Das kann doch wohl nicht wahr sein! Du schon wieder!«
Miriam runzelte die Stirn und blickte sich verwirrt um. Die Stimme kannte sie doch. Tatsächlich, es war der Kerl von vorhin. Dieser schüttelte nur den Kopf und rannte die Treppe weiter hinab, ohne sie auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Dabei war diesmal er es, der um eine Ecke gebogen kam und sie umgerannte hatte.
Dass sie in dieser Stadt, die beim besten Willen keine Kleinstadt war, gleich zweimal an einem einzigen Tag mit derselben Person zusammenstieß, war schon erschreckend. Zumal wenn es sich dabei um einen solchen Fiesling handelte.
Sie gab sich einen Ruck und lief die Treppe weiter hinauf in den zweiten Stock, den sie ohne weitere Zwischenfälle erreichte. Schnell hatte sie auch das richtige Zimmer gefunden und klopfte an. Nichts. Stille. Sie runzelte die Stirn und drückte die Klinke vorsichtig hinunter. Aber sie war verschlossen. Resigniert schloss sie für einen Moment die Augen. Hatte sich denn alle Welt an diesem Morgen gegen sie verschworen? So viel Pech in so kurzer Zeit konnte ein einzelner Mensch doch unmöglich haben.
In dem Augenblick kam ein älterer Mann über den Flur näher. Er trug eine braune Cordhose und einen roten Norwegerpullover. Seine grauen Haare lichtenten sich zunehmend.
»Sind Sie Herr Kunstheim?«
Der Mann sah sie prüfend an und lachte. »Nein, junge Dame, der bin ich mit Sicherheit nicht. Mein Name ist Mailand. Ich bin Professor an dieser Universität. Was möchten Sie denn von Herrn Kunstheim? Sitzt er nicht in seinem Zimmer?«
»Nein, er ist leider nicht da. Ich komme von der Zeitungsredaktion Flink. Herr Kunstheim war heute Morgen zu einem Gespräch bei meinem Chef, hat aber diese Unterlagen vergessen. Man sagte mir, sie wären wichtig und er bräuchte sie für seine nächste Vorlesung.«
»Nun, dann wird er sicherlich gleich wiederkommen. Vielleicht musste er nur mal für kleine Königstiger, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Professor Mailand zwinkerte ihr zu. Damit ließ er sie stehen und ging den Flur weiter entlang.
Miriam sah dem Mann fassungslos hinterher. Statt zu sagen: »Geben Sie her, ich reiche es an Herrn Kunstheim weiter.« Nein, natürlich nicht. Er ließ sie einfach stehen und stapfte davon. Sie überlegte, was sie machen sollte. Aber da ihr keine wirklich brauchbare Lösung einfiel, blieb sie einfach an Ort und Stelle, sprich vor der Tür, stehen und wartete auf die Dinge, die da geschehen würden.
Es verging eine geraume Weile, ehe sich überhaupt wieder jemand blicken ließ. Man hätte meinen können, die Universität wäre verwaist. Zu allem Überfluss war es allerdings auch diesmal wieder dieser widerliche Typ. Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Hatten diese merkwürdigen Begegnungen mit ihm denn niemals ein Ende? Sie versuchte, ihn einfach zu ignorieren, indem sie ihre Schuhspitzen anstarrte. Geh einfach weiter. Quatsch mich bloß nicht an.
Sie schielte aus den Augenwinkeln in seine Richtung und sah gerade noch, wie er seinerseits die Augen verdrehte und nähertrat.
»Was soll das?« Seine Stimme zitterte. Er schien bis aufs Äußerste gereizt zu sein. Nicht, dass er zuvor je freundlich zu ihr gewesen wäre.
Miriam hob den Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Was soll was?«
Er stemmte die Hände in die Hüften. »Was lungerst du hier vor der Tür herum? Verfolgst du mich etwa?«
Sie musste lachen. Was bildete sich dieser Schnösel eigentlich ein? Sie ihn verfolgen? Nie im Leben! »Nein, ich verfolge ganz bestimmt niemanden – und dich schon mal gar nicht. Ich warte hier auf Herrn Kunstheim, um ihm seine vergessene Mappe wiederzugeben. Nur für den Fall, dass es jemanden wie dich interessiert.« Pah, wenn er sie duzte, konnte sie das schon lange. Er war doch kaum älter als sie.
Auf einmal hob er eine Augenbraue und streckte ihr eine Hand entgegen. »Dann gib schon her.« Sein Ton wurde erstaunlicherweise versöhnlicher.
Miriam stutzte. »Wie bitte?« Sie glaubte, sich verhört zu haben. Ihm würde sie die Unterlagen mit Sicherheit nicht geben.
»Die Mappe. Ich denke, du bist hier, um sie mir zu bringen.«
Miriam verstand nur Bahnhof und drückte die Gummizugmappe eng an ihren Körper. »Ich glaube, du hast mir gerade eben nicht richtig zugehört. Ich soll die Mappe nicht irgendwem hier in der Uni geben – sonst hätte ich sie eben auch schon Professor Mailand geben können –, sondern Herrn Kunstheim. Deshalb stehe ich auch direkt vor seinem Büro, wie dir vielleicht aufgefallen ist.«
Der Typ nickte, behielt die Hand jedoch in gleicher auffordernder Position. »Eben. Wenn ich mich kurz vorstellen darf? Mein Name ist Ralf Kunstheim.«
Ihr klappte die Kinnlade herunter, und in dem Moment musste sie wohl äußerst albern ausgesehen haben. Herr Kunstheims Mundwinkel zuckten jedenfalls sehr verdächtig. Er war sichtlich bemüht, nicht laut loszuprusten.
»Du bist … Sie sind … Herr Kunstheim?«, brauchte sie schließlich stotternd hervor.
Er nickte und lächelte.
Wie in Zeitlupe reichte Miriam ihm die Mappe. Sie war völlig perplex, sodass es ihr vorerst die Sprache verschlug.
»Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Sie schüttelte kurz den Kopf, um ihn von ihren Gedanken zu befreien. »Ich … mein Name ist Miriam Lüder.«
Herr Kunstheim räusperte sich. »Es tut mir leid, dass ich dich … Sie die ganze Zeit so angefahren habe. Ich bin total im Stress. Zuletzt nun auch der Verlust dieser Mappe, ich nun Gott sei Dank wiederhabe. Vielen Dank übrigens dafür.« Mit diesen Worten schloss er sein Büro auf, betrat dieses und ließ Miriam einfach stehen.
Kopfschüttelnd machte sie sich wieder auf den Weg in die Redaktion, wo sie diesmal bereits vermisst wurde.
»Mensch, das hat aber lange gedauert. Hast wohl noch eine Weile mit Herrn Kunstheim geflirtet, was? Na, der ist aber auch wirklich zum Anbeißen. Also, wenn ich nicht schon verheiratet wäre …«
Miriam sah Heike entgeistert an. »Wie bitte? Nein, mit Sicherheit nicht. Der gute Herr Kunstheim war gerade nicht da und ich durfte wie blöd vor seinem Büro warten. So viel dazu, dass er die Mappe ganz dringend braucht. Pah!« Sie ließ Heike, die sie vollkommen irritiert ansah, stehen und lief zu ihrem Schreibtisch. Noch immer nagte die Wut über diesen Fiesling an ihr. Sie stürzte sich umgehend in die Arbeit, um sich auf andere Gedanken zu bringen, in der Hoffnung, dass der Tag keine weiteren unerwünschten Überraschungen für sie bereithielt.