Schreibübung: Als Beitrag zur SIXTY MINUTES Challenge mit dem Prompt: Erlösung
Erlösung
Man hatte ihn so oft gewarnt und dennoch hatte Sunil all ihre Warnungen stets in den Wind geschlagen. Hatte sich überheblich gezeigt – ja, gar selbstsüchtig – und war nur seinem eigenen Vergnügen gefolgt. Aber die Verlockung mehr als immer nur kaltes, graues Metall zu sehen, war einfach zu reizvoll gewesen.
Aber wer konnte es ihm verübeln? Sein Zuhause war gleichzeitig ein Gefängnis, dem er nicht entkommen konnte. Seit er denken konnte lebte er auf dem Unterseeboot; kannte nichts Anderes. Jeden Menschen auf diesem Schiff kannte er, seit er ein kleiner Junge war. Hatte jede Eigenart kennengelernt, erkannte jede Stimme im Dunkeln und konnte anhand ihrer Schritte hören wer es war. Fremde Menschen sahen sie nur selten. Und wenn sie jemanden trafen sperrte sein Vater ihn in seiner Kabine ein. Zu seinem Schutz, sagte er dann immer und Amar tat es ihm gleich.
Amar – gerade von ihm hatte er anderes erwartet. Denn immerhin waren sie doch auch Freunde. Zählte das nicht mehr, als sein Posten als sein Beschützer? Immerhin war Amar nur wenige Jahre älter als er. Sollte Amar dann nicht verstehen, dass er nicht eingesperrt werden wollte?
Bitterkeit stieg in Sunil auf.
Dieses Mal hatte er es geschafft sowohl seinen Vater, als auch Amar zu überlisten. Er war der bedrückenden Enge seiner Kabine entflohen und hatte sich diesen Fremden angeschlossen. Naiv vertraut hatte er ihnen. Erzählten sie ihm doch von Dingen, die er noch nie gesehen und erlebt hatte. Ja, es wahrscheinlich nie würde. Diese Menschen konnten täglich die Sonne sehen, sie fuhren mit Autos über die Straßen – dabei fand Sunil die Vorstellung von Kutschen schon spannend! – es gab in ihrer Welt weite Wiesen mit Kühen und Schafen. Das alles kannte er nur aus Büchern.
Trauer darüber überfiel Sunil und sie nahmen ihn mitleidig in die Arme. Zusammen mit einem Versprechen: Sie würden ihn aus diesem Gefängnis befreien und ihm all das zeigen.
Weggehen von Zuhause?
Zweifel überkamen Sunil, gefolgt von der Angst Amar nie wieder zu sehen. Nein, er schlug es aus. Aber die Blicke, die ihm begegneten waren frei von Verständnis. Vielmehr waren sie erfüllt von Habgier.
Seine dunkle Haut, die blauen Augen, dass würde ihnen viel Geld einbringen, sagten sie. Geld? Damit konnte er nichts anfangen. Aber nun war er hier, gefangen auf diesem Schiff, welches nicht sein Zuhause war und er wartete, dass ihn jemand von diesem abgrundtiefen Schmerz erlöste.
Die Menschen, denen Sunil sich mit Neugier genähert hatte, hatten ihn betrogen und sie würden ihn verkaufen!
Dabei wäre ihm nie in den Sinn gekommen Menschen als Ware zu sehen. Aber sie sagten er sei exotisch und das bringe besonders viel ein. Da wo sie herkommen gibt es das nicht: dunkle Haare sowie Haut und blaue Augen. Seine Augen, dachte Sunil traurig, sie waren ein Fluch. Ein Fluch von dem ihn auch keiner erlösen konnte und der bereits der Hälfte seiner Familie den Tod gebracht hatte.
Sunil seufzte und blickte sich in der Dunkelheit des Raumes um. Er erkannte so gut wie nichts, aber er brauchte etwas um die Kette an seinem Fuß zu lösen. Auf keinen Fall würde er sich verkaufen lassen! Er würde fliehen und nach Hause gehen. Und sicher würde sein Vater auch nicht ruhen, bis er ihn gefunden hatte.
Seine Fingerspitzen ertasteten etwas Hartes und ohne zu zögern griff er danach. Es war ein Stein, gerade so groß, dass er seine Faust ausfüllte. Ohne weiter darüber nachzudenken hieb er auf die Kette ein. Aber es verursachte nur einen unglaublichen Lärm und die Kette blieb unverändert.
Alarmiert blickte er auf, als er das Knarren der Tür vernahm und verbarg die Hand mit dem Stein hinter seinem Rücken. Egal wer herein kam, er würde sich nicht kampflos seinem Schicksal hingeben. Er hatte keine Chance, dennoch würde er kämpfen.
Wenn er doch nur etwas mehr wie Amar wäre, dann hätte sicher kein Gegner Angst vor ihm. Angespannt schlossen sich seine Finger um die Waffe, als ein Mann sich ihm näherte. Als er dicht vor ihm war, spannten sich Sunils Muskeln an und er ließ den Arm nach vorne sausen. Doch der Angreifer packte die Hand und hielt sie fest.
Geschockt blickte Sunil aus großen Augen in Amars Gesicht.
„Amar!“, entfuhr es ihm in nie gekannter Erleichterung. Amar war gekommen, um ihn aus dieser misslichen Lage zu erlösen! Sunil hatte geglaubt er sei verloren und er schüttelte den Kopf über diesen Gedanken. Natürlich würde Amar ihn nie zurücklassen. Er würde sich für ihn in jede Gefahr stürzen – auch wenn es noch so aussichtslos war. Und wenn so sein sollte, dass sie beide den Tod fanden. Dann war es für sie beide eine Erlösung.
- Ende -