Gänseblümchen
Erstaunt ließ Sunil sich in das weiche, grüne Gras fallen und konnte einfach nicht anders, als sich einmal quer über die Wiese zu rollen. So sehr genoss der Fünfjährige das Gefühl des weichen Bodens unter sich, dass er so zum ersten Mal fühlte.
Gras. Richtiges Gras und nicht nur ein paar Büschel. Nein, eine ganze Wiese. Das kannte Sunil eigentlich nur aus Büchern. Geschriebene Worte oder Bilder. Aber gesehen oder gar in echt gefühlt, dass hatte er noch nie.
Was er kannte war das Blau und auch die viele bläulichen Grüntöne des Meeres. Seine Fische und andere wundervolle Tiere. Ein schlammiges Braun am Grund des Ozeans. Das metallene Grau-Grün seiner Heimat – der Nautilus. Ja, den blauen Himmel.
Aber echtes, grünes Gras? Es war fantastisch und deswegen rollte Sunil direkt noch einmal den ganzen Weg zurück. Lachend kringelte er sich auf dem Boden, riss ein paar Grasbüschel aus und warf sie in die Luft. Nur um dann aufzuspringen und laut jubelnd auf und ab zu hüpfen. Plumpsend ließ er sich wieder ins Gras fallen und als er den Kopf drehte, traute er seinen Augen nicht zu trauen.
„Du bist ein Gänseblümchen!“, rief er freudig aus und berührte das zarte Pflänzchen. Davon hatte er auch in den Büchern gelesen und hatte die wunderschönen Bilder bestaunt. Und da gab es noch etwas, was er über Gänseblümchen gelesen hatte. Eine leichte Röte machte sich auf dem kleinen Gesicht breit, als sie seine Finger vorsichtig um den Stängel schlangen. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber davon träume ich schon so lange.“
Schließlich hielt er das gepflückte Blümchen in die Luft, lächelte es warm an und dachte an diese eine Person. „Er liebt mich!“, sagte Sunil, begann zu kichern und riss das nächste Blütenblatt aus. „Er liebt mich nicht.“ Das war zu traurig! „Er liebt mich!“, stieß er jauchzend aus. „Er liebt mich nicht.“ – „Er liebt mich.“ Das war schon deutlich angenehmer. Lächelnd betrachtete Sunil das vorletzte Blättchen, zupfte vorsichtig daran und sagte leise: „Er liebt mich nicht.“
„Was machst du da?“, hörte Sunil Amar, den älteren Jungen, der einst sein Leibwächter sein würde, hinter sich.
„Ach nichts!“, rief Sunil mit hochrotem Gesicht und warf das kleine Blümchen vor Schreck in die Luft.
„Nichts?“, vergewisserte sich Amar und zog die Stirn in Falten. „Wollen wir dann verstecken spielen?“
Die Augen des kleineren Jungen wurden groß und strahlten voller Freude. „Au ja!“, rief er überglücklich aus. „Ich versteck mich zuerst!“
„Ist gut“, rief Amar dem Kleineren, der schon davonstürmte zu und hob dann das Gänseblümchen auf. Vorsichtig, damit das letzte Blättchen blieb wo es war, schob er es in seine Brusttasche und lächelte nun noch mehr. Er kannte die Antwort und er würde sie immer in seinem Herzen tragen. Dann begann er zu zählen. „… 3 … 2 … 1. Ich komme!“
ENDE