Karin
„Komm zu uns, du gehörst nicht hierher.“
Ein leises, kaum wahrnehmbares Wispern.
Verängstigt blickte sie sich um. Drehte sie nun komplett durch?
„Ja, dich meinen wir. Steig aus.“
Ruhig bleiben. Tief ein- und wieder ausatmen. Das passierte alles nicht wirklich. Am besten schaute sie gar nicht hin.
Nils war weiterhin aufs Fahren konzentriert, schien ihre Unruhe aber trotzdem zu bemerken. „Du wirkst ziemlich angespannt. Weshalb schließt du nicht einfach die Augen und döst ein wenig? Durch den Umweg und den Nebel dauert es ja noch länger.“
Sie schluckte. „Nils, da draußen ist etwas.“
„Weshalb gibst du nicht auf? Sollen wir dich holen kommen?“
„Was sollte da sein?“, wunderte sich der Mann.
„Hörst und siehst du das denn nicht?“
Verwirrte schüttele er den Kopf. „Was ist los, Karin?“
„Frag nicht“, presste sie zähneknirschend hervor. „Sorge einfach dafür, dass wir bald zu Hause ankommen, ja? Bitte.“
Das hier erinnerte sie an Goethes Gedicht vom Erlkönig. Vielleicht beruhte das Werk auf einer wahren Begebenheit?
Ihr Fahrer war höflich genug, keine weiteren Fragen zu stellen und beschleunigte ein wenig. Viel mehr war bei diesem Wetter auch nicht drin – im Zweifelsfall fuhren sich eh schon zu schnell im Anbetracht der schlechten Sichtverhältnisse.
„Du hättest es bei uns besser.“
Karin konnte ein ängstliches Wimmern nicht unterdrücken, was Nils kurz besorgt zur Seite blicken ließ. „Was immer du hörst, du bist bei mir sicher, ok?“
„Dann hältst du mich nicht für verrückt?“, stammelte sie mit schwacher Stimme.
„Ich kenne dich als vernünftigen Menschen, daher vermute ich schon, dass da irgendwas ist. Wenn ich zugegeben nicht an Übersinnliches glaube.“ Der Mann räusperte sich unbehaglich, eher er fortfuhr: „Ich bin mir sicher, dass dir keine Gefahr droht.“
Sie antwortete nicht sofort. Innerlich schwankte sie bei der Entscheidung; was wohl besser sei – der Gefahr ins Auge zu blicken oder sich lieber davor zu verschließen.
Ihr angestrengter Versuch kurz darauf, draußen etwas erkennen zu können, zeigte, dass die Neugierde gesiegt hatte. Gerade waren diese Wesen wieder deutlicher sichtbar.
„Sie wollen mich holen, Nils.“
„Unsinn. Vertraue mir.“
Sie reagierte nicht.
Was konnte sie nur tun?
Er sah und hörte den Spuk nicht – wie sollte er ihr da helfen?
Die Zeit dehnte sich wie zäher Kaugummi.
Immer wieder unheimlich geflüsterten Sätze der Gespenster, deren Erscheinungsform wechselte. Am schlimmsten war es, wenn ihre Gesichter deutlich zu erkennen waren – diese unnatürlich weißen Augen, die sie anklagend zu durchbohren schienen.
Ihr Herz hörte nicht mehr auf, bis zum Hals zu schlagen, und sie fragte sich, ob sie jemals wieder gut schlafen würde.
Nils ließ sich trotz allem nicht aus der Ruhe bringen und hielt entspannt das Steuer – allerdings hatte er seine Fahrgeschwindigkeit nochmals erhöht.
Wäre ihre Angst nicht so groß gewesen, hätte sie ihren Freund gebeten, langsamer zu fahren – so aber nahm sie die Gefahr gar nicht bewusst wahr und hoffte nur noch, den Stimmen endlich entkommen zu können.
Dass Nils das Radio angeschaltet und einen Sender mit langsamer Musik ausgewählt hatte, registrierte sie nicht – sie schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen.
So zuckte sie auch erschrocken zusammen, als er plötzlich abbremste.
„Was ist los?“
„Wir sind da. Bei dir zu Hause!“
„Wie?“
Völlig perplex schüttelte sie den Kopf. Er hatte recht.
„Du hast doch deinen Hausschlüssel, oder?“
„In der Handtasche“, stammelte sie und suchte mit zittrigen Händen nach dem Reißverschluss.
„Warte!“ Rasch stieg er aus dem Wagen, umrundete ihn und öffnete schwungvoll die Beifahrertüre.
„Ich will nicht aussteigen, Nils. Die Geister, sie sind da draußen!“, wehrte sie ab und presste sich gegen die Lehne des Sitzes.
„Ich helfe dir.“ Ruhig half er ihr, die Tasche zu öffnen und den Schlüssel hervorzukramen. „Ich begleite dich noch bis zur Türe.“
„Bitte, Nils, ich kann nicht.“
„Doch du kannst.“
Sie zitterte wie Espenlaub und war mit den Nerven völlig am Ende. Zu schwach, um erfolgreich Widerstand zu leisten. Ihr Freund ignorierte ihre Gegenwehr und zog sie entschlossen aus dem Auto hinter sich her.
Bis zu ihrer Wohnung war es nicht weit. Ohne einen weiteren Kommentar schloss er die Türe auf und begleitete sie bis zur Couch. Erst hier ließ der Mann sie los und beobachtete, wie sie sich kraftlos auf das Polster fallen ließ.
Sie selbst war mehr als erleichtert, dass sie lebend hier angekommen war.
Erstaunlicherweise war sie nicht angegriffen worden, wenn auch die flüsternden Stimmen nie ganz aufgehört hatten. Auch jetzt meinte sie, vereinzelt ein Wispern zu hören, wenn auch sehr abhackt und kaum zu verstehen.
„Also, ich gehe dann mal.“
„Was!“ Panisch schreckte sie auf. „Nils, das kannst du nicht machen. Bitte! Bleib hier! Lass mich jetzt nicht im Stich.“
Der Mann seufzte und schüttelte betrübt den Kopf. „Es tut mir leid, aber das würde nichts bringen. Ich rufe dich an, sobald ich zu Hause bin, ok? Sollten diese Stimmen dann immer noch da sein, komme ich sofort zu dir zurück.“
Nils
Nils seufzte. Er war ein Arschloch.
Zumindest in ihren Augen.
Denn genauso hatte er sich verhalten.
Völlig zu Recht hatte sie aus einer Mischung aus Angst und Wut hinter ihm her gebrüllt, dass er sich nie mehr bei ihm blicken lassen sollte.
Wieder einmal.
Erneut hatte er die Freundschaft eines lieben Menschen verloren, weil er so handelte, wie es musste. Eine Wahl hatte er nicht gehabt.
Sie war enttäuscht und wandte sich von ihm ab. Und er blieb einsam übrig.
Wie hätte er auch ahnen sollen, dass es gerade heute passieren würde? Selten genug, dass seine Brüder und Schwestern nach ihm riefen.
Ausgerechnet während er mit Katrin zusammen war.
Schweigend hatte er sich ihre Einflüsterungen angehört und so getan, als wären sie für ihn gar nicht da. Absolut unfair gegenüber Karin.
Aber es war ihm noch gefährlicher erschienen, ihr seine wahre Existenz zu offenbaren. Das wäre ein noch größerer Schock gewesenen und hätte ihr Weltbild völlig zerstört.
Daher hatte er gehen müssen – um die Gespenster mit sich zu nehmen. Nun schwebten sie vor seinem Heim und flüsterten weiterhin auf ihn ein. Was keinen Zweck hatte, denn er würde sich nicht verführen lassen – trotzdem ließen sie nichts unversucht, um eine mögliche Schwäche auszunutzen und ihn zu überreden. Zumindest, bis der Tag anbrach.
Ob Karin ihm wider Erwarten doch noch eine Chance geben würde?
Wenigstens hatte sie seinen Anruf entgegengenommen und ihn mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei. Zwar mit eisiger und frostiger Stimme, aber immerhin.
Die Zukunft lag in den Sternen.
Seufzend setze er sich auf die linke Seite seines Doppelbettes. Er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf.
Vorsichtig löste er das Tuch, dass er um seinen Hals gebunden hatte. Ein sauberer Schnitt wurde sichtbar.
Routiniert packte er seinen Kopf und drehte ihn behutsam nach links. Immer weiter, mehrfach um 360 Grad in die gleiche Richtung. Als hätte er ein Gewinde, löste sich der Schädel vom Rumpf und wurde von seinen Händen vorsichtig rechts neben ihm auf das Kissen abgelegt. Kein Blut war zu sehen – der Kopf war vor langer Zeit abgetrennt worden und die Wunden waren sauber verheilt.
Erschöpft schloss sein Schädel die Augen, während sich auch der Körper daneben entspannte und beide in den wohlverdienten Schlaf abdrifteten.
A/N:
Die Geschichte ist hiermit zu Ende erzählt. Happy Halloween, wenn auch verspätet.
Es gibt eventuell noch ein paar Spin-offs zu den beiden oder zu Nils. In diesem Falle ergänze ich entsprechende Kapitel mit Links.
Update: Link zur Fortsetzung:
https://belletristica.com/de/books/18822-sternenhimmel/chapter/74790-chapter-1