Seld hatte nie Probleme gehabt, während einer hellen Vollmondnacht in den Schlaf zu finden. Im Gegenteil, es beruhigte ihn, wie die hellen Strahlen des Mondes durch das Fenster in sein Schlafzimmer drangen. Er mochte das Licht auf dem Gesicht seiner schlafenden Frau. Ihr Lächeln wirkte fast magisch und friedlich.
Nur heute irgendwie…
Seld stand seufzend am Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Der Mond hing voll am Himmel und schien in sein Schlafzimmer. Seine Gestalt warf weite Schatten auf den Dielen.
In der Ferne spielten Geräusche, die so gar nicht zu denen einer gewöhnlichen Nacht passen wollten. Kein Rauschen, kein Rascheln oder Knacken. Dafür war da Zischen, Flattern und etwas, was Seld als aufgeregtes Geschnatter bezeichnen wollte.
Er schüttelte den Kopf. Diese seltsamen Pinguinhändler waren lange weg, neue hatten sie laut Ionel erst in einigen Wochen zu erwarten…
„Flieg!“ - „Flieg!“ „Flieg!“ „Flieg!“
Seld blinzelte. Die Wörter hallten überlaut durch die Nacht, obgleich niemand auf der Straße zu sehen war, dem er sie hätte zuschreiben können. Aber er war sich sicher, dass sie da waren. Auch wenn seine Frau und sein Kind davon nicht aufwachten. Sie hatten einen viel zu leichten Schlaf… eigentlich.
Er warf einen Blick über seine Schulter zurück, doch sie lag noch immer in ihrem Bett, den Arm um einen Teil der Decke geschlungen und ein friedliches Lächeln auf den Lippen.
„Flieg!“ „Flieg!“
Selds Blick schnellte zurück zum Fenster und huschte durch die Nacht. Seine Augen verließen die Straßen des Dorfes, die er in den letzten Tagen so oft abgelaufen war, dass er sie blind hätte nachzeichnen können. Er sah zum Berg, der sich auf der anderen Seite des Walds erhob. Eine sanfte Erhebung in der Umgebung, die abrupt steil anstieg und in mehreren zerklüfteten Gipfeln endete. Mondstrahlen leuchteten hell auf eine Seite und ließen den Schnee matt erleuchten.
„Flieg!“
Ein Schatten bewegte sich auf dem Schnee und zog etwas Großes hinter ihm her. Weitere Schatten folgten, bis die Gruppe plötzlich stehen blieb und wild durcheinander rannte, bis einzelne sich in einer Reihe aufgestellt hatten und eine kleine Traube sich hinter ihnen gebildet hatte. Die Art und Weise, wie die Schatten sich bewegten und umeinander tanzten, erinnerte ihn stark an die Pinguine.
Seld schüttelte den Kopf. Unsinn, was sollten Pinguine auf einem Berg?
Andererseits, warum sollten Pinguine Fisch verkaufen?
Und doch taten sie es hier oben im Norden.
Er seufzte und rieb sich die Augen, als ein Schatten auf das stieg, was er bislang hinter sich hergezogen hatte. Andere schoben das Objekt an.
„Flieg!“, hallte es durch die Nacht und das Objekt setzte sich in Bewegung und schnellte den Berg hinab. Die anderen folgten, kaum dass der erste einige Meter weit über den Hang gerutscht war.
"Huiiiii!" Begeistertes Platschen und Schnattern, das kurz darauf erstarb, als die Schatten unterhalb der Baumgruppe, die den Berg wie einen breiten Gürtel umgaben, wieder auftauchten.
Seld blinzelte und sah erneut zum Berg. Die Schemen und Schatten auf dem Weiß waren verschwunden.
„Zeit fürs Bett“, murmelte er leise.
Der neue Tag kam, doch egal wie sehr Seld versuchte, die absurden Bilder der Nacht zu vergessen, es gelang ihm nicht. Es gelang ihm nicht einmal sich auf das Mauern zu konzentrieren, setzte Steine schief aufeinander oder vergaß den Mörtel.
Ionel schenkte ihm ein breites Grinsen.
„Vollmondnächte sind was feines, nicht war?“
Seld schüttelte den Kopf und ließ den Stein vor sich auf den Boden fallen. Er sank im Sand ein und Seld ließ sich darauf nieder.
„Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte er und rieb sich über die Augen. Sie brannten und fühlten sich müde an. Dabei hatte er noch einige Stunden Arbeit vor sich…
„Gehörst du auch zu der Sorte, die bei Vollmond nicht schlafen kann?“ Etwas in Ionels Augen blitzte auf. Seld musterte ihn. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er auf mehr als das offensichtliche anspielen wollte.
„Eigentlich nicht“, Seld zuckte mit den Schultern, „letzte Nacht war da nur ein viel zu lauter Stimmchor.“
Ionel lachte leise auf und schlug ihm freundschaftlich mit einer Hand auf die Schulter.
„Ja, die guten Vollmondnächte. Sie sind nicht nur für uns etwas Besonderes.“
Seld kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen. Er hatte es geahnt.
„Für wen noch?“
„Die Pinguine. Sie treffen sich in jeder Vollmondnacht, um ihrem Traum des Fliegens nachzueifern.“
Seld lachte laut auf und schüttelte den Kopf.
„Was?“, brachte er amüsiert hervor. „Pinguine können nicht fliegen.“
„Richtig“, sagte Ionel und verschränkte die Arme vor seiner Brust, „Deshalb ist es ein Wettbewerb, der dort stattfindet zwischen den besten Erfindern der Pinguine.“
Er wollte erneut auflachen, als er sich plötzlich an die Worte vergangener Nacht erinnerte und die großen Objekte, die die Schatten hinter sich hergezogen haben. Waren das… Fluggeräte?
„Sie sind aber nicht erfolgreich…?“
Dieses Mal grinste Ionel. „Nein, sie verstehen nicht, wie sie das Fliegen für sich selbst konzipieren können. Dafür übertreffen sie sich jeden Vollmond aufs Neue mit ihren neu gebauten Schlitten.“
"Schlitten?"
Ionel zuckte mit den Schultern und sah ihm in die Augen.
"Ich wette, sie erleben dort regelmäßig die Schlittenfahrt ihres Lebens."
Und sind dennoch tief enttäuscht, dachte Seld und sah über seine Schulter hinweg. Von ihrem Arbeitsplatz aus konnte man den Berg nur noch erahnen, der Gipfel lugte zwischen den Dächern einiger Häuser hervor.